Bischof von Münster, Johann Bernhard Brinkmann, gibt zumindest eine einleuchtende Erklärung. In seiner Ablehnung auf die erneute Bitte von P. Pius Keller, den Prozess zu eröffnen, antwortet der Bischof 1886: »Mag es auch als Tatsache gelten können, dass die selige A. K. E. in Dülmen und Umgebung bei einer nicht geringen Zahl von Gläubigen eine innige Verehrung genießt und seit vielen Jahren genossen hat, so ist es doch unzweifelhaft, dass diese Verehrung der Seligen wie auch die Anrufung ihrer Fürbitte zunächst und hauptsächlich durch die hier sehr verbreitete Schrift des Brentano ›Das bittere Leiden unseres Herrn Jesu Christi‹ … hervorgerufen ist, und später durch die Schriften des P. Schmöger und die Bemühungen des P. Wegener weitere Ausdehnung erhalten hat. Jene Schriften aber fußten auf den Aufzeichnungen, welche Brentano von den mündlichen Äußerungen der Seligen gemacht hat, und wie viel von diesen Aufzeichnungen auf objektiver Wahrheit beruht, wird sich schwerlich jemals feststellen lassen. Gewiss ist, dass viele hiesige Zeitgenossen des g. Brentano ihn für einen Mann gehalten haben, dem seine ungewöhnlich lebhafte Einbildungskraft es schier unmöglich gemacht hätte, das Gehörte in objektiver Wahrheit festzuhalten und niederzuschreiben.«41
Im Jahre 1884 wurde Graf Dr. Christian Bernhard von Galen Dechant in Dülmen. Er erhielt von der Behörde in Münster den Auftrag, »unauffällig« die Voraussetzungen für die Eröffnung eines Prozesses zu prüfen. Sein Gutachten fiel so positiv aus, dass der neue Bischof von Münster, Hermann Dingelstad, den Diözesanprozess am 14. November 1892 eröffnete. P. Pius Keller und P. Thomas Wegener waren die ersten Vizepostulatoren. Es wurden bis zur letzten Sitzung am 15. Mai 1899 einhundertundeinunddreißig Zeugen vernommen, darunter noch sechs Augenzeugen. Die Abschriften der Prozessakten wurden nach Rom gesandt, die Originale verbrannten 1945 in Münster.42
4. Der römische Prozess
Der Seligsprechungsprozess in Rom dauerte mehr als hundert Jahre, von 1899–2004, wovon er fünfundvierzig Jahre »ruhte«. Unter Datum vom 30. 11. 1928 verfügte nämlich das Hl. Offizium (Vorgängerin der heutigen Glaubenskongregation), also nicht die Ritenkongregation, in deren Kompetenz die Prozesse damals lagen, »die Causa (der Prozess) Emmerick solle im Archiv abgelegt werden. Einfach so. Gründe wurden, wie hier üblich, nicht angegeben.«43 Vom Eingreifen des Hl. Offiziums erging keine offizielle Mitteilung nach Deutschland, weder an den Bischof von Münster noch an den damaligen sog. Aktor des Prozesses: den Orden der Augustiner-Eremiten, sodass die Bemühungen um den Seligsprechungsprozess Anfang der dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts sogar verstärkt weitergingen und bei einer Papstaudienz am 27. April 1933 einen gewissen Höhepunkt erreichten.44
Seit dem 6. April 1930 erschien im Laumann Verlag sogar das »Emmerick-Kirchenblatt. Offizielle Kirchenzeitung für die Pfarreien des Dekanates Dülmen. Nachrichten des Emmerick-Bundes. Unter Mitarbeit des Augustinerordens.«45 Vor allem aber ließen sich die Dülmener Katholiken – auch nach langsamem »Durchsickern« der römischen Entscheidung – nicht davon abhalten, auf dem sog. Emmerick-Friedhof die notwendig gewordene zweite Pfarrkirche zu planen und in den Jahren 1936–38 unter der Leitung des anerkannten Architekten Dominikus Böhm auch zu errichten. Die Pfarrkirche wurde von Böhm nämlich als Gedächtnisstätte für Anna Katharina Emmerick entworfen und gebaut.46 D. Böhm schuf keine dunkle Krypta, sondern ein lichtes Grabparadies für Anna Katharina Emmerick, die Mystikerin des Münsterlandes. Der »Glaubenssinn des Volkes«, der sensus fidelium, neuentdeckt im II. Vatikanischen Konzil, hatte schon in den dreißiger Jahren in Dülmen den längeren geistlichen Atem bewiesen.47 Mein Vorgänger als Pfarrer von Hl. Kreuz (1972–1980), Karl Hegemann, stellt in seinen »Gedanken zur Umgestaltung der Kreuzkirche« voll Stolz fest: Von Dominikus Böhm »war die Heilig-Kreuz-Kirche als Grabeskirche für Anna Katharina Emmerick geplant und errichtet worden. Erst heute ist diese Idee voll verwirklicht. Die Gebeine der Dienerin Gottes ruhen nunmehr in der Krypta dieser Kirche.«48
Die Umbettung der Gebeine geschah nach römischer Genehmigung im Jahre 1975. Die sog. Erhebung der sterblichen Überreste in den Altarraum der Kirche, die in früheren Zeiten fast einer diözesanen Seligsprechung gleichkam, so bei der hl. Ida von Herzfeld49, war auch bei Anna Katharina Emmerick wie ein Vorzeichen der Seligsprechung.
