Gutachten überein, d. h. z. B. mit dem Urteil des Augustinerpaters W. Hümpfner, der schon 1924 festgestellt hatte: »Von einem verschwindend kleinen Bruchteil abgesehen, ist für die ganze Masse der Visionen allein der, wie wir bewiesen, höchst unzuverlässige Dichter Brentano der Gewährsmann.«59 Nur hatte die damalige Beweisführung noch nicht zu dem gewünschten Erfolg geführt, die Brentano-Schriften methodisch von der Emmerick zu trennen. Erst nach den bereitgestellten Gutachten trat am 10. Februar 1981 der besondere Kongress der für die Seligsprechung zuständigen Kongregation zusammen mit fünf Konsultoren und einem Vorsitzenden, die sechs Voten abgaben, die alle für eine Wiederaufnahme des Prozesses stimmten, nachdem die Schriftenfrage ja geklärt war. Es wurde allerdings eine historisch-kritische Untersuchung, die sog. Positio, gefordert, die P. Adam erarbeitete, und ein (besser zwei) Gutachten zur Mystik der Emmerick, von denen eins der heutige Leo Kardinal Scheffczyk vorlegte. Erst nach diesen langwierigen und kritischen Klärungen begann der neue Seligsprechungsprozess, der jetzt zu einem guten Ende gekommen ist und seinen Höhepunkt in der Seligsprechung am 3. Oktober in Rom gefunden hat.
Mit der starken Initiative des Bischofs von Münster wechselte auch der Aktor der Causa, der Antragsteller und Förderer des Seligsprechungsprozesses. Im 19. Jahrhundert war der Anstoß von den Augustiner-Eremiten ausgegangen. Nur gehörten das Kloster Agnetenberg in Dülmen und auch Anna Katharina Emmerick zu den Augustiner-Chorfrauen. P. Adam berichtet, wie von der Kongregation für die Seligsprechungen das Bestreben ausging, den Aktor vom Orden auf das Bistum Münster zu übertragen.60 Der Aktor ernennt einen Postulator, der seinen Sitz in Rom hat, dieser wiederum einen oder mehrere Vizepostulatoren. Bischof Tenhumberg ernannte bereits am 2. Mai 1974 Pater Alonso zum Postulator, dieser P. Ildefons Dietz zum Vizepostulator. Nachfolger von P. Alonso wurde P. Prof. Dr. Rojo – alle drei noch Augustiner-Eremiten – ihm folgte erst im Jahre 2000 Avv. Andrea Ambrosi, der die letzten Phasen des Prozesses sehr erfolgreich durchführte. Nachfolger von P. Dietz wurde 1993 Pfarrer Dr. Clemens Engling; in der letzten Prozessphase wurde auch der Offizial der Diözese Münster, Martin Hülskamp, zum Vizepostulator ernannt. Seit seiner Ernennung zum Bischof von Münster (1980) hat Dr. Reinhard Lettmann den Seligsprechungsprozess der Emmerick neben der Hirtensorge für die anderen Seliggesprochenen und noch Seligzusprechenden so tatkräftig gefördert wie sein Vorgänger.61 In den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts wurden auch zwei bzw. drei Initiativen begründet, die sich für die Emmerickverehrung und -forschung und für den Fortgang des Seligsprechungsprozesses bewährt haben:
Es ist und bleibt die Aufgabe des Emmerickbundes – der jeweilige Pfarrer von Hl. Kreuz in Dülmen ist der geborene Vorsitzende –, die Emmerickverehrung zu fördern.62 Zweimal im Jahr, möglichst zum Geburtstag am 8. September und zum Todestag am 9. Februar erscheinen die Emmerickblätter, die viele aktuelle Mitteilungen, aber auch eine Reihe fachlicher Artikel, z. B. Veröffentlichungen von Vorträgen enthalten.63 Der Emmerickbund lädt Mitglieder und Interessierte einmal im Jahr zu einem weiter führenden Vortrag ein. Die Bischöfliche Emmerickkommission – die Mitglieder wurden jeweils auf Vorschlag des Gremiums vom Bischof ernannt – fördert den Seligsprechungsprozess, hat jetzt ihr Ziel erreicht und wurde noch vor der Seligsprechung vom Bischof aufgelöst. Die Kommission tagte zweimal im Jahr, im Frühjahr und im Herbst in Coesfeld und Dülmen. Ihre Vorsitzenden waren Heinrich Kochs, Paul Wewers, Hubert Festring und Hermann Flothkötter.
