Thomas Brezina

Der Tote in der Hochzeitstorte


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um erlaubte Gifte, sondern um jene Arten von Giften, die dringend gewünscht, aber illegal waren: Gifte, die Schädlinge auf Avocadoplantagen in Südamerika vernichteten, Gifte zur Beseitigung von Staren, diesen lästigen Vögeln, die Oliven- und Weintraubenernten vernichteten oder Gifte, die Fischereigebiete zerstörten, ohne nachgewiesen werden zu können. Die Herstellung solcher Substanzen war Raouls Spezialität.

      Es erfüllte ihn mit Befriedigung, zu wissen, dass die sprunghafte Preissteigerung bei einigen Meeresfischen auf die Verbreitung von Substanzen aus seinem Labor zurückzuführen war. Es war am Markt bereits zu einer Verknappung von Dorsch und Kabeljau gekommen.

      An diesem nebeligen Novembertag lieferte Raoul ein Gift, wie er es noch nie zuvor hergestellt hatte. Es war eine Premiere, eine neue Herausforderung, wie er sie schätzte. Das Gift war für einen Selbstmord bestimmt, der das Leben der betreffenden Person retten sollte. So widersprüchlich das klang, so sinnvoll erschien der Plan, der dahinter steckte.

      Wer sein Auftraggeber oder seine Auftraggeberin war, wusste Raoul nicht. Die Bestellung war über eine der zahlreichen Webseiten abgewickelt worden, die er im Darknet betrieb. Abigor nannte er sich dort, ein Deckname, der beschrieb, wie er sich sehen wollte. Allerdings glaubte er nicht, dass jemand die Bedeutung des Namens schon einmal nachgeschlagen hatte.

      Der Handel hatte klare Regeln. Der Kaufpreis war auf ein Konto in einem Steuerparadies der Südsee zu transferieren. Eine Hälfte musste vor der Hinterlegung des Giftes überwiesen werden. Die zweite Hälfte war fällig, wenn der Besteller das Gift übernommen hatte. Erst nach Erhalt des gesamten Betrags teilte Raoul den Code mit, mit dem der gelieferte Behälter geöffnet werden konnte. Raouls Anweisung an seine Kunden lautete, das Gift frühestens drei Tage danach einzusetzen.

      Der Grund dafür war die Gefährlichkeit der Stoffe. Wie beim Umgang mit Giftschlangen war es ratsam, das Gegengift in der Nähe zu haben. Dieses Gegengift aber gab es nur, wenn der volle Kaufbetrag bereits bezahlt worden war und eine Extrazahlung von weiteren vierzig Prozent erfolgte. Das war Erpressung, aber keiner seiner Besteller würde zur Polizei gehen.

      Zwei von Raouls Kunden hatten sich für besonders schlau gehalten und beschlossen, auf das Gegengift zu verzichten. Beide starben innerhalb von Stunden, nachdem sie die bestellte Ware eingesetzt hatten.

      Grundsätzlich akzeptierte Raoul von seinen Kunden keine Vorschläge für den Ort der Übergabe. Er bestimmte die Spielregeln. Die Leute bekamen Anweisung, von wo sie die Ware abholen konnten.

      Die Lieferung ging diesmal nach Tirol und hier kannte Raoul einen Übergabeort in den Alpen, den er aus mehreren Gründen wählte: Erstens war er sehr sicher, zweitens bot ihm die Anreise ein gewisses Vergnügen und drittens hatte Raoul eine Schwäche für hohe Berge. Es war seine einzige Schwäche.

      Das Vergnügen bestand für ihn darin, auf seinem Motorrad die kurvige Bergstraße hinaufzufahren. Der Novembernebel blieb wie eine dicke Decke unter ihm im Tal hängen. Auf dem Berg schien die Sonne.

      Das Ziel war ein Würfel aus verspiegeltem Glas, in dem ein kleines Restaurant untergebracht war. Zu dieser Jahreszeit hatte es keinen Betrieb.

      Nachdem Raoul das Motorrad abgestellt hatte, holte er eine Drohne aus der Transportbox hinter dem Sitz. Er öffnete sein Handy und tippte auf eine App. So konnte er die Drohne vom Handy aus steuern und die Bilder sehen, die sie lieferte.

      Die Drohne besaß eine Infrarotkamera, die ihm anzeigte, ob sich irgendwo in der Umgebung Menschen versteckten. Mehrere Male ließ er die Drohne über dem Gipfelplateau kreisen, bis er Gewissheit hatte, allein zu sein. Die einzigen Lebewesen, die die Drohne zeigte, waren zwei Gämsen, die beim Lärm des Flugkörpers aus ihrem Versteck unter einem Felsvorsprung sprangen und die Flucht ergriffen.

      Auf dem Handy schaltete Raoul zur zweiten Funktion der Drohne: Sie konnte nun Kameras aufspüren. Aber auch dieser Rundflug blieb ohne Ergebnis. Er war unbeobachtet.

