Regula Kunz

Schlüsselsituationen der Sozialen Arbeit


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      Im Wort begegnen wir zwei Dimensionen: der »Reflexion« und der »Aktion« in so radikaler Interaktion, dass, wenn eines auch nur teilweise geopfert wird, das andere unmittelbar leidet. Es gibt kein wirkliches Wort, das nicht gleichzeitig Praxis wäre. Ein wirkliches Wort sagen heißt daher die Welt verändern.

      Paulo Freire

      Prolog

      Die Welt als Ganzes werden wir mit diesem Buch nicht verändern, aber uns hat es verändert. Die Vorstellung, dass es möglich ist, die scheinbaren Gegensätze von Theorie und Praxis zusammenzubringen, war der Motor zur Entstehung des Buches. Von Studierenden und Ausbildenden in der Praxis der Sozialen Arbeit und immer mehr auch von wissenschaftlich Tätigen und Dozierenden hören wir, dass unser Modell Aufmerksamkeit erregt, Interesse weckt.

      In diesem Buch werden wir auf verschiedene Ansätze von Lernen hinweisen. Dabei fällt auf, dass im Kontext von lebenslangem Lernen die Unterschiede zwischen formellem und informellem, zwischen privatem und beruflichem Lernen oder zwischen Lernen an der Hochschule und Lernen in der Praxis sich aufzulösen beginnen.

      Bei der Entstehung des Buches hat der Begriff der Community of Practice (CoP, Plural CoPs) eine zunehmend wichtigere Bedeutung für uns bekommen. Man könnte ihn zwar mit »Praxisgemeinschaft« übersetzen. Da damit im Deutschen aber eher ein Zusammenschluss von Partnern assoziiert wird, zum Beispiel in Gemeinschaftspraxen von Hausärztinnen oder etwa von Physiotherapeuten, verwenden wir den englischen Originalbegriff.

      Unsere Arbeitsweise war gekennzeichnet von gemeinsamem Lernen. Sie war intensiv, partizipativ, aushandelnd, ständig erprobend und reflektierend. Wir haben Erkenntnisse immer wieder infrage gestellt und versucht, den Dingen auf den Grund zu gehen. Wir bemühten uns darum, die Theorien und Modelle, mit denen wir uns im Laufe der Jahre beschäftigten, in ihrer Eigenlogik zu verstehen und gleichzeitig für die Beantwortung unserer Fragen zu nutzen und zueinander in Beziehung zu setzen. Dieser Diskurs und das Ringen um Sinn sind zum Fundament unseres Ansatzes der Arbeit mit Schlüsselsituationen geworden. Als Team haben wir mit der Zeit unser eigenes Verständnis einer CoP entwickelt. Wir verstehen Wissenschaft und Praxis, Wissen und Handeln, Sein und Werden in Anlehnung an Lave und Wenger (1991) und Wenger (1998) nicht als Gegensätze, sondern als Dualität. All diese Aspekte bedingen sich gegenseitig.

      Die Ideen, die wir in diesem Buch in Worte gefasst haben, entstanden in enger Kooperation und gemeinsamer Reflexion. Unsere unterschiedlichen Erfahrungen, Wissensbestände und Motivationen haben die Zusammenarbeit in der »Arbeitsgruppe Schlüsselsituationen« geprägt. In einem spannenden Prozess, in dem wir immer wieder die Bedeutung von Theorien für die Gestaltung der Praxis-Theorie-Relationierung aushandelten, haben wir uns professionell und persönlich verändert. Im gemeinsamen Handeln entwickelten wir mit der Zeit Erkenntnisse, die wir für die Entwicklung des Modells »Schlüsselsituationen in der Sozialen Arbeit« nutzen konnten. Über unsere Motivation an der Sache, unsere Neugierde und unser Engagement haben wir eine Intensität und Tiefe in unseren fachlichen und persönlichen Auseinandersetzungen entwickelt, die für uns alle neu war. Immer wieder waren wir erstaunt, wie Türen, die fest verschlossen schienen, auf einmal aufgingen, wie sich kreative Lösungen für objektiv scheinbar nicht lösbare Aspekte auftaten und welche Zugkraft sich entfaltete, die um ein Vielfaches unsere addierten Einzelkräfte überstieg. Wir lernten zu staunen über das, was sich einstellt, wenn man sich auf den Strom der Veränderung einlässt, statt gegen ihn zu schwimmen. Je tiefer wir in unserem Arbeitsprozess vorstießen, desto mehr Ideen entstanden und desto deutlicher kristallisierten sich Visionen zur Weiterentwicklung heraus. Sie waren ein natürliches Resultat dessen, was in unserer CoP geschah. Die Entwicklung von einer Arbeitsgruppe hin zu einer CoP wollen wir in diesem Prolog darstellen. Wie beim Modell der »Schlüsselsituationen« selbst gehen wir von einer Geschichte aus und nehmen diese als Ausgangspunkt, um exemplarisch die Bedeutung einer CoP zu beleuchten.