Das Verdienst, den Seligsprechungsprozess neu in Gang gesetzt zu haben, kommt eindeutig dem Bischof von Münster, Heinrich Tenhumberg, zu (1969–1979). Durch das Konzil waren die ursprünglichen Rechte der Bischöfe aufgewertet worden. Bischof Tenhumberg wandte sich am 31. Januar 1973, also 45 Jahre nach dem fatalen »reponatur« (Der Prozess möge abgelegt werden),50 an die Kongregation für Heiligsprechungen mit dem Wunsch, den Emmerickprozess wieder aufzunehmen.51 Warum waren die Seligsprechung und die Verehrung Anna Katharina Emmericks Bischof Tenhumberg ein so großes Anliegen? Er wollte offensichtlich gewissen aufklärerischen Tendenzen in der Kirche und Theologie der Nachkonzilszeit gegensteuern. Im Geleitwort zu dem unmittelbar nach seinem Tod erschienenen Buch: »Anna Katharina Emmerick, Jesus mitten unter den Seinen« sagt der Bischof: »Jesus mitten unter den Seinen. Das war nicht nur eine Wirklichkeit in den Tagen des Kaisers Augustus und des Prokurators Pontius Pilatus. Es ist vielmehr eine Wirklichkeit, die sich in der Gemeinschaft der Kirche, in ihren Sakramenten, in allen Christgläubigen und insbesondere in den Heiligen bis heute bewahrheitet. Auf ungewöhnliche Weise hat sich die Gegenwart Christi gezeigt im Leben und Leiden der Seherin von Dülmen. An Anna Katharina Emmerick wurde sichtbar, was Paulus im Galaterbrief schreibt: ›Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir‹ (Gal 2, 20).«52 Bischof Tenhumberg bat auch die Vollversammlung der deutschen Bischöfe, die vom 5.–8. März in Cloppenburg-Stapelfeld in der Diözese Münster tagte, um eine Empfehlung der Seligsprechung Anna Katharina Emmericks bei Papst Johannes Paul II. In der sog. Bittschrift heißt es: »Ihre Gestalt, durch eine Seligsprechung vor aller Welt aufgerichtet, kann den Menschen unserer Zeit eine Hilfe sein, fast vergessene Wahrheiten unseres Glaubens wieder zu entdecken: den Wert des Opfers und des Mitleidens, die Realität des Fortlebens und des -wirkens Christi in der Kirche und ihren Sakramenten; das Hineintragen der göttlichen Wirklichkeit überhaupt in das tägliche Leben. Breite Volksschichten, die heute durch die einseitige Intellektualisierung des Glaubensgutes verunsichert sind, könnten gerade durch die Klarheit und Eindeutigkeit ihrer Glaubenshaltung eine Stütze finden.«53 P. Adam betont immer wieder, dass diese Bittschrift, von vierundsechzig deutschen Bischöfen unterschrieben, in Rom ihre Wirkung nicht verfehlte.54
Bischof Tenhumberg wies bei seinen Bemühungen in Rom auf das Jubiläumsjahr 1974 hin, das die Emmerick-Verehrung beleben werde: den 200. Geburtstag und 150. Todestag; und wagte, unumwunden die »Gretchenfrage« zu stellen: er bitte »um die Bekanntgabe der Motive«, die zu der damaligen Ablehnung geführt hätten. Als keine Antwort kam, wandte sich der Bischof direkt an die Glaubenskongregation, damals von Kardinal Seper geleitet, »mit der gleichen, aber diesmal dringender gefassten Bitte um eine unmittelbare Antwort.«55 Die kirchliche Anerkennung liege gerade heute im Interesse der Pastoral. Jetzt ging alles sehr schnell. Kardinal Seper schrieb dem Bischof, von Seiten der Kongregation für die Glaubenslehre werde das Seligsprechungsverfahren für Anna Katharina Emmerick nicht mehr behindert. Papst Paul VI. habe das Dekret am 18. Mai 1973 approbiert. Aber die Gründe für das damalige »Reponatur« wurden wieder nicht der Öffentlichkeit bekannt gegeben. Gerade darüber aber wurde viel gerätselt. Deswegen erlaubte sich P. Adam aus der »vertraulichen« Approbation des Papstes die Gründe bekannt zu geben: »Es bestehen zwei Einwände: bezüglich der Keuschheit und bezüglich der Schriften. Der erste ist kein Einwand, denn es gibt keine Gründe zu einem Verdacht.56 Schwierigkeit machen dagegen die Schriften, die im Falle einer Seligsprechung an Kredit, an Ansehen gewinnen werden. Die Schriften müssen mit kritischem Auge geprüft und ihre Stilform muss bezeichnet werden. Wer ist der Autor, und welchen Wert haben sie? Sind es Visionen oder Phantasie oder Betrachtungen? Wenn die Schriften Phantasievorstellungen sind, so sagen wir es. Doch das ist an sich kein Hindernis für eine Seligsprechung.«57
Die Glaubenskongregation knüpfte dann auch an die Aufhebung des sog. Reponatur die »Auflage, dass die der Dienerin Gottes zugeschriebenen Schriften noch einmal von Fachleuten begutachtet würden«58. Die beiden Gutachten wurden von dem Augustinerpater Ildefons Dietz, dem damaligen Vizepostulator,