gebe ich aus meiner Sicht eine Einschätzung zur zukünftigen Entwicklung des Prüfungswesens ab.
Etwas Persönliches, meine Motivation
Ich befasse mich schon seit mehr als 20 Jahren mit dem Thema «Prüfen und Beurteilen». Zuerst als Sekundarlehrer, dann als Evaluator von Schulen und Bildungsprojekten, als Ausbilder von Ausbildenden sowie Prüfenden und schließlich als berufspädagogischer Begleiter in der Entwicklung von Prüfungsverfahren. Als junger Sekundarlehrer hatte ich ein prägendes Erlebnis. Eine Schülerin, die sich auch durch die Pubertät bedingt in einer schwierigen Lebensphase befand, schrieb bei mir eine Physikprüfung. Eine falsche Maßeinheit (cm2 statt cm3) hätte zu einem ungenügenden Prüfungsresultat geführt. Diese ungenügende Note hätte sich negativ auf die Gesamtnote im Fach ausgewirkt und wäre schließlich entscheidend für den Gesamtnotendurchschnitt und die Promotion in die dritte Sekundarklasse gewesen. Weil die Schülerin bereits provisorisch promoviert ins Semester einstieg, hätte sie von der Sekundarschule (Niveau mit erweiterten Anforderungen) an die Realschule (Niveau mit Grundanforderungen) wechseln müssen, und das in dieser schwierigen persönlichen Phase. Diese Situation führte mir vor Augen, wie zukunftsweisend und entscheidend Prüfungen und ihre Bewertungen sein können. Sie bildete den Anstoß, meine Prüfungen und Bewertungen in Zukunft so sorgfältig wie möglich zu gestalten und wohl auch, mich immer wieder vertieft mit dem Thema «Fair prüfen und bewerten» zu befassen.
Wie hätten Sie reagiert? Hätten Sie den Fehler übersehen? Oder den Maßstab konsequent mit allen Folgen angewendet? Ich proklamiere mit dieser Erzählung weder das willkürliche Bewerten noch das bewusste Wegschauen bei der Korrektur von Prüfungen. Vielmehr möchte ich für ein kritisches Anwenden von Zahlenwerten sensibilisieren. Ich möchte mit dem Dilemma in dieser Erzählung aufzeigen, dass reiner Zahlenglaube nicht immer zielführend ist. Manchmal sind Augenmaß, ein Blick über die ganze Situation hinweg und eine offene, förderorientierte Haltung mindestens so wichtig wie korrektes Rechnen. Natürlich war es nicht die falsche Maßeinheit allein, die das Mädchen in die kritische Situation gebracht hatte. Es waren die Leistungen in vielen Prüfungen, in verschiedenen Fächern, bei mehreren Lehrpersonen und über ein Semester hinweg. Die falsche Maßeinheit in der letzten Prüfung zeigt aber die Herausforderung an ein Beurteilungssystem auf. Ich überlasse die Frage Ihnen, wie Sie bei der Bewertung dieser Prüfung vorgegangen wären.
Das Buch entstand aus dem Antrieb, einen Beitrag zur Qualitätsentwicklung des Prüfungswesens zu leisten. Besonders am Herzen liegt mir die Erweiterung der Bloom’schen Taxonomie in Abschnitt 1.3.3. Die Taxonomie von Handlungskompetenzen sowie die Schaffung von drei Leistungsniveaus sind Hilfsmittel für die Bewertung von Leistungen und der Ausprägung von Handlungskompetenzen. Sie dienen auch dazu, den Schwierigkeitsgrad von Aufgaben einzustufen.
Dank
Für die Unterstützung in diesem Buchprojekt danke ich verschiedenen Personen. Ein großer, herzlicher Dank gehört Peter Egger und Tatjana Straka vom hep Verlag für die Möglichkeit und Unterstützung der Publikation. Joe Gerig, Helena Hilty, Regula Hürlimann, Susanne Käppeli-Bühlmann, Gabriela Obrist und Renate Ribler danke ich für ihre anregenden Kommentare und Hinweise beim Lektorat. Auch Reto Trachsel und Odile Fahmy vom SBFI waren in der Schlussphase mit ihren kritischen Hinweisen eine große Hilfe. Ein herzlicher Dank geht auch an André Sollberger für seine Hinweise aus der Prüfungspraxis.
Meiner Frau Barbara bin ich für ihre verständnisvolle, großzügige und motivierende Unterstützung sehr dankbar. Auch Levi, Maurin und Edwina danke ich für die Geduld, wenn Papa wieder mal zerstreut mit den Gedanken irgendwo anders war.
