dass ein eher säkular gesonnener philosophischer Denker wie Walter Benjamin (1892–1940), dessen Gedanken bis zuletzt, bis zu seinen Aufzeichnungen »Über den Begriff der Geschichte«, seinem philosophischen Vermächtnis, um das Historische in seinen flüchtigsten Erscheinungen kreisen, zu Beginn seines »Theologisch-politischen Fragments« unmissverständlich konstatiert: »Erst der Messias selbst vollendet alles historische Geschehen, und zwar in dem Sinne, daß er dessen Beziehung auf das Messianische selbst erst erlöst, vollendet, schafft. Darum kann nichts Historisches von sich aus sich auf Messianisches beziehen wollen. Darum ist das Reich Gottes nicht das Telos der historischen Dynamis; es kann nicht zum Ziel gesetzt werden. Historisch gesehen ist es nicht Ziel, sondern Ende« (GS II.1, 203). Darum kann es keine historische Begründung von Erlösung und Vollendung geben. Ebenso wenig überzeugt es, sich – analog zu Kierkegaards »Sprung« – aus dem Historischen ins Eschatologische retten zu wollen, da das Eschatologische die Zeit der Vollendung wie die Vollendung der Zeit darstellt. Denn Ende ist das Messianische bzw. das Eschatologische nicht in dem Sinne, »als ob das Historische nicht mehr da ist« bzw. »als ob die Geschichte dieser Welt schon vergangen ist« – das nominalistische »als ob« bekennt die Fiktion ein. Ein Ende bezeichnet das Kommen des Reiches Gottes vielmehr im Sinne der Vollendung des historischen Geschehens, das ja nicht als bloße »Weltgeschichte« der messianischen bzw. eschatologischen Zeit vorausliegt, sondern über Antike, Mittelalter und Neuzeit, über die Moderne und Gegenwart hinaus bis auf den Jüngsten Tag in den Prozess der Vollendung einbezogen ist.
Klarer als jeder namhafte Theologe seiner Zeit hat das der zu Unrecht vergessene Georg Feuerer (1900–1940) zu »Christus und die Vollendungsordnung« auf den Punkt gebracht: »Die Vollendungsordnung steht nicht neben der Schöpfungs- und Erlösungsordnung, sondern, tiefer gesehen, ist sie nur die tiefste werdende Schicht all dieser bestehenden Ordnungen. In Christus ist ein werdender Prozeß der Vollendung entgegen« (Unsere Kirche im Kommen, 41). Ein Prozess, der mit seiner Vorverurteilung vor dem Hohen Rat (vgl. Mt 26,64; par Mk 14,62) seinen Ausgang nimmt, um in seiner Verurteilung durch den römischen Statthalter Pilatus besiegelt zu werden, durch dessen Urteil das Wort Jesu seine Bestätigung erfahren wird: »Jetzt wird Gericht gehalten über diese Welt; jetzt wird der Herrscher dieser Welt hinausgeworfen werden« (Joh 12,31). Wenn aber der Zusammenhang von Erlösungs- und Vollendungsordnung nicht mehr gesehen wird, dann wird auch die Konstellation von Jetztzeit und Endzeit nicht mehr erkannt, jener Prozess, der mit der Erhöhung Christi am Kreuz einsetzt und mit seiner Wiederkunft zum Abschluss, sprich: zum Urteil gelangt. Und genau an diesem Punkt steht die Theologie zu Beginn des dritten Jahrtausends.
Denn eines muss angesichts der Themenvielfalt der zeitgenössischen Theologie überraschen: Mit dem Jahr 2014 blicken wir hundert Jahre auf den Beginn des Ersten Weltkriegs zurück. Seitdem hat es nicht nur einen weiteren Weltkrieg gegeben, Massenmorde wie nie zuvor in der Geschichte, den Zusammenbruch des Sowjet-Kommunismus, Verwerfungen in der westlichen Welt – kurzum: eine Geschichte, die geradezu einem Auszug aus der Apokalypse entspricht. Und dennoch: Keine eschatologische Deutung der Moderne bis ins ausgehende zwanzigste Jahrhundert, mag die klassische Moderne zwischen 1900 und 1950 inzwischen auch der Vergangenheit angehören. So verwunderlich freilich scheint ihr Ausbleiben bei näherer Betrachtung nicht: Zum einen spielte die Eschatologie immer schon innerhalb der Theologie eine eher marginale Rolle; ein »fusseliges Zeugs« am Ende der Traktate, wie einmal der greise Jesuit und einstige Husserl-Schüler Wilhelm Klein (1889–1996) in einem Gespräch mit dem Verf. vermerkte. Dann hat die Historisierung der Theologie der urchristlichen Eschatologie weithin den Boden entzogen. Um einem Missverständnis vorzubeugen: Es soll hier nicht eine seriöse historische Forschung, zumal im Bereich der Kirchen- und Dogmengeschichte, in Abrede gestellt werden. Wird jedoch hier etwa der Auferstehungsglauben verneint, weil er nicht in das Weltbild des Historismus passt; findet also eine Reduktion der biblischen Überlieferung auf jenes vermeintlich moderne Weltbild statt, dann kann von Vollendung im Hinblick auf unser Zeitgeschehen gar nicht mehr die Rede sein. Mag man noch so viel über Gott oder über »das Wesen des Christentums« reden oder schreiben, von einer Offenbarung Gottes über die sog. Naherwartung der ersten Christen hinaus zu sprechen, entbehrt der Evidenz, wie auch der Gottesbegriff mehr von unserem historisch bedingten Verständnis, letzthin unserem eigenen Selbstverständnis abzuhängen scheint als von dem Gott der Offenbarung. Unmissverständlich hat das der atheistische Philosoph Emile M. Cioran in einem Tagebucheintrag vom 29. November 1959 seiner »Cahiers 1957–1972« zum Ausdruck gebracht: »Die historische Kultur hat alles gefälscht. Man stellt sich keine Fragen mehr nach Gott, sondern nach seinen Erscheinungsformen, nach der religiösen Sensibilität und Erfahrung, aber nicht mehr nach dem Gegenstand, der beide rechtfertigt« (ebd. 23). Mochte Cioran hierbei auch primär an einen rumänischen Jugendfreund, den bekannten Religionswissenschaftler Mircea Eliade, gedacht haben, so hat er mit seiner Einschätzung gleichwohl eine Tendenz unserer Zeit getroffen: aus dem Gott der Rechtfertigung ist ein Gott der Selbstrechtfertigung geworden. Nicht mehr Gottes Wesen und Wirken, gar Gottes Willen ist hinsichtlich der biblischen Überlieferung von Bedeutung, sondern der Wille ihres Interpreten, das Weltbild und der Wissensstand des Historikers, entsprechend der Sichtweise Rudolf Bultmanns [wir kommen auf sie gleich zurück], dass das Kerygma, also der Wahrheitsgehalt christlicher Verkündigung, stets neu wieder gefunden werden müsse.
