Dorothea Gnau

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der grundlegenden Veränderungen, die sie in die neuere orthodoxe Theologie einbrachte, wird ein Teil dieser Generation mit Christos Yannaras als einem ihrer prominentesten Vertreter auch als »Neo-Orthodoxie» bezeichnet.35 Diese Bezeichnung ist teils positiv, teils negativ konnotiert und wird oft recht undifferenziert, mal theologisch, mal politisch verwendet. Dass der Begriff der » Neo-Orthodoxie« in so vieldeutiger Weise verwendet wird und nicht nur eine theologische Strömung bezeichnet, weist auf ein bedeutendes und charakteristisches Merkmal der Bewegung innerhalb der Orthodoxie hin, das mit der Generation der 60er Jahre in Gang kommt. Die neue Hinwendung zur Orthodoxie bleibt nicht auf Theologenkreise beschränkt, sondern wird auf breiter Basis auch in Künstler- und Intellektuellenkreisen übernommen.36 Nicht zuletzt aufgrund seiner heiklen politischen Implikationen, die sich oftmals von den theologischen Grundanliegen weit entfernen, ist der Begriff der Neo-Orthodoxie recht problematisch und in der Sache für die Bezeichnung der Theologengeneration der 60er Jahre wenig hilfreich.

      Dass mit dieser Theologengeneration jedoch etwas entscheidend Neues, in der griechischen Theologie vorher so nicht Dagewesenes beginnt, ist unbestritten. Der griechische Theologe Athanasios Papathanasiou, der selbst der Schülergeneration der 'Generation der 60er Jahre' angehört, wendet allerdings ein, es sei falsch, »den Eindruck zu erwecken, mit den 'Sechziger Jahren' bräche in Griechenland die Orthodoxie an«.37 Auch Papathanasiou konstatiert jedoch, dass mit der »Generation der 60er Jahre« der Aufbruch (image - Exodus) weg »von der bisherigen Pseudomorphose«38 der Orthodoxie anbreche. Aber auch ein solcher Aufbruch fällt nicht plötzlich vom Himmel. Er ist eingebettet in Entwicklungen, die ihm den Weg gebahnt haben und zum Teil auch schon deutlich früher einsetzen. Zudem verlaufen neue und alte Strömungen durchaus auch noch zeitgleich nebeneinander her.

      Als griechische Theologen des 20. Jahrhunderts sind Nellas, Yannaras und Zizioulas in einem ähnlichen theologischen und gesellschaftlichen Umfeld aufgewachsen. Sie sind ähnlichen Einflussfaktoren ausgesetzt, die sie, wenngleich in unterschiedlichem Maße, prägen.39 Zunehmend haben sie selbst auch Einfluss auf dieses Umfeld ausgeübt und die theologische Landschaft Griechenlands mitgestaltet. Einige dieser Einflussfaktoren sollen im Folgenden skizziert werden. Die Darstellung beschränkt sich dabei – der systematisch-theologischen Themenstellung dieser Arbeit folgend - auf einige hierfür relevante Punkte. Eine umfassende Darstellung der Theologiegeschichte ist ebenso wenig angezielt wie eine Darstellung der neueren und neuesten Geschichte Griechenlands oder eine eingehende Gesellschaftsanalyse. Auch wenn derartigen Fragen im Rahmen dieser Arbeit nicht weiter nachgegangen werden kann, ist vorab auf die Wichtigkeit gerade des politischen und gesellschaftlichen Umfeldes für ein adäquates Verständnis der Theologengeneration der 60er Jahre zumindest ausdrücklich hinzuweisen, - nicht nur weil das Umfeld die Theologie eines jeden Theologen und gerade auch seine Anthropologie immer deutlich mitprägt, zumal dann, wenn dieser, wie dies für Nellas, Yannaras und Zizioulas sicherlich zutrifft, ein politisch denkender Mensch ist. Im griechischen Kontext ist über dieses selbstverständliche Faktum hinaus die enge Verbindung von nationaler und religiöser Identität zu bedenken, die in dem bekannten Schlagwort »Grieche sein bedeutet, orthodox zu sein« zum Ausdruck kommt. Die Frage, was es bedeutet, griechisch zu sein und orthodox zu sein, stellt sich für Griechinnen und Griechen sowohl aufgrund der geographischen und kulturellen Lage Griechenlands zwischen Orient und Okzident als auch auf dem Hintergrund einer bewegten Geschichte mit langen Zeiten der Unterdrückung mit besonderer Brisanz.

      In Erinnerung zu rufen ist die unruhige Geschichte des noch jungen griechischen Nationalstaats im 20. Jahrhundert, sein intensives Ringen um die eigene Identität bis in die Gegenwart hinein. Zum Erfahrungshintergrund der Theologengeneration der 60er Jahre gehört die Besatzung Griechenlands zuerst durch die Italiener, dann durch die Deutschen in der Zeit des Zweiten Weltkrieges, während der die Bevölkerung ganzer Dörfer grausam ermordet wurde. Direkt nach Abzug der deutschen Truppen brach dann ein verheerender Bürgerkrieg zwischen Monarchisten und Kommunisten aus.40 Sehr prägend wirkte schließlich noch die Zeit der Militärdiktatur 1967-1974, in der die Kirche auf ausgesprochen problematische Weise mit den politischen Machthabern paktierte. Die negativen Folgen dieser Zusammenarbeit sind bis in die Gegenwart spürbar.

