Hieronymus Cardanus

Des Girolamo Cardano von Mailand eigene Lebensbeschreibung


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daran lebendig sein. Branda Porro70, mein Lehrer, schrieb meinen Sieg meinem Können und meiner größeren Begabung zu, meine Widersacher dem Teufel, andere – und diese Vermutung wird der Wahrheit näher kommen – einem besseren und wirksameren Grunde. Ich habe nämlich weder in Mailand, noch in Pavia oder in Bologna, auch nicht in Frankreich oder Deutschland in den letzten 23 Jahren jemanden gefunden, der sich mit mir in eine Auseinandersetzung oder in eine Disputation eingelassen hätte. Ich will damit nicht prahlen; ich glaube vielmehr, wenn ich ein Stein wäre, so wäre die Sache nicht anders. Denn es ist dies kein Verdienst meiner Veranlagung und meines glänzenden Geistes, sondern nur eine Folge der Unklarheit und Unwissenheit jener Leute, die sich mit mir messen wollten. Wenn der Tintenfisch den Delphin angreift und zu fliehen zwingt, so braucht das keine Heldentat des Tintenfisches zu sein. Solche Dinge sind uns vom Schicksal in die Wiege gelegt.

      Als Angelo Candiano71 sich einmal vor vielen Fachleuten über einen Gegenstand geäußert und ich mich bereiterklärt hatte, ihm zu erwidern, schämte er sich nicht, zu versichern: »Ich habe von vornherein erklärt, mich über diese Sache äußern, nicht aber mit Euch mich auseinandersetzen zu wollen.« Und das war ein ganz vortrefflicher Arzt, der in Mailand bei unserem Fürsten72 und bei der Königin von Ungarn und Regentin der Niederlande die größte Rolle spielte, ein Mann von allerhöchstem Ansehen und, wenn dies etwas zur Sache tut, von großem Reichtum. Und wenn ich dann in solchen Fällen auf meine ehrliche Schlichtheit und auf meine mangelnden Kenntnisse hinwies, sagten viele: »In diesem einen Punkte wissen wir, dass du lügst und dass du die größten Kenntnisse besitzest; den anderen Punkt betreffend aber sind wir uns nicht klar, weil wir nicht sehen, wo hinaus das mit deiner Schlichtheit will, vor allem bei einem Mann, der, wie du, so oft erklärt hat, nie zu lügen. Und was deine unnachahmliche Art zu dozieren betrifft, so hat längst jedes Urteil, das im Positiv steht, wie die Grammatiker sagen, aufgehört uns wunderzunehmen, da uns ja selbst ein im Superlativ gesetztes Lob vertraut geworden ist. Zwar hat niemand das Verlangen geäußert, eine Probe davon zu hören; aber wenn auch eine dunkle Wolke sie verhängt, so hört die Sonne doch nicht auf zu sein. Und du brauchst dich auch nicht darob zu grämen, dass du so viele herrliche Lichter im stillen Schlafzimmer hast, die niemand von denen sehen will, die draußen sind. Denn es steht nicht zu fürchten, dass eine so göttliche Sache zugrunde gehe. Die Afrikaner von Phloria73 beten die aufgehende Sonne an, die von Garama74 verfluchen sie. Über allem thront nicht nur die göttliche Vorsehung, sondern strahlt auch die ewige Herrlichkeit.« – Von der Gabe des freien Vortrags habe ich nicht nur selbst immer rühmlichen Gebrauch gemacht, sondern habe auch andere darin unterrichtet. Wenn ich also auch hierin als so bedeutend erscheinen konnte, so besaß ich doch keinerlei gefälligen Ton in der Sprechweise, noch auch irgendwelche eigentliche Fertigkeit im Vortrag selbst; hatte ich einmal auf der einen Seite ein Mehr, so durfte man glauben, dass mir dafür ebenso viel auf der anderen Seite entzogen worden sei. Im Disputieren freilich war ich von solcher Gewandtheit und Schärfe, dass alle mich bewunderten und jeder einer Probe aus dem Wege ging. Weshalb ich auch lange Zeit ohne solche Plackerei leben durfte. Nur zwei Fälle mussten meine Gegner wider alle Hoffnung erleben. Das eine Mal war es in Pavia. Branda Porro, der einst mein Lehrer in der Philosophie gewesen war, hatte sich in die öffentliche Disputation eingemischt, die ich mit Camuzio über ein Thema aus der Philosophie hatte. Meine Gegner lockten mich nämlich häufig auf philosophischen Boden, weil sie auf dem Gebiet der Medizin keine Hoffnung hatten, Lorbeern gegen mich zu sammeln. Branda führte damals eine Stelle aus Aristoteles an, und als er den Text zitiert hatte, sagte ich: »Gib acht, nach dem Wort „weiß“ fehlt ein „nicht“; in Wahrheit spricht der ganze Satz gegen dich.« Darauf rief Branda, das könne nicht sein. Ich hatte wie gewöhnlich einen Schnupfen, schneuzte mich und widersprach in aller Ruhe, bis Branda wütend nach dem Kodex schickte. Ich verlange ihn, er lässt ihn mir geben, und ich lese den Text, wie er dasteht. Branda glaubt, ich wolle ihn hintergehen, reißt mir das Buch aus den Händen, schreit, ich wolle die Zuhörer täuschen, und fängt selbst zu lesen an. Er kommt zu dem betreffenden Wort, liest es, schweigt, alles ist überrascht, und aller Anwesenden Augen sind bewundernd auf mich gerichtet. Ein Zufall wollte es, dass Branda ein paar Tage darauf nach Mailand ging; dem Senat der dortigen Akademie war die Sache schon geschrieben worden, und einige fragten ihn nun, ob es wirklich wahr sei. Branda, ein ehrlicher und wackerer Mann, hat gewiss geantwortet: »Nur zu wahr; ich glaube, dass ich damals betrunken war.« Und die Herren vom Senat verzogen den Mund und schwiegen.

