gewinnen, da äußere Strukturen von Religiosität immer mehr brechen, doch innere religiöse Erfahrungen stärker als früher gesucht werden. Sie hat zu ihrer Zeit dem Abgleiten religiöser Geheimnisse in aufklärerischen Rationalismus gewehrt; ihre damals durchlebte und durchlittene religiöse Erfahrung steht uns heute wie ein modernes Beispiel vor Augen.«2
Die Phase der Neuentdeckung Anna Katharina Emmericks ist aber noch keineswegs abgeschlossen.3 Aller Voraussicht nach wird sie nach der Seligsprechung am 3. Oktober 2004 sogar verstärkt weiter gehen. Zunächst musste die Mystikerin »von einer veralteten Betrachtungsweise des 19. Jahrhunderts« befreit werden, in der sie einem modernen Betrachter wie eine »Kitschfigur« erscheinen musste.4 Auch noch in der Zeit, als ich Pfarrer in Dülmen war (1980–2001), war es nötig, Anna Katharina »aus der Vereinnahmung durch traditionalistische Frömmigkeitsformen« herauszulösen.5
Als besonders schwierig erweist sich der Versuch, die »Persönlichkeit Anna Katharina Emmericks … aus dem Bannkreis Clemens Brentanos« und seiner Übermalung zu lösen.6 Das ist, wie die jüngste Diskussion um den Film Mel Gibson »Die Passion Christi« gezeigt hat7, vor allem deshalb nicht einfach, weil wir hier »vor einem schwierigen Dilemma, ja vor einer echten Aporie« stehen, wie Pater Joseph Adam in seinem Bericht »Zum Stand des Seligsprechungsverfahrens in Rom« zu Beginn des zweiten Symposions in Münster feststellt: »Es gibt seit 150 Jahren unzählige Zeugnisse, z. B. im Renouveau Catholique in Frankreich, etwa bei Paul Claudel, über den durchaus positiven, ja segensreichen Einfluss dieser Schriften. Aus diesen Büchern, ob ihre Leser sie nun Emmerick- oder Brentanobücher nennen, spricht nun einmal eine tiefe Frömmigkeit und ein sicherer kirchlicher Sinn. Und wenn man die zahlreichen Emmerick-Verehrer in aller Welt hört, sei es in Paris oder in Brüssel, in den USA oder in Kanada, dann stellt man fest, dass sich ihre Verehrung aus diesen Schriften nährt und immer wieder erneuert.« Doch dann wendet sich Adam der neuen Richtung zu: »Die Forschungsergebnisse der letzten Zeit haben schon dazu beigetragen, und neue Studien müssen sich dies als erstes Ziel setzen, die Akzente hier richtig zu verteilen: weniger auf die außergewöhnlichen Phänomene und Offenbarungen, dafür voll auf die Heiligkeit ihres Lebens, ihre mystische Begnadung und ihre prophetische Sendung in der Kirche.«8
Es geht nicht darum, die Brentano-Schriften nicht entsprechend zu würdigen, »sein dichterisches Zeugnis, den ›Schatz flüchtiger Blätter voll Wunder der kindlichsten Weisheit‹« zu »übergehen«; oder die »Existenzwahrheit des Dichters« zu unterdrücken9; ganz im Gegenteil: die Emmerick-Schriften Brentanos müssten in Zukunft noch mehr gewürdigt werden in eigenen theologischen und nicht nur germanistischen Untersuchungen.10 Bei dem Versuch, Anna Katharina aus dem »Bannkreis« Clemens Brentanos zu lösen, geht es vielmehr darum, dass wir die Dülmener Mystikerin »als Person ernst nehmen« und sie »als eine historisch greifbare Gestalt« zeichnen.11 Das ist das Anliegen dieser Arbeit, im ersten Teil des Hauptteiles, Emmericks Leben in einer Art »Kurzbiographie« im historischen Kontext zu würdigen; in einem zweiten Teil »Perspektiven einer theologischen und geistlichen Existenz« aufzuzeigen, in einem dritten »ihre Bedeutung für die Gegenwart« kurz zu skizzieren. Denn es hat sich inzwischen gezeigt, dass die historischen Quellen auch unabhängig von Brentano sehr reichhaltig fließen.12
2. Die Quellenlage
Nachdem der Seligsprechungsprozess in Rom wegen der sog. Schriftenfrage im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts zu scheitern drohte13, »schlug die Stunde von dem Augustinerpater Winfried Hümpfner«14, der 1923 »Clemens Brentanos Glaubwürdigkeit in seinen Emmerick-Aufzeichnungen«15 sehr negativ beurteilte und sehr bald zuverlässige Quellen zugänglich machte: 1. Das Tagebuch des Dr. med. Franz Wilhelm Wesener über die Augustinerin Anna Katharina Emmerick unter Beifügung anderer auf sie bezüglicher Briefe und Akten, hrsg. von P. Winfried Hümpfner.16 – Das »Tagebuch« enthält auch den »Bericht über die staatliche Untersuchung« und die »Kurzgedrängte Geschichte der A. K. Emmerick«, beide von Dr. Wesener verfasst.