      Nachdem er die Drohne wieder weggepackt hatte, marschierte Raoul auf den spiegelnden Würfel zu. Er stand auf einer Ecke, was ihn noch spektakulärer aussehen ließ, fast wie das Spielzeug eines Riesen, das hier auf den Gipfel geworfen worden war.

      Raoul betrachtete sich in der Spiegelung der Würfelwände. Er war froh, dass das Visier des Helms sein Gesicht verdeckte. Die Lähmung des Gesichtsnervs auf einer Seite ließ Mundwinkel und Auge hängen. Es waren die letzten Folgen der Infektion, die er als Baby erlitten hatte.

      Unter der Jacke zog er eine kleine Metallkassette hervor. Sie war mit einem Zahlenschloss versperrt, dessen Code er später nach Erhalt des Geldes preisgeben würde. Er hob das Gitter des Schuhabstreifers vor dem Eingang und hinterlegte die flache Kassette in einer Aussparung an der Seite. Danach kehrte er zu seinem Motorrad zurück.

      Niemand würde jemals erfahren, wer der Erzeuger dieser Gifte war. Raoul hatte es immer geschafft, unerkannt zu bleiben. Es gab keine Möglichkeit, eine Spur zu ihm zurückzuverfolgen. Sobald er in sein Labor zurückgekehrt war, würde er den Besteller, den er gerade beliefert hatte, über die Notwendigkeit des Gegenmittels informieren. Es war in diesem Fall von noch größerer Wichtigkeit als sonst, weil sonst aus einem lebensrettenden Selbstmord ein bedauerlicher Todesfall werden konnte.

      Sein Handy meldete eine neue Nachricht. Die zweite Hälfte seines Honorars war soeben auf seinem Konto eingegangen. Raoul blickte sich prüfend nach allen Seiten um. Wieso wusste der Besteller, dass die Ware hinterlegt war? Er sah hinüber zu den Gipfeln der anderen Berge und ihm kam der Verdacht, es könnte ihn jemand mit einem sehr starken Fernrohr beobachten.

      Egal, dachte er. Die Nummerntafel seines Motorrades war aus dieser Entfernung sicherlich nicht zu lesen und von ihm selbst war nur der Lederanzug und der Helm zu sehen. Weil er gute Laune hatte, schickte er über einen verschlüsselten Kanal den Nummerncode für die Schatulle mit dem Gift. Wie immer fügte er die Warnung an, das Gift frühestens in drei Tagen einzusetzen.

      Es war Zeit, die Rückfahrt anzutreten. Raoul stieg auf das Motorrad, ließ den Motor an und sog noch einmal das traumhafte Bergpanorama mit den Augen ein. Er konnte sich an den schroffen Felsen, den schneebedeckten Kuppen und dem Licht der untergehenden Sonne nicht sattsehen.

      Schließlich riss er sich von dem Anblick los und fuhr die Bergstraße hinunter. Ihn überkam eine Fröhlichkeit, die ihm sonst unbekannt war. Raoul legte sich in die Kurven und genoss es, die Fliehkraft zu spüren. Die Waghalsigkeit versetzte ihm einen anregenden Nervenkitzel.

      Die nächste Rechtskurve tauchte vor ihm auf und Raoul senkte den Kopf wie ein angriffslustiger Stier. Er lenkte, das Motorrad gehorchte zuerst, rutschte dann aber seitlich unter ihm davon. Wasser rann über die Fahrbahn. Die Reifen schlitterten wie auf Eis. Raoul zog die Bremsen und versuchte, durch Verlagern seines Körpergewichts das Motorrad wieder unter Kontrolle zu bekommen. Die schwere Maschine raste unerbittlich auf die Leitplanke zu. Die Wucht des Zusammenstoßes schleuderte Raoul über die Planke. Dahinter fiel der Fels senkrecht in die Tiefe.

      Für Bruchteile von Sekunden schien die Welt stillzustehen. Alle Geräusche verstummten. Dann zog ihn die Schwerkraft nach unten. Er strampelte. Aus der Felswand ragten kleine Bergkiefern, deren Wurzeln fest in den Felsspalten verwachsen waren. Raoul versuchte, eine davon zu fassen zu bekommen.

      Der Sturz endete mit einem Aufschlag, der seinen Körper in einen einzigen glühenden Schmerz verwandelte.

      LADY ROSS

      »In einer Woche ist es also so weit.«

      Veronika, die gerade Suppe aus einer kleinen Terrine in den Teller schöpfte, hielt inne und sah in die stark geschminkten Augen ihres Gastes. Lady Ross besaß einen hypnotisierenden Blick, der immer Veronikas Zunge lockerte, selbst, wenn sie nichts erzählen wollte.

      »Ja, heute in einer Woche kommen die Hochzeitsgäste. Vielleicht reisen sie sogar schon am Donnerstag an.«

      Lady Ross riss die Arme auseinander und schlug Veronika dabei fast die Suppenschüssel aus den Händen. »Was für eine entzückende Idee, das Hotel in ein Hochzeitsschlösschen zu verwandeln.«

      Zum Glück konnte Veronika die Terrine samt Inhalt retten und auf den Tisch zurückstellen.

      »Verzeihen