Bernhard Görg

Dürnsteiner Himmelfahrt


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Rahmen – schon immer nach Herzenslust essen können, ohne ihre Taille zu gefährden. Dementsprechend griff sie nach einem Laberl und biss herzhaft hinein. So konnte nur Gebäck vom Schmidl schmecken. Einfach herrlich.

      Der Kellner kam mit den Speisekarten.

      Sie bedeutete ihm mit vollem Mund, die Karten einfach auf den Tisch zu legen, anstatt ihr wie üblich auch gleich mündliche Informationen zum heutigen Menü zu servieren. Als er wieder davongetrabt war, schlug sie die in Weinrot gehaltene Speisekarte auf. Auf eine Vorspeise wollte sie eher verzichten. Obwohl sie die kleinen Lammfilets auf Blattsalaten schon sehr anlachten. Sollten die Brautleute eine Vorspeise bestellen, würde sie selbst wohl schwerlich Nein sagen können. Ihr angeregter Magen wollte sich allerdings gerade nicht mit den Vorspeisen aufhalten. So wandte sie ihre Aufmerksamkeit den Hauptspeisen zu. Die hausgemachten Nudeln mit Wildschweinsugo und Vogelbeeren hatte sie schon einmal gegessen. Köstlich. Aber sie wollte noch ein bisschen gustieren.

      Sie war so vertieft in die Karte, dass sie den zarten Kuss auf ihren Kopf zunächst gar nicht spürte.

      Donnerstag, 23. Juni 13 Uhr 05

      Was für eine Frechheit von ihrem Mann. Da stand sie nach der Morgendusche vor dem Badezimmerspiegel, den sie kurz davor mit einem trockenen Handtuch von Wasserdampf befreit hatte, um ihre Figur einer kritischen Kontrolle zu unterziehen. Mit dem, was sie sah, war sie durchaus zufrieden.

      Dass ihr Erich – selbstverständlich erst nach vorherigem Klopfen – hereingekommen war, störte sie nicht; genauso wenig, dass er ihr, wie sie im Spiegel sehen konnte, interessiert zusah, wie sie dieses ohnehin winzig kleine Röllchen über ihrer linken Hüfte zwischen Daumen und Zeigefinger nahm, um den Durchmesser zu kontrollieren. Aber dann setzte er sein ihr zur Genüge bekanntes Grinsen auf, das an den Gesichtsausdruck eines Fauns erinnerte, und kommentierte diese Röllchen-Prüfung mit der Bemerkung, dass er auf ihren Hüften schon immer ein paar Dekagramm mehr gemocht hätte, als eigentlich erlaubt waren. Da wusste sie, dass ihr der ganze Tag gründlich versaut sein würde. Und womöglich sogar Ungemach bereithielt.

      Die Szene vor dem Spiegel hatte Doris Lenhart immer noch im Hinterkopf, während sie als Ersatz für das Mittagessen missmutig an einer Karotte kaute und in einem Akt las. Da klingelte ihr Telefon. Das Büro des Landeshauptmanns war am Apparat. Das musste das Ungemach sein, das sich in der Früh angekündigt hatte. Ob sie um dreizehn Uhr zum Herrn Landeshauptmann kommen könne? Auf ihre Frage nach dem Gesprächsthema, ob sie Unterlagen mitbringen oder sich anderweitig vorbereiten sollte, war nur ein kurzes, aber klares »Nein« gekommen.

      Sie hatte im Vorzimmer nicht einmal eine Minute warten müssen, da war er schon aus seinem Büro herausgekommen. Mit genau dem Lächeln, das sie schon vom vorigen Samstag kannte. »Welche Freude, den Stern am niederösterreichischen Polizeihimmel so schnell wiederzusehen. Entschuldigen Sie bitte den Überfall, Frau Chefinspektorin, aber ich brauche Ihre Hilfe. Dringend. Kaffee?«

      Als sie nickte, nickte er seinerseits seiner Sekretärin zu: »Zwei Mal, bitte.«

      Doris nahm auf einem Sessel der Sitzgarnitur, die sie schon von ihrem ersten und bisher einzigen Besuch in diesem Büro vor fünf Jahren kannte, Platz. An der erstaunlich spartanischen Einrichtung hatte sich seither nichts verändert. Diese Einrichtung war auch der Grund, warum dieser Raum trotz seiner Größe ihrer Vorstellung vom Büro eines Landeshauptmanns nicht entsprach.

      »Wissen Sie, Frau Lenhart, Ihr Boss treibt mich manchmal zur Weißglut. Ich habe gute Lust, dem Innenminister klar und deutlich zu sagen, dass er sich den Marbolt weiß Gott wohin stecken soll. Hauptsache, er zieht ihn aus Sankt Pölten ab.«

      Sie dachte bei sich, dass sie dafür gern die Umzugskosten übernehmen würde, bemühte sich aber, keinerlei Gemütsregung erkennen zu lassen.

