an. »Ich bin der festen Überzeugung: Das Rätsel rund um diesen Todesfall ist gelöst. Herr Haberl hat sich offensichtlich das Leben genommen.«
Felix Frisch versuchte, erstaunt zu schauen.
»Eigentlich braucht man nur eins und eins zusammenzuzählen«, fuhr der Landespolizeidirektor fort. »Haberl ist zutiefst deprimiert wegen des Diebstahls der wertvollen Statue, steigt hier herauf an diesen wunderschönen Ort abseits aller Spazierwege und springt mit dem Kopf voran in den sicheren Tod.«
Felix Frisch schaute noch leicht zweifelnd, während er innerlich jubilierte. »Sie könnten tatsächlich recht haben«, formulierte er vorsichtig und dachte an Frau Haberl, die ihm wegen der Selbstmordthese ein Nachspiel angedroht hatte. Dieses Nachspiel entschied er gerade für sich. »Ja, wenn ich es recht überlege, ist das die einzig logische Schlussfolgerung.«
Der Landespolizeidirektor strahlte. »Es tut gut, dass meine Idee von einem Mann aus dem Fußvolk geteilt wird. Da fühlt man sich gleich besser. Aber natürlich auch nur, wenn man so wie ich Wert auf die Meinung der unteren Schichten legt.«
Felix Frisch bemühte sich, sich seinen Ärger nicht ansehen zu lassen. Dass der feine Herr einen Gruppeninspektor zum sogenannten Fußvolk zählte, war schon heftig. Aber ›untere Schichten‹ war eine echte Frechheit. Der hielt sich offensichtlich für etwas Besseres. Vielleicht hätte er ihm die Idee vom Selbstmord doch nicht eingeben sollen.
»Wissen Sie, ich komme vor lauter Gesprächen mit Landeshauptleuten und Ministern überhaupt nicht dazu, mit einfachen Inspektoren zu reden. Dabei wäre das so wichtig. Man soll gerade die sogenannten kleinen Leute nicht unterschätzen, sage ich immer zu meiner Frau. Gehört zu meinen persönlichen zehn Geboten.« Der Polizeidirektor streckte die Brust heraus, stemmte die Arme in die Hüften wie ein Feldherr und blickte auf das Donautal hinunter. »Wirklich schöne Gegend hier. Dürfte eine ideale Lage für Riesling sein.« Noch einen Moment genoss er in dieser Pose die Aussicht. Dann warf er einen Blick auf seine Uhr. »Ich glaube, ich habe genug gesehen. Sie sind ein guter Mann. Ich werde Sie in meinem Bericht an den Landeshauptmann lobend erwähnen. Wie war doch gleich Ihr Name?«
Mittwoch, 22. Juni 12 Uhr 48
Selbstverständlich war auf der Terrasse des Schlosshotels ihr Lieblingsplatz reserviert. Ohne dass Franziska Schremser bei ihrem Anruf extra darauf hätte hinweisen müssen. Im Schatten des Blutahorn-Baumes an der Brüstung mit dem besten Blick donauaufwärts. Warum sie lieber die Donau hinauf als hinunter schaute, konnte sie schwer fassen. Vielleicht waren es die Schiffe. Die einen kamen ihr stromabwärts schnell entgegen, während die anderen stromaufwärts nur mit Mühe entschwanden. Der Strom verstärkte gleichsam ihre magnetische Wirkung, die sie ihr ganzes Leben lang zu nutzen gewusst hatte. Auch jetzt registrierte sie die verstohlenen Blicke so mancher Herren. Ihr wurde bewusst, wie gut das kräftige, samtene Grün ihres neuen Kleides mit den roten Blättern des Baumes über ihr harmonierte; und mit dem rötlichen Klinker-Fußboden. Inszenierung war ihr eben zur zweiten Natur geworden. Wahrscheinlich mochte sie diesen Platz auch deshalb, weil er von zwei großen Steinschalen, die mit prächtigen, rosa blühenden Hortensien gefüllt waren, umrahmt war.
Aber sie war nicht hier, um bewundernde Blicke der männlichen und neidvolle Blicke der weiblichen Gäste auf sich zu ziehen. Sie war hier, um mit Jennifer und ihrem Verlobten noch einmal das Programm für die Hochzeitsfeierlichkeiten durchzugehen. Damit alles wie am Schnürchen klappen würde. Die Ausrichtung der Hochzeit auf Burg Aggstein war ihr Hochzeitsgeschenk an ihre Tochter aus erster Ehe.
Sie hatte sich vorgenommen, diesmal besonders großzügig zu sein. Auch wenn sie sonst auf ihr Geld schaute. Denn gegenüber Jennifer hatte sie schon lange so etwas wie ein schlechtes Gewissen. Erstens wegen des Vornamens. Sie selbst war als junges Mädchen über ihren eigenen Vornamen höchst unglücklich gewesen. ›Franziska‹ erschien ihr höchst altmodisch. Ihr Unglück wurde noch dadurch verstärkt, dass ihre Eltern sie immer ›Franzi‹ riefen. Damals hatte sie sich geschworen, ihren eigenen Kindern nur moderne Vornamen zu geben. Als ihre Tochter vor vierundzwanzig Jahren auf die Welt kam, war Jennifer ein sehr angesagter Vorname. Heute allerdings gefiel ihr ihr eigener Vorname besser als der ihrer Tochter.
