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Praktische Theologie in der Spätmoderne


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für das wie für alle riskanten Unternehmungen gilt: Es kann auch scheitern. Die Theologie kann an dieser Herausforderung entweder wachsen oder aber untergehen – entziehen darf sie sich ihr jedenfalls nicht: „Denn gegen die Realität hilft kein Wünschen: Sie stellt vielmehr Aufgaben. […] Die ‚Postmoderne‘ [bzw. die Spätmoderne, Ch. B.] ist – ebensowenig wie die Moderne – etwas, das man widerlegen kann: Man kann in ihr bestehen oder scheitern.“45 Eine in diesem Sinn gegenwartsfähige Pastoraltheologie braucht ein „abenteuerliches Herz“46, wenn sie sich auf dem Diskursniveau ihrer Zeit furchtlos und schwimmbereit der jeweils schärfsten Herausforderung stellt. Sie hat dabei wenig zu verlieren und viel zu gewinnen. Denn in einer „Gesellschaft ohne Baldachin“47 steht der Himmel wieder offen – daher gilt: Keine Angst vor fremden Denkern! Heute ist auch in der Theologie nicht mehr (wie noch in der Moderne) die Zukunft das Projekt48, sondern vielmehr das Projekt die Zukunft. Die Spätmoderne steht damit in assoziativer Nähe zum Begriff des Spätwerks: gereift, verdichtet, abgeklärt, experimentierfreudig. Jeder spätmodern ausgerichteten Pastoraltheologie stünde es nicht schlecht an, genau diese Eigenschaften zu besitzen.

       1. Postmoderne oder Spätmoderne?

      Begriffe sind austauschbar, es kommt auf ihre Füllung an. Daher gilt es, einen theoretisch belastbaren Begriff von der eigenen Gegenwart zu entwickeln. Ohne dunkles Raunen, ohne modische Diskursaccessoires und jenseits kulturwissenschaftlicher Antragsprosa. Mangels besserer Alternativen wird im Folgenden ein arbeitstechnischer Hilfsbegriff zur näherungsweisen Bestimmung unserer Zeit vorgeschlagen: die Spätmoderne. Sie ist nichts anderes als die Gegenwart im Versuch ihrer begrifflichen Erfassung. Gegenüber dem landläufigen Begriff der Postmoderne hat dieser Begriff den entscheidenden Vorzug, dass er weniger vermeidbare Missverständnisse provoziert. Stichwort: konturlose Beliebigkeit. Es ist klar, dass dieser Begriff mit Jean-François Lyotard auch im Sinne des Folgenden ausgelegt werden kann. Es kommt dabei insgesamt weniger auf die Begriffe selbst an als auf ihren konkreten Gebrauch. Entsprechendes gilt für alternative Begriffe wie Reflexive, Radikale oder Zweite Moderne. Vielleicht sollte man ganz auf entsprechende Etikettierungen verzichten und einfach von ‚der Gegenwart‘ sprechen. In jedem Fall aber legt der Begriff der Spätmoderne weniger als jener der Postmoderne ein zeitliches Nacheinander nahe, welches das notwendig offene Projekt der Moderne als etwas längst Abgeschlossenes bzw. Überholtes erscheinen lässt – und im theologischen Bereich bruchlose Rückgriffe auf die Vormoderne zulässt (siehe zum Beispiel das angelsächsische Projekt Radical orthodoxy, aber auch die in gewissem Sinne ‚postmoderne‘ Schriftauslegung in den Jesus-Büchern von Papst Benedikt).

      Die Spätmoderne hingegen steht in gebrochener Kontinuität zu einer Moderne, die sich ‚nach Auschwitz‘ ihrer eigenen Ambivalenzen bewusst wurde49 und die sich aus dem Impuls der Aufklärung heraus nun in selbstreflexiver Radikalisierung überschreitet – mit der Konsequenz, dass ein entsprechend „differenztheologisches Programm“50 nun auch in der Pastoraltheologie zu entwickeln ist. Dessen theogrammatisches Strukturformat51 besteht weder im „Entweder-oder“52 der Moderne (also: entweder Tradition oder Fortschritt, entweder Monarchie oder Demokratie, entweder Arbeit oder Kapital) noch im „Sowohl-als-auch“53 der Postmoderne (im Sinne eines anything goes, das dieser von Vertretern des „Entweder- oder“ von beiden Seiten moderner Dichotomien her zum Vorwurf gemacht wird), sondern vielmehr in der doppelten Verneinung eines „Weder-noch“54, das den akademischen Gottesdiskurs im Sinne eschatologischer Unabschließbarkeit prinzipiell offenhält. „Vive la différence“55 – mit diesem Wahlspruch verteidigt die Spätmoderne – zumindest im Bereich der nouvelles philosophes bzw. der French Theory – das Singuläre, Differente und Plurale gegen den potenziell totalitären Zugriff des Universalen, Identischen und Singularen: „Krieg dem Ganzen, zeugen wir für das Nicht-Darstellbare, aktivieren wir die Differenz, retten wir die Differenzen, retten wir die Ehre des Namens.“56