2. Die Akten der kirchlichen Untersuchung über die stigmatisierte Augustinerin Anna Katharina Emmerick nebst zeitgenössischen Stimmen, hrsg. von P. Winfried Hümpfner.17 – In den »Akten« findet sich ein authentisches Tagebuch über Anna Katharina Emmerick, verfasst von ihrem Ortspfarrer Dechant Bernhard Rensing, sehr wertvolle Aufzeichnungen des Regens Bernhard Overberg18, Berichte und Briefe der Freundinnen der Anna Katharina: Clara Söntgen, Luise Hensel und Apolonia Diepenbrock; eine weitere Fülle von Zeugenberichten und Vernehmungen etc.
Es besteht ein Nachteil: Die oft eingestreuten, ganz authentischen Aussagen und Worte der Emmerick und die der Zeugen und deren Beobachtungen sind gerade in den »Akten« in einer zunächst ungeordnet erscheinenden Fülle vorhanden, sodass das Material »sperrig« wirken kann. Da die beiden Hauptquellenwerke nur in historischen, oft schwer zugänglichen Ausgaben vorhanden sind, habe ich mich in dieser Untersuchung bemüht, Anna Katharina in vielen Zitaten neu zum Sprechen zu bringen. Bewusst wurde hier und bei anderen Quellen die Schreibweise des 19. Jahrhunderts, die den heutigen Rechtschreibregeln zum Teil nicht mehr entspricht, weitgehend beibehalten.19
Nachdem die Quellenlage schon in der ersten Jahrhunderthälfte von Pater Hümpfner so kritisch bestimmt und erst positiv durch die Herausgabe der vorhin zitierten Textsammlungen offen gelegt war, gab ebenfalls ein Augustinerpater, nämlich Hermann Josef Seller, 1940 eine umfassende Biographie heraus: »Im Banne des Kreuzes. Lebensbild der stigmatisierten Augustinerin A. K. Emmerick«.20 Der Verfasser sagt im Vorwort: »Die Gestalt der Dülmener Seherin büßt nichts ein an Frische und Lebendigkeit, an edler Größe, wenn wir die biographischen Notizen Kl. Brentanos nur mit Vorsicht benutzen.«21
Nach den schriftlichen Quellen ist noch von einem über die Jahre hin dünnen Rinnsal mündlicher Tradition zu berichten, aus der uns Pfarrer Heinrich Schleiner, der von 1945–1950 Kaplan an der Grabeskirche der Anna Katharina war, so erzählt: In Dülmen habe nach vielen Gebetserhörungen der niederdeutsche Satz: »Goh men nao Juffer Emmerick, de helpt di!« (Geh nur zur Jungfer Emmerick; sie hilft dir!) gegolten.22 – Auf dem Friedhof habe sich bald von den vielen Hilfe- und Trostsuchenden ein Trampelpfad zum Emmerickgrab gebildet. In der typischen westfälischen Verkleinerungsform nannte man Anna Katharina gern »Anntrinken« und näherte sich so ihr an. Der Dülmener Emmerickverehrer Heinz Schleuter bezeugte auf dem ersten Symposion: »Unsere Eltern und Großeltern in Dülmen, wie ich das in Erinnerung habe, haben Anna Katharina Emmerick im wesentlichen als die leidende Frau gesehen. Die Visionen haben eigentlich bei uns die Rolle gar nicht gespielt. Sie galt aber als diejenige, die die Macht hat zu helfen, an die man sich wenden konnte.«23
Aus den zuverlässigen historischen Quellen24 entsteht ein neues, sehr integres Emmerickbild von erstaunlicher Reinheit und Kraft innerer Überzeugung, von einer Ausstrahlung, die viele Augenzeugen und Besucher damals oft zu schier überschwänglichen Urteilen hingerissen hat, was ganz am Schluss dieser Untersuchung in einer Zusammenstellung wiedergegeben wird.
3. Der verspätete Prozessbeginn in Münster
Anna Katharina Emmerick, geboren am 8. September 1774 in Flamschen bei Coesfeld, starb am 9. Februar 1824 in Dülmen an einem Montagabend. »Am Freitag um 9 Uhr morgens wurde sie begraben. Es war eine so zahlreiche Beteiligung dabei, wie man sich nicht erinnert, sie in Dülmen gesehen zu haben. Alle Priester, Bürger, alle Schulkinder und Arme zogen mit.«25 Nur einer fehlte: Dechant Rensing, der Ortspfarrer, der inzwischen mit Anna Katharina zerfallen war. Brentano berichtet: »Bei ihrer Beerdigung, wo alles gerührt war, soll er ganz heiter mit anderen vor der Türe geschwätzt haben, und nachmals in einem Hause gesagt, sie hat wie ein Mensch gelebt und ist wie ein Mensch gestorben.« Brentano fügt hinzu: »Er wurde durch nichts aus seiner eigentümlichen Nüchternheit gebracht.«26 Brentano stand wohl zu Recht sehr kritisch zu Dechant Rensing, worauf später einzugehen ist. Wir stellen hier nur die Frage: Was bedeutete die skeptische Haltung des Ortspfarrers für die damaligen Pfarrangehörigen, vielleicht gerade für