      Der Landeshauptmann senkte seine Stimme. »Im Vertrauen sage ich Ihnen, dass er sich sogar aufgeregt hat, dass ich Sie auf dem Schiff als Stern am Polizeihimmel bezeichnet habe. Weil er als Ihr Chef ein größeres Recht darauf gehabt hätte, auf der Bühne zu stehen. Tolles Foto übrigens im Niederösterreichischen Tagblatt. Gratuliere. Dabei gibt es in der ganzen Polizei niemanden, der auch nur im Ansatz Ihre Fähigkeiten hätte. Hat es nie gegeben und wird es auch nie mehr geben. Der Innenminister hat zwar auch gefunden, dass ich da ein bisschen übertrieben habe, aber ich wäre ein schlechter Landeshauptmann, wenn ich mich durch so etwas beeindrucken ließe.«

      Schön langsam wurde ihr unbehaglich. Wie es immer passierte, wenn sie keine Ahnung hatte, worauf ihr Gegenüber hinauswollte.

      Der Landeshauptmann blickte sie an. Ganz sicher genau kalkulierend, wie weit seine Eröffnung ihr Ziel erreicht hatte.

      Wenn sie dieses Ziel nur hätte erraten können! Der in dem Moment servierte Kaffee verschaffte ihr wenigstens eine kleine Atempause.

      »Aber ich habe Sie jetzt lang genug an meinen Sorgen teilhaben lassen und will jetzt zur Sache kommen«, fuhr der Landeshauptmann fort, als seine Sekretärin die Tür von außen schloss. »Vielleicht haben Sie gelesen, dass voriges Wochenende ein recht bekannter Kremser Kunst- und Antiquitätenhändler bei einem Sturz in einem Weingarten ums Leben gekommen ist. Den Doktor Haberl habe ich seit dreißig Jahren gekannt. Leider glaubt seine Witwe, die ich natürlich auch gut kenne, dass jemand bei dem Tod etwas nachgeholfen hat. Weil im Privathaus der Haberls vier Wochen vorher eingebrochen worden ist.«

      Spätestens jetzt drängte es sie, seinen Redefluss zu unterbrechen. »Und was ist gestohlen worden?«

      »Dazu komme ich gleich. Jedenfalls habe ich, weil ich mir eingebildet habe, den Dienstweg einhalten zu müssen, den Marbolt ersucht, der Sache nachzugehen. Und zwar durch Sie. Dass er Sie einschalten soll, habe ich ihm ausdrücklich gesagt. Aber was macht der komische Vogel? Bildet sich offensichtlich ein, selbst der große Stern am Polizeihimmel zu sein. Fährt da gestern in die Wachau, kraxelt dort in den Weingärten herum und kommt dann mit einer wilden Theorie nach Hause. Jetzt komme ich zu Ihrer Frage. Im Polizeibericht, der dort drüben liegt« – er deutete mit einer Hand auf seinen Schreibtisch – »samt Obduktionsergebnis und dem Bericht des wirklich grenzgenialen Herrn Polizeidirektors – bekommen Sie selbstverständlich alles mit – ist vom Diebstahl einer kleinen Heiligenfigur aus dem Mittelalter die Rede. Wert nach damaligen Angaben von Doktor Haberl zehn- bis fünfzehntausend Euro. Doktor Marbolt glaubt aber, dass die Figur in Wirklichkeit viel mehr wert war. Er will nicht ausschließen, dass der Kunsthändler wegen dieses Verlustes so untröstlich gewesen ist, dass er sich das Leben genommen hat. Hätte er von einem Spitzenpsychologen, der viel zum Thema Selbstmord geforscht hat.«

      Doris Lenhart stand auf und ging zum Schreibtisch. »Darf ich mir einmal den Obduktionsbericht ansehen?«

      »Schauen Sie sich an, was immer Sie wollen.«

      Die Chefinspektorin kam mit dem Akt in der Hand zur Sitzgarnitur zurück, blieb aber stehen und begann, in den Unterlagen zu blättern. »Weiß man übrigens, wer der Spitzenpsychologe gewesen ist?«

      Der Landeshauptmann schüttelte den Kopf. »Ein Name ist nicht erwähnt.«

      Sie merkte, dass der Landeshauptmann sie aufmerksam ansah. Sie setzte sich wieder, weil sie gefunden hatte, wonach sie suchte.

      »Also, der Obduktionsbericht ist eindeutig. Der Genickbruch ist durch den Sturz entstanden. Allerdings kann natürlich auch der beste Gerichtsmediziner nicht feststellen, ob der Mann vor seinem Sturz gestoßen worden ist. Es sei denn, der Stoß ist so heftig gewesen, dass er Spuren auf dem Körper hinterlassen hat. Wenn dieser Herr Haberl aber knapp am Rand der Stützmauer gestanden ist, dann reicht ein Schubs mit einem Finger. Oder ein kurzes Nach-hinten-Ziehen an den unteren Extremitäten, was eher für einen Genickbruch sprechen würde. So etwas lässt sich aber beim besten Willen nicht nachweisen.«

      »So etwas Ähnliches habe ich mir schon gedacht.« Wenn der Landeshauptmann enttäuscht war, dann ließ er es sich nicht anmerken.

      »Gibt es im Polizeibericht eine Angabe über die Höhe der Stützmauer?«, fragte sie.

      »An der Stelle ist die Stützmauer angeblich fast drei Meter hoch. Sehr ungewöhnlich für einen Weingarten. Was halten Sie von der Selbstmordtheorie?«