      Der entscheidende Unterschied zwischen Postmoderne und Spätmoderne besteht im Kontrast von Pluralität und Differenz. Unsere Gegenwart ist keine postmoderne Blumenwiese kunterbunter Vielfalt, auf der sich die Pastoraltheologie auf eine semantische Blütenlese des Empirischen beschränken könnte, sondern vielmehr ein spätmoderner Kampfplatz stahlharter Vielheiten im Sinne Max Webers, auf dem sie sich nicht nur diskursiv, sondern auch existenziell bewähren muss: „[Die] verschiedenen Wertordnungen der Welt [stehen] in unlöslichem Kampf untereinander […]. Die alten […] Götter, entzaubert und daher in Gestalt unpersönlicher Mächte, entsteigen ihren Gräbern […] und beginnen […] wieder ihren ewigen Kampf.“57 Diese Worte vom neuen Ringen der alten Götter sind durch die Stahlgewitter des Ersten Weltkriegs hindurchgegangen. Dieses ‚Pascha‘ der Moderne eröffnete jenen großen „Weltbürgerkrieg“58, den Eric Hobsbawm das kurze 20. Jahrhundert nennt: von den Schüssen in Sarajevo bis zum Zusammenbruch des Sowjetreichs.59 Mit dem 9.11.1989 sind die alten Götter des 20. Jahrhunderts abgetreten. Längst haben neue den Kampfplatz betreten, die Nebel des Übergangs beginnen sich zu lichten. Neue große Erzählungen bestimmen eine zunehmend postsäkulare Weltpolitik. Spätestens seit mit dem 11.9.2001 das 21. Jahrhundert begann, zeichnet sich immer deutlicher ab, dass die langen zehn Jahre zwischen 11/9 und 9/11 nicht das vermeintliche „Ende der Geschichte“60 brachten, sondern den Beginn einer Latenzphase zwischen dem Finale des 20. Jahrhunderts und der Ouvertüre des 21. Jahrhunderts markiert, die man die Epoche der Postmoderne nennen könnte: „Der Fall der Mauer und der Fall der Türme. […] Zwei Einstürze, aus denen sich mein […] Zeitgefühl erhebt. 11-9-9-11: Ein Palindrom der Bewusstwerdung meiner Generation […], das man vorwärts wie rückwärts lesen kann.“61

       2. Universaler Widerstreit

      Szenenwechsel. New York, am 8. Februar 2010. Investmentmanager weltweit agierender Hedgefonds treffen sich in Manhattan zu einem Abendessen.62 Man verabredet eine gemeinsame Wette gegen das hochverschuldete EURO-Land Griechenland, die schließlich die Einrichtung eines EU-Rettungsfonds erforderlich macht. Einige zum Teil noch sehr junge Manager, die sich in New York zu einem exklusiven Dinner treffen, spekulieren gegen ein Land und bringen damit einen ganzen Kontinent an den Rand des Scheiterns – wie kann das geschehen? Und wie kann es sein, dass genau jene Banker, die sich in der Finanzkrise noch mit staatlichem Geld retten ließen, inzwischen einfach so weiterspekulieren, als sei nichts geschehen?

      Wohin angesichts dieser obszönen Kaltschnäuzigkeit mit der Wut? Wem soll man sie entgegenschleudern? Das Problem ist die Streuung möglicher Zielobjekte in der Spätmoderne: Spitzenmanager verweisen auf wirtschaftliche Zusammenhänge, deren Komplexität auch ein halbwegs intelligenter Zeitungsleser längst nicht mehr durchblickt. Wie kann Politik unter diesen Bedingungen überhaupt noch steuernd eingreifen? Es gibt keine schlichtende Metainstanz, an die man gegen diesen Zustand appellieren könnte. Was in den daraus resultierenden Paradoxien63 einzig bleibt, ist die Dilemmakompetenz eines kontrafaktisch durchgehaltenen Lebensmutes nach Art von Camus Sisyphos. Hier kommt der wohl leistungsfähigste Gesamtbegriff der Spätmoderne ins Spiel: der Widerstreit. Er wurde von Lyotard in seinem Buch Le différend entwickelt – und zwar in Auseinandersetzung mit dem Zivilisationsbruch der Shoa, der sogar noch die Beweise des Verbrechens selbst vernichtete:

      „Widerstreit (différend) möchte ich den Fall nennen, in dem der Kläger seiner Beweismittel beraubt ist und dadurch zum Opfer wird. […] Zwischen zwei Parteien entspinnt sich ein Widerstreit, wenn sich die ‚Beilegung‘ des Konflikts, der sie miteinander konfrontiert, im Idiom der einen vollzieht, während das Unrecht, das die andere Seite erleidet, in diesem Idiom nicht figuriert.“64

      Den zahllosen unterlegenen Opfern dieser Asymmetrie bleibt nur der Schlusssatz von Paul Celans Gedicht Aschenglorie:

      „Niemand

      zeugt für den

      Zeugen.“65

      Auschwitz ist der exemplarische Ort eines Widerstreits, der keine schlichtende Metainstanz mehr kennt, sondern nur noch