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Praktische Theologie in der Spätmoderne


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       Praktische Theologie in der Spätmoderne – ein Projekt

      Stefan Gärtner / Tobias Kläden / Bernhard Spielberg

      Praktische Theologie muss sich den Signaturen der Spätmoderne stellen, will sie eine aktuelle Topografie des Christentums leisten.1 Eng damit verbunden ist die Frage, inwieweit sie diesen Anspruch auch in ihrer eigenen, wissenschaftsinternen Topografie verwirklicht. Natürlich haben die jeweiligen Zeitumstände die Arbeit Praktischer Theologen und Theologinnen früherer Generationen genauso mit geprägt, wie dies für die heutige Generation gilt. In diesem Sinne ist die Praktische Theologie als Kind ihrer Zeit gleichsam automatisch ‚spätmodern‘.

      Diese allgemeine Feststellung kann allerdings näher untersucht werden. In diesem Band wird gefragt, wie sich die aktuellen Zeitumstände in der praktischtheologischen Theorie- und Urteilsbildung konkret ausmünzen. Es geht also um die Frage der Topografie der Praktischen Theologie selbst. Es ist zu vermuten, dass es hier Ungleichzeitigkeiten gibt, und zwar sowohl vertikal als auch horizontal. So könnten etwa frühere Vertreter des Fachs bereits spätmoderner geprägt gewesen sein als die heutigen Zeitgenossen. Daneben sollte auch zwischen jeweiligen Zeitgenossen eine Palette von prämodernen bis spätmodernen Haltungen oder in einem Œuvre Mischformen zu finden sein.

      Die Frage, ob und wie die Praktische Theologie bei der Zeit ist und war, stellt sich in der Spätmoderne unter verschärften Bedingungen.2 Das klassische Materialobjekt der Praktischen Theologie beziehungsweise der Pastoraltheologie, nämlich die pastoralen Vollzüge beziehungsweise ihre Handlungsträger, besteht heute nicht mehr in fragloser Selbstverständlichkeit. Entsprechend hat der wissenschaftstheoretische Diskurs innerhalb der Disziplin Erweiterungen erfahren. Dies geschah sowohl in der Vergangenheit, wodurch zum Beispiel als Materialobjekt die religiös vermittelte Praxis in der Gesellschaft3 in den Blick kam, als auch in der Gegenwart, etwa mit dem Hinweis auf die Relevanz der lebensweltlichen Alltagspraxis für die praktisch-theologische Reflexion.4

      Außerdem findet sich das klassische, das heißt das an kirchliche Vollzüge gebundene Materialobjekt der Praktischen Theologie in der Spätmoderne auf einem pluralen religiösen Feld wieder. Es gibt zeittypische Kommunikationsformen, die wohl religiöse Züge aufweisen, ohne sich aber als Fortschreibungen des traditionellen Christentums zu begreifen. Die vielfach besprochene Renaissance des Religiösen geht zu einem großen Teil an den Mauern der Kirchen vorbei, auch wenn es hierbei in Westeuropa landestypische Unterschiede gibt.5 Vorläufig werden diese Phänomene mit Begriffen wie postmoderne Religion6, hochmoderne Religiosität7, liquid religion8, implicit religion9, unsichtbare Religion10 oder wild devotion11 erfasst. Daneben wächst in der Spätmoderne auch die Bedeutung der Multireligiosität und der Multikulturalität, insbesondere mit dem Erstarken des Islams. Gemeinsam ist diesen Entwicklungen, dass ihnen innerhalb der Praktischen Theologie bisher relativ wenig Aufmerksamkeit gewidmet wurde.

      Die genannten Veränderungen auf dem religiösen Feld sind natürlich Teil der Modernisierungsprozesse, die in der spätmodernen Gesellschaft als Ganze zu verzeichnen sind.12 Heute herrscht die Einsicht in die Perspektivität und Partikularität aller Erkenntnis und jeder Praxis vor. Dies löst Prozesse einer fortgesetzten Selbstreferenzialität aus, und es entsteht die gesellschaftliche Situation eines radikalisierten Pluralismus. Für den Einzelnen kulminiert beides in der zunehmenden Individualisierung seiner Biografie und seiner sozialen Bezüge sowie einer gesteigerten Begründungspflicht und neuen Normierungsansprüchen bei seiner Entscheidungsfindung.13 Dies alles hat natürlich auch Rückwirkungen auf die Pastoral und auf das religiöse Feld.14

      In diesem Sinn muss die Spätmoderne beziehungsweise die durch sie mitbestimmte religiöse, kirchliche und pastorale Praxis der vornehmliche Gegenstand einer zeitgenössischen praktisch-theologischen Reflexion sein.15 In diesem Band wird untersucht, inwieweit sie diesen Anspruch nicht zuletzt in ihrem eigenen Wissenschaftsdesign einlöst. Es soll aber weder um ‚Selbstkasteiung‘ noch um pastoraltheologischen ‚Väter- und Müttermord‘ gehen. Auch sollen keine Zensuren verteilt werden. Denn die wissenschaftlich verantwortete Empfindsamkeit für die religiösen, sozialen und kulturellen Entwicklungen der spätmodernen Gesellschaft ist an und für sich noch kein Qualitätskriterium für die Praktische Theologie. Wohl muss sie sich von ihrer Aufgabenstellung her fragen (lassen), inwieweit und wie sie die Kennzeichen der Spätmoderne in ihre Reflexion integriert. Diese Fragestellung verfolgt der hier vorgelegte Band.