Doch einmal abgesehen vom harschen Urteil Ciorans, eines Geschichtsverächters und eingefleischten Skeptikers, ist vom Historischen aus das Messianische und Eschatologische, Erlösung und Vollendung gar nicht zu bestimmen. Ablesbar ist das am Werk zweier moderner Denker, deren Gedanken buchstäblich bis zuletzt um den Begriff der Geschichte kreisen: Friedrich Nietzsches und Walter Benjamins. Obwohl sich bei letzterem wie bei keinem zweiten nichtchristlichen Denker Einsichten in zentrale theologische Sachverhalte finden, vermögen sie gewissermaßen nicht zu zünden; gleichen Blitzen, die für einen Augenblick das Wolkendunkel erhellen, um dann der Dunkelheit zu weichen. Denn solange unklar bleibt, wer der Messias ist, will eine eindeutige Differenzierung von Messianischem und Historischem, von historischer und messianischer bzw. eschatologischer Zeit nicht gelingen. So vermerkt Benjamin in einer Aufzeichnung unter ›Neue Thesen K‹ aus dem Umfeld der Thesen »Über den Begriff der Geschichte«: »Die Erlösung ist der limes des Fortschritts« (GS I.1, 1235). M. a. W., die Erlösung verflüchtigt sich zu einer asymptotischen Größe auf der Bahn eines entfesselten Fortschritts; unterliegt ebender historischen Dynamis, deren Ende das Reich Gottes dem »Theologisch-politischen Fragment« zufolge markieren sollte. Dabei ist sich Benjamin der Problematik solchen Fortschritts durchaus bewusst gewesen, wie eine Aufzeichnung zum »Passagen-Werk« verdeutlicht: »Der Glaube an den Fortschritt, an eine unendliche Perfektibilität – eine unendliche Aufgabe in der Moral – und die Vorstellung von der ewigen Wiederkehr sind komplementär. Es sind die unauflöslichen Antinomien, angesichts deren der dialektische Begriff der historischen Zeit zu entwickeln ist. Ihm gegenüber erscheint die Vorstellung von der ewigen Wiederkehr als eben der ›platte Rationalismus‹, als der der Fortschrittsglaube verrufen ist und dieser letztere der mythischen Denkweise ebenso angehörend wie die Vorstellung von der ewigen Wiederkehr« (GS V.1,178). Es sei nur mehr angemerkt, dass ein Rudolf Bultmann, der damals mit seinem Programm der Entmythologisierung Furore machte, nicht die leiseste Ahnung von jener »mythischen Denkweise« besaß, mit der Benjamin abzurechnen sucht. Und doch führt auch »der dialektische Begriff der historischen Zeit« nicht über »die unauflöslichen [!] Antinomien« von Fortschritts- und ewigem Wiederkunftsgedanken hinaus, dessen Aporie Benjamin zwar zu benennen, jedoch nicht aufzulösen vermag, weil genau in der Konstellation von technischem Fortschritt und der Unveränderlichkeit der Welt, ihrer faktischen Unerlöstheit die Dialektik des Historischen, der Selbstwiderspruch der Geschichte beschlossen liegt. Denn solange nicht über ihr das Licht der Offenbarung erstrahlt, bleibt der Weg ihrer Erlösung und Vollendung dunkel. Ja »das Messianische« erscheint nicht mehr als eine bloße Idee, während doch »der Messias selbst« alles historische Geschehen vollenden soll; ja in These VI »Über den Begriff der Geschichte« heißt es ausdrücklich: »Der Messias kommt ja nicht nur als der Erlöser; er kommt als der Überwinder des Antichrist« (GS I.1,695). Ohne seine Offenbarung aber verläuft das Eschatologische, also die Vollendung der Geschichte, im Sande der historischen Zeit, über die bei Benjamin letzthin nichts hinausführt.
Ebenso wenig bei Nietzsche, dem der Rückzug ins tragische Zeitalter der Griechen,