      Zu bedenken sind weiterhin die rasanten wirtschaftlichen Entwicklungen in Griechenland seit den 60er Jahren und die damit verbundenen gesellschaftlichen Umbrüche. Die Frage nach dem Verhältnis von nationaler und religiöser Identität, nach dem Verhältnis von Staat und Kirche, oder dem politischen Einfluss der Staatskirche bleiben bis heute in Griechenland sehr virulent. Sie werden umso virulenter in einer Zeit, in der die früher weitgehend vorhandene Homogenität der Gesellschaft immer weniger vorausgesetzt werden kann. Öffentliche Debatten der vergangenen Jahre wie die Diskussion um die Eintragung der Religionszugehörigkeit in den Personalausweis oder um den Gottesbezug in der europäischen Verfassung zeigen dies deutlich.41 In neuerer Zeit ist in diesem Zusammenhang nicht zuletzt auch die wirtschaftliche Krise Griechenlands zu nennen. Innenpolitische wie außenpolitische Faktoren trugen dazu bei, dass solche Fragen neue Aktualität erhielten. Die Kirche ist in Bezug auf politische Verflechtungen und ihr soziales Engagement neu angefragt. In der Diskussion über das Verhältnis Griechenlands zu seinen europäischen Bündnispartnern, die durch die Diskussion um den europäischen Rettungsschirm entfacht wurde, erhielt die Frage der nationalen Identität neue Brisanz.

       II.Entwicklungslinien bis zum 20. Jahrhundert

      Einen Markstein in der Entwicklung der neueren orthodoxen Theologie stellt der »Erste Kongress orthodoxer Theologie« dar, der vom 29.11. bis 06.12.1936 in Athen stattfand. Dort fasste der russische Theologe Georges Florovsky in seinem deutschsprachigen Vortrag die Thesen seiner zuvor in russischer Sprache veröffentlichten »Puti russkago bogoslovija« (»Wege der russischen Theologie«) zusammen42. Er trug darin seine kritische Sicht der orthodoxen Theologiegeschichte als Geschichte einer zunehmenden Entfernung und Entfremdung von ihren Ursprüngen vor. Florovsky bezog sich zwar vor allem auf die russische Theologie, viele der von ihm beschriebenen Entwicklungen lassen sich jedoch auch auf die gesamte orthodoxe Theologie übertragen. So ging der Vortrag des Athener Theologen Hamilkar Alivisatos auf dem gleichen Kongress in eine ganz ähnliche Richtung. Er sprach von einer »langen Periode äußeren Niedergangs, die ungefähr bis auf unsere Tage gedauert hat«43. Diese Periode lässt Alivisatos schon mit dem Schisma 1054 beginnen. Sie zeige sich auch in der Entfremdung der verschiedenen orthodoxen Teilkirchen voneinander. Wie Florovsky spricht auch Alivisatos von einer »Überfremdung« der östlichen Theologie durch die westliche. Diese bereits 1936 vorgetragenen Einschätzungen werden später mehr oder weniger zum Allgemeingut kritischer Selbstdarstellungen der orthodoxen Theologie.44 Griechische Theologen sehen insbesondere die griechische Theologie seit der Gründung des modernen griechischen Staates zunehmend kritisch. Florovskys Redeweise von der »Babylonischen Gefangenschaft«, in der sich die orthodoxe Theologie befinde, wird geradezu zum Schlagwort für die negativen Entwicklungen im Laufe ihrer Geschichte. Dennoch kommen Bemühungen, Auswege aus dieser »Gefangenschaft« zu finden, auch nach dem genannten Kongress in Griechenland zunächst nur sehr zögerlich in Gang.

      Panagiotis Nellas, Christos Yannaras und Ioannis Zizioulas haben sich häufig zu den (Fehl-)Entwicklungen in der neuzeitlichen orthodoxen Theologie geäußert. Sie haben die Ausgangssituation analysiert, prägende Einflussfaktoren benannt und auch Reaktionen und Neuansätze beschrieben, die sie selbst in der Theologie ihrer Zeit wahrnahmen. Unterschiedlich sind allerdings Umfang, Stil und Ziel ihrer Äußerungen. Christos Yannaras setzt sich in nahezu allen seinen Veröffentlichungen intensiv mit dieser Thematik auseinander. Die bewusste Abgrenzung gegenüber westlichem Denken prägt seine theologischen und philosophischen Schriften ebenso wie seine politischen und gesellschaftskritischen. Ioannis Zizioulas schildert diese Entwicklungen vor allem unter theologiegeschichtlichem und ökumenischem Blickwinkel. Bei Panagiotis Nellas erfolgt die Auseinandersetzung eher indirekt und vermittelt im Zuge der Untersuchung einzelner Kirchenvätertexte und deren theologiegeschichtlicher Einordnung oder im Zusammenhang mit gesellschaftlichen oder pädagogischen Fragen seiner Zeit. Da sich also alle drei Theologen intensiv mit den theologiegeschichtlichen