selbst wenn die Geschichte im Sinne Hegels ganz zur Vergangenheit würde: »Alles wird zur Vergangenheit; wie eine Sandwüste erscheint das Leben; sie ist das Bewusstsein der Freiheit und Wahrheit« (vgl. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Bd. 3, 61) – so spielte sich das Leben der Christen nicht gleichsam in einem geschichtlich luftleeren Raum ab, wie auch der Messias unter der Herrschaft eines Augustus geboren wurde und unter Pontius Pilatus starb. Von einer Zeitenwende könnte keine Rede sein, wäre nicht der Einbruch der messianischen Zeit ins Historische auf dem Schauplatz der Geschichte erfolgt, auf dem sich die Ablösung der Mächte des alten Äons durch den neuen Äon in Christus, die Auflösung des Historischen ins Eschatologische vollzieht. Daher die Proklamation Jesu vor dem Hohen Rat auf die beschwörende Frage des Hohenpriesters hin, ob er der Messias, der Sohn Gottes sei: »Du hast es gesagt. Doch ich erkläre euch: Von jetzt an werdet ihr den Menschensohn zur Rechten der Macht sitzen und auf den Wolken des Himmels kommen sehen« (Mt 26,64; par Mk 14,62). Von jetzt an, also im Hinblick auf das Kreuz Christi, zeichnet sich die Konstellation von Jetztzeit und Endzeit, von Historischem und Messianischem ab. Weder fällt die Geschichte, wie man es seit Oscar Cullmann und Karl Löwith gerne hätte, gleich einer Nussschale in zwei Hälften: in Weltgeschichte und Heilsgeschichte bzw. Weltgeschichte und Heilsgeschehen auseinander, noch geschieht die »Offenbarung Jesu Christi« (vgl. Offb 1,1) jenseits von Kosmos und Weltgeschehen als vielmehr durch Kosmos (»auf den Wolken des Himmels«) und Geschichte hindurch. Mögen wir auch vor der Geschichte die Augen verschließen, uns einreden, sie wäre schon gewesen – zumal das letzte Buch der Bibel wie die anderen apokalyptischen Passagen des Neuen Testaments verweisen darauf, was uns bevorsteht. Die Geschichte im Lichte der Offenbarung deuten besagt nicht weniger, als sie im Zeichen des Kommenden – im Zeichen des im Kommen begriffenen Gottes zu begreifen.
Nun findet sich Petersons oben zitierte Schlussfolgerung am Ende einer Reflexion seiner »Fragmente« in den »Marginalien zur Theologie« aus dem Jahre 1956 wieder, wobei hier anstelle des Wortes »Geschichte« die »Reichen« apostrophiert ist (vgl. AS 2,145), auf die sich ja schließlich der »Hass dieser Welt« gegen Christus nicht beschränkt. Peterson stellt das eschatologische Opfer Jesu dem Verrat und Selbstmord des Judas gegenüber: »Das eschatologische Opfer Jesu auf Golgatha, das alle anderen Opfer ablöst, wird historisch durch zwei Tatsachen illustriert: durch die Vertreibung der Händler aus dem Tempel und durch die dreißig Silberlinge des Verrates des Judas. Das besagt, daß eine konkrete historische Dialektik, die von Geld und Opferblut, hinter dem Opfer von Golgatha steht. Daß die Hohenpriester das Opfer des Sohnes zu verhindern trachteten, war begreiflich. Brachten sie doch die blutigen Opfer im Tempel dar und glaubten sie, den Tempel vor dem retten zu können, welcher den Tempel zu zerstören drohte. Im Tempel aber befand sich das Geld. Von diesem Gelde gaben sie dreißig Silberlinge dem Verräter, der von dem Geheimnis Jesu wußte, er werde das eschatologische Opfer vollbringen, durch das die blutigen Opfer im Tempel und dieser selber überflüssig würden. Der Selbstmord des Judas ist durch die Angst vor dem Eschatologischen in Jesus bedingt. Vor die Wahl gestellt, entweder das Eschaton oder das Historische zu ergreifen, findet er nach dem Verrat keinen anderen Ausweg als den Selbstmord, von der Dialektik des Historischen und des Eschatologischen, des Geldes und des eschatologischen Blutopfers, zerrieben. Der Selbstmord des Judas war die äußerste Form des privaten Sich-Opferns gegenüber dem öffentlichen Opfer, das von Christus im Himmel dargebracht wurde« (AS 2,144).