Gregor Thurnherr
1 Handlungskompetenzorientierung in der Berufsbildung
Damit man Handlungskompetenzen prüfen und beurteilen kann, ist ein klares Verständnis nötig, was die Begriffe «Kompetenz» und «Handlungskompetenz» bedeuten und beinhalten. Ein vertieftes Begriffsverständnis hilft bei der Gestaltung von Prüfungen. Es bildet für die Prüfenden die Grundlage für die Auswahl von Prüfungsformen, dient der zuverlässigen Durchführung und fairen Bewertung.
1.1 Kompetenz und Handlungskompetenz – Klärung und Abgrenzung der Begriffe
Die Begriffe «Kompetenz» und «Handlungskompetenz» sind nicht eindeutig und allgemeingültig definiert. Sie werden unterschiedlich verstanden und interpretiert (vgl. Kaufhold 2006). So stehen am Anfang dieses Kapitels die Fragen:
Was ist eine Kompetenz?
Worin unterscheidet sie sich von einer Handlungskompetenz?
Zuerst wird der Begriff «Kompetenz» vorgestellt und anschließend das Verständnis von Handlungskompetenz dargelegt. Letzteres ist besonders für das Prüfen und Beurteilen in der Berufs- und Weiterbildung von großer Bedeutung und wird deshalb ausführlicher beschrieben.
Die folgenden Unterkapitel zeigen die Dimensionen und Bereiche von Handlungskompetenzen auf und wie man Handlungskompetenzen formuliert. Die Kompetenzdimensionen und -bereiche haben für das Buch eine leitende Funktion.
1.1.1 Kompetenzbegriff
Der Kompetenzbegriff lässt sich zum Beispiel aus pädagogischer, (arbeits-)psychologischer und handlungstheoretischer Sicht betrachten. So wird er unterschiedlich verwendet und noch immer kontrovers diskutiert. Es lassen sich trotz der Vielschichtigkeit und Vielfältigkeit in der Begriffsdefinition gemeinsame Merkmale erkennen (vgl. Kaufhold 2006). Demnach zeichnet sich eine Kompetenz durch folgende Elemente aus:
Handlungsbezug
Situations- und Kontextbezug
Subjektgebundenheit
Veränderbarkeit
Kompetenz äußert sich in der Bewältigung von Situationen, die in einem bestimmten Rahmen und in einem bestimmten Umfeld beziehungsweise Zusammenhang (Kontext) vorkommen. Personen bewältigen Situationen mit einem angepassten und erkennbaren Handeln. Der Zusammenhang von Handlung und Situation ist besonders bei der Beurteilung von beruflichen Handlungskompetenzen bedeutsam (siehe Abschnitt 1.1.2). Kompetenz zeigt sich somit nur in Situationen, in denen sie tatsächlich gefordert ist und zur Anwendung kommen kann. Personen beurteilen Situationen subjektiv und somit individuell. Diese Subjektivität beeinflusst die Art der Bewältigung beziehungsweise das Handeln, was die Beurteilung der Kompetenzerreichung erschwert. Kompetenz lässt sich entwickeln und bleibt nicht konstant. Man kann Kompetenz also erlernen (vgl. Kaufhold 2006).
Mehrere Autoren (z.B. Weinert 2001) beschreiben Kompetenz als eine Ausprägung beziehungsweise als das Potenzial, geistige, personale und praktische Fähigkeiten für die Lösung von Problemen einsetzen zu können. Dieser Definition liegt die alte Trias Geist–Körper–Seele zugrunde oder das, was Pestalozzi unter Kopf, Herz und Hand versteht (vgl. Walzik 2012). Andere Kompetenzdefinitionen bezeichnen diese drei Dimensionen einer Kompetenz mit Wissen, Wollen und Können (vgl. Wollert 1997, in Hof 2002). Darauf gehe ich in Abschnitt 1.1.3 vertieft ein.
Le Boterf (2000) betrachtet Kompetenz aus einer arbeitspsychologischen Sicht, welche die frankophone Auffassung von Kompetenz widerspiegelt. Er verwendet für individuelle Kenntnisse, Fertigkeiten, geistige Fähigkeiten sowie Umfeldbedingungen, Vorwissen und Erfahrungen den Begriff «Ressourcen». Sie sind also die Quelle, Grundlage oder das Potenzial einer Person, Arbeitssituationen zu bewältigen.
Auch die in der Berufsbildung weitverbreitete KoRe-Methode legt Kompetenzen Ressourcen zugrunde: Kenntnisse, Fähigkeiten und Haltungen.
Kompetenz ist bei Le Boterf und in der KoRe-Methode die Befähigung, diese Ressourcen gezielt einzusetzen und zu kombinieren, um Arbeitssituationen zu bewältigen (vgl. Thomann 2011).
1.1.2 Handlungskompetenz
Wie beim Kompetenzbegriff