5. Zum Stand der Verehrung
Nach sieben- bis achtjähriger Erfahrung als Pfarrer der Hl.-Kreuz- und Grabeskirche Anna Katharina Emmericks konnte ich am 8. September 1988 feststellen: »Immer wieder neu bin ich erstaunt über die Zeichen der Verehrung am Emmerickgrab in der Krypta der Hl.-Kreuz-Kirche: immer neu entzündete Lichter, sehr oft Blumen und Blumensträuße, die am Grab niedergelegt werden, spontan auftauchende Gläubige, nicht nur aus Dülmen, nicht nur aus Deutschland, sondern sehr oft auch aus Holland, Belgien, der Schweiz, ja aus aller Welt.«64
In der Reihe »Landesspiegel Ortserkundung« strahlte das Fernsehen WDR III am 6. 5. 1983 einen von Dieter Koch redigierten Film aus: »Eine Rose ist … eine Rose«, der mit folgendem Satz eingeleitet wurde: »Es gibt Orte, die uns im Bewusstsein sind aus dem Erleben einzelner Menschen. Bei Weimar denken wir an Goethe, bei Wittenberg an Luther. Das im Münsterland gelegene Städtchen Dülmen ist in der Welt bekannt geworden durch eine Nonne, die stigmatisierte Anna Katharina Emmerick. Durch die Erinnerung an sie hat sich der Filmemacher Dieter Koch nach Dülmen führen lassen.«65
Trotz der eben aufgezeigten Erfahrungen darf die realistisch-kritische Frage nach dem heutigen Stand der Verehrung gestellt werden. Wird die bevorstehende Seligsprechung der inneren Verehrung, auf die es vor allem ankommt, förderlich sein? Der äußere Bekanntheitsgrad wird sicher gefördert: »Anna Katharina Emmerick könnte bald wieder Aktualität in Dülmen erlangen und Dülmen in Europa erneut bekannt machen.«66
Der heute eher vergessene Dichter Werner Bergengruen bringt in seinem Reise-Bericht über Deutschland die beiden Phänomene, die Dülmen in der Welt bekannt gemacht haben, in einen sehr tiefen und nachdenkenswerten Zusammenhang. Er schreibt in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts: »Mittelpunkt des Croyschen Besitzes ist das alte Städtchen Dülmen, in welchem gesponnen und gewebt wird. Hier steht am Park das herzogliche Schloß.67 Allein das Zeichen, das dieser Stadt gebietet, ist nicht der Croysche Herzogshut. Es sind die Wundmale Christi, erschienen am armseligen, leidenden, abgezehrten Körper der Augustinernonne Anna Katharina Emmerick.68
Eine große Zäsur in der Verehrung A. K. Emmericks scheinen der zweite Weltkrieg und die erschreckende Zerstörung Dülmens bis über 90 % der vorhandenen Baumasse, darunter auch der erst 1938 konsekrierten Hl.-Kreuz-Kirche ausgemacht zu haben. Pfarrer Heinrich Schleiner, langjähriger »Promotor« der Emmericksache (1974–1989), berichtet aus eigener Anschauung und Erfahrung: »Viele Dülmener erhofften sich von der Fürbitte der Emmerick die Bewahrung ihrer Stadt vor dem Schicksal völliger Zerstörung, das damals schon so viele Städte getroffen hatte. Eindringlich hatte darum Dechant Knepper immer wieder seine Gläubigen vor einem falschen, vermessentlichen Vertrauen auf die Fürbitte der Emmerick gewarnt, weil nirgendwo in ihren Visionen zu lesen sei, dass sie ihre Heimatstadt vor dem Schicksal der Zerstörung bewahren werde.« Die dann eingetretene »Katastrophe führte manche Dülmener Bürger trotz der berechtigten Warnung des Dechanten in ihrem Verhältnis zur bisher so hochverehrten Emmerick in eine Krise – unverdientermaßen muss man sagen.«69
Die Initiative Bischof Heinrich Tenhumbergs in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts kam für viele überraschend. Die Zeiten hatten sich gewandelt. Zwischen 1945 und 1974, fast eine Generation lang, war das Ansehen der Anna Katharina Emmerick, geschweige denn die Verehrung, nicht sonderlich gepflegt worden in der Nachkriegsgeneration, die ganz andere Sorgen hatte. Außerdem begegnete Anna Katharina in einem Gewand des 19. Jahrhunderts, das den allermeisten Zeitgenossen kaum noch verständlich sein konnte. Schon ihre Bezeichnungen drücken z. T. Antiquiertheit, z. T. Hilflosigkeit aus: Leidensbraut, Dulderin, Visionärin, Nonne aus Dülmen, Seherin. Bischof Tenhumberg, der allzu früh im Herbst 1979 starb, hatte im Jubiläumsjahr zwar selbst durch Predigten in Coesfeld und Dülmen einen starken Anstoß zur erneuten Verehrung gegeben70; hinzu kamen die weiteren Bemühungen, von denen berichtet wurde. Aber dadurch war Anna Katharina noch keineswegs anerkannt. Es gab sogar deutliche Stimmen gegen eine Seligsprechung, die mich privat erreichten.
Mehrere Mitglieder in den Gremien: Bischöfliche Emmerick-Kommission, Emmerick-Bund und -Verein erkannten das Defizit: einen großen Zwiespalt zwischen dem Verständnis der Anna Katharina Emmerick im 19. Jahrhundert, noch in den zwanziger und dreißiger Jahren des zwanzigsten und dem möglichen Verstehen in dessen letztem Viertel, in dem wir uns damals befanden. Es galt, dieses Defizit im Verständnis der Mystikerin aufzuarbeiten, bevor eine Seligsprechung wirklich Anerkennung finden konnte. Es zeichnet die Weitsicht jener Mitglieder der »ersten Stunde« im neuen Seligsprechungsverfahren aus, wenn sie um die genannten Schwierigkeiten in der »Verheutigung« der Emmerick wussten und sich um ein neues Verständnis mühten. Zunächst war nur eine Ahnung wirkmächtig, dass die Mystikerin gerade heute unserer Zeit viel zu sagen hat.71 Jean Guitton, der A. K. Emmericks Aktualität überaus positiv