Es fällt an diesen Zeilen die Gewaltsamkeit der Textauslegung Petersons, eines ansonsten äußerst subtilen Exegeten, auf. So wird das Opfer Jesu nicht im Himmel oder im Tempel, sondern auf Golgota – nach Cyrill von Jerusalem († 386) der Mittelpunkt der Erde – dargebracht, insofern er »außerhalb des Tores gelitten« hat (vgl. Hebr 13,13); erst durch dieses Opfer »ist er ein für allemal in das Heiligtum hineingegangen, nicht mit dem Blut von Böcken und Stieren, sondern mit seinem eigenen Blut, und so hat er eine ewige Erlösung bewirkt« (Hebr 9,12). Bezeichnenderweise reißt im Augenblick seines Todes »der Vorhang des Tempels von oben bis unten entzwei« (vgl. Mt 27,51; par Mk 15,38; Lk 23,45). – Zudem suchten die Hohenpriester sein Opfer ja nicht zu verhindern, sondern haben es geradezu forciert, gemäß dem Wort des Hohenpriesters Kajaphas, dass es besser sei, wenn ein einziger Mensch für das Volk sterbe, als wenn das ganze Volk zugrunde gehe: »Das sagte er nicht aus sich selbst; sondern weil er der Hohepriester jenes Jahres war, sagte er aus prophetischer Eingebung, dass Jesus für das Volk sterben werde« (Joh 11,51). Und wie Johannes hinzufügt: »Aber er sollte nicht nur für das Volk sterben, sondern auch um die versprengten Kinder Gottes wieder zu sammeln« (Joh 11,52). Ist doch der Logos dem Wortsinn nach der »Sammler«. – Außerdem stellte sich dem Judas nach seinem Verrat schwerlich eine Wahl zwischen dem Eschaton und dem Historischen, insofern er zuvor seine »Wahl« getroffen hat, mit der das Verhängnis seinen Lauf nimmt gemäß dem Worte Jesu über den Verräter: »Der Menschensohn muss zwar seinen Weg gehen, wie die Schrift über ihn sagt. Doch weh dem Menschen, durch den der Menschensohn verraten wird. Für ihn wäre es besser, wenn er nie geboren wäre« (Mt 26,24). Denn trotz der Reue, die Judas empfindet, da er »sah, dass Jesus zum Tod verurteilt war« (vgl. Mt 27,3), erkennt er nach seiner Zurückweisung durch die Hohenpriester und Ältesten keinen Weg der Umkehr: »Da warf er die Silberstücke in den Tempel; dann ging er weg und erhängte sich« (Mt 27,5). Nicht »durch die Angst vor dem Eschatologischen« in Jesus ist sein Selbstmord bedingt, sondern durch dessen Verkennung, die ihn zum Verrat trieb, um nicht das Schicksal Jesu zu teilen – und am Ende seine Vereinzelung, eine absolute menschliche Vereinzelung, konstatieren zu müssen: vor dem Tod und der Auferstehung Jesu Christi. Darin liegt die Ausweglosigkeit eines Lebens beschlossen, das um keine Erlösung durch das Kreuz, durch das eschatologische Opfer Christi weiß, sondern mit der Auslieferung eines »unschuldigen Menschen« (vgl. Mt 27,4) zugleich sich selbst der Gleichgültigkeit der historischen Mächte ausgeliefert sieht (vgl. ebd.: »Was geht uns das an? Das ist deine Sache«). Niemand kennt die Zahl der Verräter und Täter, der Denunzianten und Henker, die nach vollbrachter Tat im Laufe der Geschichte von den Mächtigen samt ihrer Schuld sich selbst überlassen wurden: Darin liegt die Dialektik des Historischen, der Selbstwiderspruch der Geschichte beschlossen, deren Machthaber ihre Helfershelfer mit Geld oder leeren Versprechungen abfinden, um sie am Ende an sich selbst Hand anlegen zu lassen, insofern sie nicht die Gleichgültigkeit ihrer Herren gegenüber den Opfern teilen.
Dass in Jesus Christus der Erlöser, der Menschensohn und Messias, selbst zum Opfer, ja zum Opferlamm geworden ist, ist alles andere als ein Zufall: Keine historische Zielsetzung, kein Weltfriedensreich, kein Reich der Freiheit oder Gerechtigkeit, wie man es seit dem Zeitalter der Aufklärung und des Deutschen Idealismus erträumt, führt am Opfer von Golgota vorbei, an das nicht allein das Zeugnis der Märtyrer, sondern jedes Opfer der Geschichte mahnt, mögen diejenigen, die Geschichte machen, auch alles daransetzen, die Blutspuren zu verwischen, die sie in der Geschichte hinterlassen, bis hin zur Liquidation der Henker als missliebige Zeitzeugen oder als potentielle Gefahr für die eigene Herrschaft. So überrascht es nicht, dass seit dem Zeitalter der Französischen Revolution alle Versuche, das Recht des Menschen mit Gewalt zu erkämpfen, in weitaus größeren Gewaltherrschaften endeten, als sie jeweils zuvor bestanden. Und auch die Versuche, auf friedlichem Wege, durch Handel und Wandel, zu einer Welt zu gelangen, die Unrecht und Elend kennt, hat sich nach der zweiten Jahrtausendwende als Illusion herausgestellt: Während die großen Industriestaaten in einem Schuldenmeer zu versinken drohen, kennt keiner die Millionen, wenn nicht Milliarden, die sich mit Not und Mühe buchstäblich über Wasser halten, um den Wohlstand der anderen zu sichern. Kein Vertreter der Theologie, die sich ohnehin seit geraumer Zeit durch eine auffallende Weltfrömmigkeit auszeichnet, vielmehr der Kulturhistoriker Niall Ferguson – laut The Times »der brillanteste Historiker seiner Generation« – hat in seinem monumentalen Werk The West and the Rest (2011) dem Schlusswort eine Betrachtung unter dem Titel vorangestellt: »Naht das Ende aller Tage?«
Nicht Ziel, sondern Ende – ist doch alles Historische schon seinem Begriff nach auf seine Zeit beschränkt, vermag den epochalen Rahmen nicht zu überschreiten, das Saeculum, in dem es steht bzw. in das es fällt. Mag der technologische Fortschritt in ungeahnte Dimensionen voranschreiten; ja mag es eine umfassende Völkerverständigung geben, wie sie die Vergangenheit nicht kannte, so ist der Menschheit nicht die Möglichkeit der Vollendung ihrer Geschichte gegeben, welche Ideale sie auch immer an den