      Er dokumentiert die Ergebnisse des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierten Projekts ‚Praktische Theologie in der Spätmoderne‘, in dem sich 15 Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler der Pastoraltheologie aus Deutschland, Österreich, der Schweiz und den Niederlanden in mehreren Arbeitstreffen von 2009 bis 2012 vernetzten. Die Idee zur Gründung eines Netzwerks für den wissenschaftlichen Nachwuchs war in der Statusgruppe Mittelbau der internationalen Konferenz der deutschsprachigen Pastoraltheologen und Pastoraltheologinnen entstanden. Möglich wurde dieses – in der Praktischen Theologie nach unserem Wissen bisher erstmals in dieser Art durchgeführte – Projekt durch die Initiative von Tobias Kläden, Ulrich Feeser-Lichterfeld und Stefan Gärtner.

      Das Projekt vereinte eine sehr große Bandbreite an Forschungstraditionen, wissenschaftstheoretischen Konzepten, inhaltlichen Schwerpunkten, institutionellen Rahmenbedingungen und Diskurskulturen in sich. Das erwies sich als Vorteil des Netzwerkes, und dies prägte die Arbeit während des gesamten Projektverlaufs. Seine konkreten Arbeitsschritte lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Zunächst wurden sehr breit typisch spätmoderne Eindrücke, Erfahrungen, Theorieelemente und Phänomene gesammelt, die dann zu zentralen Signaturen der Spätmoderne verdichtet wurden. Diese ausgewählten Signaturen sollten eine Analyse der Spätmodernegefühligkeit der Praktischen Theologie erlauben. Sie ermöglichen eine Topografisierung, bei der die spätmoderne Verfassung der Disziplin sowohl selbstkritisch erhoben als auch mit Blick auf mögliche Veränderungsperspektiven beschrieben werden kann (2. Teil).

      Diese Signaturen wurden im Projektverlauf immer weiter geschärft und der Frage unterworfen, inwiefern sie die angezielte Analyse auch wirklich leisten. Nachdem sich die Teilnehmer und Teilnehmerinnen dieser Frage zunächst mit Blick auf die eigene Forschung gestellt hatten, wurde die Matrix auch an die Beiträge älterer Praktischer Theologinnen und Theologen angelegt. Das Ergebnis sind Porträts von prominenten Vertreterinnen und Vertretern zu der Frage, in welcher Hinsicht sie mit ihrem Werk als spätmodern charakterisiert werden können (3. Teil). Es ist deutlich, dass auch in diesem Teil nur eine exemplarische Auswahl vorgenommen werden konnte. Eine an und für sich wünschenswerte größere Streuung und Repräsentativität der porträtierten Praktischen Theologinnen und Theologen wurde im Netzwerk diskutiert, sie ließ sich aber auf Grund von pragmatischen Überlegungen nicht verwirklichen.

      Der vorliegende Band ergänzt die Signaturtexte zur Spätmoderne und die praktisch-theologischen Porträts um zwei Elemente. Zum Ersten um zwei Grundlagentexte zur Verfassung der Spätmoderne (1. Teil). Dies ist dem Projektverlauf geschuldet, bei dem an diesem wiederkehrenden Punkt ebenfalls eine große Pluralität unter den beteiligten Nachwuchswissenschaftlern und -wissenschaftlerinnen zum Ausdruck kam. Mit den zwei Basisartikeln wird die Unterschiedlichkeit der im Projektverlauf diskutierten Konzepte sichtbar.

      Die zweite Ergänzung besteht in einer Öffnung des Projekts. Praktisch-theologische Kollegen der eigenen und der anderen Konfession sowie ein Vertreter der Systematischen Theologie wurden um einen kritischen Kommentar zu den Ergebnissen unseres Netzwerkes gebeten (4. Teil). Auf diese Weise unterwirft sich das Netzwerk der Kritik von außen. Damit trägt es der für die Spätmoderne typischen Multiperspektivität, Pluralität und Differenz aller wissenschaftlichen Erkenntnis Rechnung, die nicht zuletzt im Projektverlauf immer wieder deutlich geworden ist.

      Der Band bündelt somit den gesamten Prozess und bietet ihn der praktischtheologischen scientific community zur Diskussion an. So kann der Ertrag der Nachwuchsforschergruppe der fachinternen Selbstvergewisserung zugänglich gemacht werden – ein Anliegen, das zu den ständigen Übungen in dieser