Entscheidender für ihr schlechtes Gewissen war jedoch das eindeutige Gefühl, dass ihre jüngere Tochter ihrem Herzen näherstand. Natürlich bemühte sie sich nach Kräften, diesen Umstand vor ihrer älteren zu verbergen. Sie hatte auch ihre Töchter niemals wissentlich ungleich behandelt. Allerdings gab es diese für sie spürbare emotionale Distanz. Die mochte mit dem Vater von Jennifer, ihrem ersten Ehemann, zusammenhängen. Manuel Kohout. Ein Windbeutel der Sonderklasse. Inhaber einer Werbefirma. Dass sie nicht lachte. Die einzige Werbung, die er jemals auf die Beine stellen konnte, war die für sich selbst. Ungemein charmant. Aber in Wahrheit nur auf ihr damals noch recht mühsam verdientes Geld aus. Bis sie ihn auf zugegeben etwas rüde Art vor die Tür gesetzt hatte. Seitdem hatte sie von diesem Blender nichts mehr gehört. Das war ihr nur recht. Als Jennifer vor ein paar Jahren einmal angedeutet hatte, dass sie Kontakt zu ihrem Vater habe, hatte sie auch sofort abgewunken. Von Manuel Kohout wollte sie einfach nichts mehr wissen.
Zum Glück war Jennifer genau das Gegenteil ihres Vaters geworden: sehr solide. Lehrerin für Deutsch und Geschichte. Vor mehr als fünfundzwanzig Jahren wollte sie selbst Lehrerin werden. Bis zu dem Tag, an dem sich plötzlich eine Möglichkeit aufgetan hatte, viel Geld zu verdienen. Aus dieser Möglichkeit hatte sie mit der ihr angeborenen Energie und Schläue schöne Wirklichkeit gemacht. Das Studium hatte sie damals geschmissen. Trotz fast fertiger Dissertation. Einen Titel hatte sie bis heute nie mehr gebraucht. Dazu war sie zu reich und zu attraktiv.
Mit dem jungen Paar war sie für zwölf Uhr fünfundvierzig verabredet. Jennifer unterrichtete bis zwölf Uhr dreißig. Sie selbst war pünktlich, Tochter und zukünftiger Schwiegersohn, ein ihr sehr sympathischer junger Anästhesist aus dem Landesklinikum Krems, nicht. Sie wollte nicht länger warten und gab dem Ober, der gerade zwei Tische weiter einem älteren Ehepaar die Vorspeisen servierte und dabei, einen freundlichen Gruß andeutend, zu ihr blickte, mit Daumen und Zeigefinger ein Zeichen, das er offensichtlich sofort verstand.
Keine Minute später brachte er ihr ein Glas. »Einen wunderschönen guten Tag, Frau Schremser! Hier Ihr gewünschter Riesling, bitte. Wie immer vom Pichler.« Wie üblich stellte er ihr auch gleich ein volles, mit blütenweißer Stoffserviette bedecktes Brotkörbchen auf den Tisch. »Soll ich Ihnen schon die Karte bringen, oder wollen Sie noch etwas warten?«
»Sie können sie mir ruhig schon bringen. Und für meine Kinder gleich dazu. Die werden ja gleich da sein.«
Sie nahm das Glas in die Hand, führte es zu ihrer Nase, um den Geruch des Weins auf sich wirken zu lassen, trank einen Schluck und blickte dann über die Donau nach Rossatz. Was war das hier doch für ein prachtvoller Platz! Selbst in der mit vielen wunderschönen Plätzen verwöhnten Wachau war keiner zu finden, der es mit dieser Terrasse hätte aufnehmen können, davon war sie überzeugt. Auch wenn sie die Stiftskirche in ihrem Rücken gar nicht sehen konnte, und auch nicht die Burgruine, die auf den Ort herabblickte, so war es so, als würden diese beiden Dürnsteiner Wahrzeichen einem beim Essen über die Schulter schauen. An einem Tag wie diesem mit seinen neunundzwanzig Grad im Schatten und einem wolkenlosen Himmel nicht zu schlagen. Sie würde nie verstehen, warum die Bald-Eheleute nicht das Schlosshotel als Ort für die Hochzeitsfeier ausgesucht hatten. Auf den Geldbeutel der Brautmutter hätten sie wirklich keine Rücksicht zu nehmen brauchen.
Die beiden hatten sich zu ihrer Überraschung auch für eine kirchliche Trauung entschieden. Da wäre doch die Stiftskirche ein idealer Ort gewesen. Aber nein, das junge Paar hatte sich auf einen weit ungewöhnlicheren Ort für die Trauung und die anschließende Feier versteift. Wie hieß es doch so schön? Des Menschen Wille ist sein Himmelreich. Sie glaubte zu wissen, dass die Tochter gern sie als Trauzeugin gehabt hätte. Hätte sie auch gern gemacht. Schon allein wegen ihres schlechten Gewissens. Allerdings war ihr als zweifach geschiedene Frau diese Rolle verwehrt.
Der Wein tat ihrem Magen gut. Sie schlug die über dem Brotkörbchen gefaltete Serviette zurück. Der Duft, der ihr entgegenströmte, regte ihren Magen gleich noch mehr an. Helles und dunkles Brot sowie zwei Wachauer Laberln vom Schmidl. Frisch aus der Backstube,