      Am Anfang unserer Beschäftigung mit dem Ansatz des situationsbezogenen Lernens stand die im Jahr 2005 an der Vorgängerinstitution der heutigen Hochschule für Soziale Arbeit in Basel durchgeführte Weiterentwicklung des damaligen Curriculums. Nach der Fusion zur Fachhochschule Nordwestschweiz wurde dieser Prozess 2008, nach einer fusionsbedingten Unterbrechung[2], weiterverfolgt. Die Weiterentwicklung des Modells »Schlüsselsituationen« wurde in einer Arbeitsgruppe vorangetrieben mit dem Ziel, es für die Lehre in den Wissens- und Kompetenzintegrationsmodulen sowie in der Praxisausbildung nutzbar zu machen. Anfänglich nannte sich diese Gruppe »AG Konkrete Kompetenzen« in Anlehnung an Kaiser (2005b). Die Arbeitsgruppe präsentierte ihre Ideen und die zugrunde liegenden Theorien in verschiedenen Fachstellen innerhalb der Hochschule für Soziale Arbeit. Im Frühling 2009 entschieden wir, anstelle des Begriffs der »konkreten Kompetenzen« neu den der »Schlüsselsituationen« zu verwenden, und zwar im Sinne von zentralen Situationen aus dem Berufsalltag.

      Durch das Heraustragen der Ideen in andere Gremien und in informellen Pausengesprächen entstand ein Austausch zu möglichen theoretischen Anknüpfungspunkten des Modells »Schlüsselsituationen«. Schöns (1983, 1987) »reflective practice« und Laves und Wengers (1991) »situated learning« wurden diskutiert. Durch diese gemeinsamen Gedankengänge wurde das Interesse von anderen geweckt, und die Arbeitsgruppe vergrößerte sich im Frühling 2010. Dies führte zu einer Erweiterung der Perspektiven.

      Erstmals wurden Veranstaltungen in der Lehre nach dem sich entwickelnden Modell durchgeführt und wurde gleichzeitig die Literatur aufgearbeitet. Der Arbeitsgruppe gehörten nun am Rande auch zwei Professionelle der Sozialen Arbeit als externe Lehrbeauftragte und andere Dozierende an, die alle in der Lehre tätig waren.

      Im Herbst 2010 begann eine intensive theoretische Beschäftigung mit den Begriffen »Lernen«, Community of Practice, »Handeln« und »Praxis-Theorie-Relationierung«. Wir gingen von uns bereits bekannten Definitionen und Theorien aus. Erklärtes Ziel dabei war, Lernen im professionellen Kontext erklären zu können. Wir wollten eine theoretisch fundierte Aufbereitung dieser Ansätze vorantreiben. Die Hauptbezugspunkte waren einerseits die »konkreten Kompetenzen« von Kaiser (2005b) und andererseits das »situierte Lernen«. Wir wollten Lernen allerdings umfassend, aus verschiedenen theoretischen Perspektiven (Illeris, 2010; Kolb, 1993; Jarvis, 2009; Schön, 1983 und 1987; Lave & Wenger, 1991; Wenger, 1998; Kaiser, 2005a und 2005b) verstehen und eine Arbeitsdefinition von Lernen für uns entwickeln. Außerdem fragten wir uns, wie diese Theorien mit dem Modell der Schlüsselsituationen in Verbindung gebracht werden konnten.

      Die Erfahrungen in der Lehre, der Austausch mit den involvierten Studierenden und Lehrbeauftragten und die Auseinandersetzung mit den Theorien führten zu verschiedenen Anpassungen des Modells. In den Modulen zur Wissensintegration und in der Weiterbildung für Praxisbildende konnten wir die Erkenntnisse aus unserer Arbeitsgruppe, die sich im Laufe der Zeit zu einer CoP entwickelte, einspeisen, konnten Anpassungen vornehmen und Neuerungen ausprobieren. Die regelmäßig durchgeführten Evaluationen gaben uns wichtige Hinweise, wie das von uns im Laufe der Zeit entwickelte Lernarrangement von den Studierenden aufgenommen wurde und welche Fortschritte sie damit machten.

      Trotzdem konnten wir noch kaum eine Verbindung von situated learning mit Schlüsselsituationen herleiten, auch die Verbindung zu den Communities of Practice war noch zu wenig deutlich. In einer dieser Sitzungen entstand zum ersten Mal die Idee einer »Internetplattform« und das Bild einer virtuellen CoP, in der Schlüsselsituationen abgebildet und bearbeitet werden. Diese »Leitbilder« halfen als Vorstellungskraft, die Vision der Arbeit mit und den Diskurs über Schlüsselsituationen zu entwickeln, und trieben uns in unserer Arbeit immer wieder an.

      In der Vorbereitung auf die Veranstaltungen im Herbst 2011 erstellten wir einen Reader für die Studierenden und die Lehrbeauftragten. Dazu setzten wir uns gezielt mit der sozialen Theorie des Lernens nach Wenger (1998) auseinander. Textvorlagen wurden produziert, diskutiert, verworfen und wieder neu gestaltet. Die abstrakte Ebene des Originals stellte immer wieder eine intellektuelle Herausforderung dar. Im Bemühen, das Modell zu verstehen, stellten wir fest, dass die soziokulturelle Herkunft des Konzeptes wahrscheinlich maßgebend für dessen Verständnis ist. Während die in der deutschen