      Der andere Fall spielte zu Bologna mit Andrea Fracanzano, dem dortigen ersten Professor der praktischen Medizin. Als dieser in seinen Ausführungen auf den Weg zu sprechen kam, den die Galle zum Magen nimmt, zitierte er vor der ganzen Akademie – man hatte gerade eine anatomische Vorführung – eine griechische Stelle. Ich sagte: »Ihr lasst ein ού75 aus.« Worauf er entgegnete, das sei nicht wahr. Ich, in aller Ruhe, beharre darauf, und einige Schüler rufen, man solle das Buch holen. Er schickt lächelnd darnach, es wird sofort gebracht, er liest, findet, dass ich bis aufs Haar recht hatte, er schweigt, staunt, sieht mich bewundernd an. Noch mehr freilich taten dies die Schüler, die mich damals zu diesem Zweck mit Gewalt in den Hörsaal geschleppt hatten. Fracanzano aber floh von diesem Tag an jedes Zusammentreffen mit mir, so zwar, dass er den Diener bat, ihn darauf aufmerksam zu machen, wenn ich käme. Und dann bog er aus, um mir ja nie zu begegnen. Und als ihn die Studenten einmal mit List in den gefüllten Hörsaal der Anatomie führten, machte er rasch kehrt, verwickelte sich in seinen Mantel und fiel zu Boden, worauf alle Anwesenden staunend den Kopf schüttelten. Er selbst aber zog bald darauf von Bologna fort, obwohl er noch für mehrere Jahre dort angestellt war.

      DREIZEHNTES KAPITEL

      Mein Charakter, geistige Mängel und Schwächen

      Ist es schon an sich schwer, über dieses Thema zu schreiben, so noch viel mehr, wenn man bedenkt, dass die Menschen, die sonst wohl Selbstbiografien zu lesen pflegen, nicht gewohnt sind, darin eine ehrliche, aufrichtige Schilderung zu hören, wie ich sie hier geben will. Die einen, wie etwa Antoninus76, äußern sich darüber, wie sie hätten sein sollen; andere, wie Flavius Josephus77, berichten alles wahrheitsgetreu bis auf ihre eigenen Fehler, die sie unterschlagen. Wir aber wollen in dieser Sache der Wahrheit völlig zu Willen sein, obschon wir wohl wissen, dass, wer in sittlichen Dingen sich verfehlt, nicht, wie bei anderen Fehlern, Entschuldigung findet. Wer aber konnte mich zu dieser Aufrichtigkeit zwingen? Bin ich also nicht der eine von den zehn geheilten Aussätzigen, der dankbar zum Herrn zurückkehrte?

      Ärzte und Astrologen sehen die natürlichen Charaktereigenschaften in den angeborenen Grundformen der Veranlagung begründet, die Formen der Charakterbildung dagegen von Erziehung, geistiger Beschäftigung und gesellschaftlichem Verkehr beeinflusst. Alles dies trifft nun zwar bei allen Menschen zu, doch weisen die einzelnen Altersstufen spezifische Unterschiede auf, und aus den gleichen äußeren Anlässen entstehen oft die allerverschiedensten Folgen. Weshalb in diesen Dingen Scheidung und Auswahl nötig ist. Ich will nun also vor allem von diesen wesentlichen Charaktereigenschaften sprechen, soweit eben jenes griechische γνωδτ σέαυιόν78 von mir gilt. Über meinen natürlichen Charakter bin ich mir durchaus klar geworden: Ich bin heftig von Temperament, naiv, der Sinnlichkeit ergeben. Und aus diesen Eigenschaften, gleichwie aus Prämissen, folgen die weiteren: Grausamkeit, hartnäckige Streitsucht, eine gewisse Rauheit des Charakters, Unvorsichtigkeit, Jähzorn und eine Rachgier, die das Maß meiner Kräfte und Mittel weit übersteigt, jedenfalls aber ein stets zur Vergeltung geneigter Wille, der dem alten Worte huldigte, das so viele – mit dem Munde wenigstens – verdammen:

      »Süßeres Gut noch als selbst mein Leben dünkt mir die Rache.79«

      Im Allgemeinen habe ich nie gewollt, dass der berühmte Satz an mir seine Gültigkeit verliere: »Unsere Natur ist geneigt zum Bösen.« Doch bin ich ein wahrheitsliebender Mensch, treu dankbar für empfangene Wohltaten, voll Gerechtigkeitsgefühl, anhänglich an die Meinigen, ein Verächter des Geldes, beseelt von dem Wunsche eines ruhmvollen Fortlebens in der Nachwelt. Stets gewohnt, Dinge von mittelmäßigem, geschweige denn von geringem Werte zu missachten, pflege ich doch keinerlei Gelegenheit, die sich mir bietet, geringschätzig zu übersehen, wohl wissend, von welch großer Bedeutung oft die kleinsten Dinge sind. Zwar bin ich von Natur zu jedem Laster und zu jedem Bösen geneigt, doch