Regula Kunz

Schlüsselsituationen der Sozialen Arbeit


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von Anfang an den Fokus auf soziale Gemeinschaften in Anlehnung an Giddens (1997, Konstitution der Gesellschaft) und Suchman (1987, Plans and situated actions, eine ethnografische Studie zur Firma Xerox). Daraus ist im englischen Sprachraum das Konzept des situierten Lernens entstanden. Diese beiden Traditionen von situiertem Lernen trafen nun in unserer CoP aufeinander.

      Herausfordernd gestaltete sich auch die sprachliche Bearbeitung. An der Hochschule für Soziale Arbeit (HSA) der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) werden zum Beispiel zentrale Begriffe wie Verstehen und Deuten verwendet, die ihre Wurzeln in der deutschen Hermeneutik haben. Auf den ersten Blick schienen sie als Übersetzung von »negotiation of meaning« (deuten) und »experience of meaning« (verstehen) (Wenger, 1998) durchaus tauglich. bei genauerem Hinsehen stellten wir aber fest, dass »verstehen« und »deuten« dem Charakter der Erfahrung von Menschen als sozialen Wesen – ein Aspekt, den Lave und Wenger (1991) immer wieder betonen – nicht nahe genug kommen. Daher schien die Wendung »Aushandeln von Bedeutung« passender. Darin kommt der soziale Aspekt besser zum Ausdruck.

      Wir entdeckten auch Klärungsbedarf betreffend die Situiertheit von Wissen. Wie Lave und Wenger (1991) erklären, ist situiertes Wissen nicht von einer Situation in eine andere übertragbar. Wir fragten uns, wie radikal sie das meinten. Diese zentrale Frage zur Konzeption von Schlüsselsituationen mussten wir beantworten können. Ließen sich Analogieschlüsse – wie wir sie im Kurs »Schlüsselsituationen« anstreben – überhaupt mit der sozialen Theorie des Lernens erklären? Inwiefern kann also Wissen, wie Dreyfus und Dreyfus (1987) dies in der Expertinnen- und Expertenforschung beschreiben, via Geschichten oder Analogien zu bestimmten Situationen in andere Situationen übertragen werden? Diese Fragen wollten wir in einem nächsten Schritt klären.

      Weitere Fragen betrafen die Konsequenzen der Theorie für die Lernarrangements der Studierenden: Inwiefern können wir im Kurs »Schlüsselsituationen« von CoPs sprechen? Falls die Kleingruppen als solche verstanden werden können, stellt sich die Frage, inwiefern wir diese gestalten und fördern können. Unsere Antworten auf diese Fragen werden im Buch besprochen.

      Die Fortschritte bei der Umsetzung der Lernplattform regte unsere Vorstellungskraft weiter an. Wir stellen uns vor, dass Ausbildende und ehemalige Studierende, die mit dem Modell der Schlüsselsituationen vertraut sind, diese in Praxis und Ausbildung weiterhin nutzen. So könnte sich die Plattform auch in Zukunft als Ressource und das Reflexionsmodell als wirkungsvolles Arbeitsinstrument erweisen.

      In den teilweise ganztägigen Sitzungen kamen wir der Sache langsam auf die Spur, fanden Antworten auf die oben formulierten Fragen und hielten unsere Erkenntnisse in unserem Reader fest. Im Herbst 2011 passten wir das Programm für die Veranstaltung aufgrund dieser Erkenntnisse und neuer Vorgaben an und trafen Absprachen mit den involvierten Dozierenden und externen Lehrbeauftragten.

      Gegen Ende 2011 waren wir dann so weit, dass wir mit unserem Modell an eine breitere Öffentlichkeit treten konnten, und konkretisierten das Vorgehen hinsichtlich von Publikationen und Teilnahme an einer internationalen Tagung.

      In der Bearbeitung von Reader und Publikation setzten wir die Diskussionen fort und schärften unser Verständnis. Wir begannen, zwei Ausrichtungen des Modells »Schlüsselsituationen« zu differenzieren: zum einen die Arbeit mit Schlüsselsituationen als Modell zur Reflexion, zum zweiten den Diskurs über Schlüsselsituationen als Systematik für das Wissensmanagement und für einen Fachdiskurs zu professioneller Praxis in der Sozialen Arbeit. Schließlich veröffentlichten wir unser Modell erstmals im European Journal of Social Education ­(Staempfli, Kunz & Tov, 2012) und stellten es in zwei Workshops auf einer europäischen Tagung in Marseille vor.

      Im Frühling 2012 begannen sich einschneidende Veränderungen abzuzeichnen. Zwei der drei Kernmitglieder der CoP »Schlüsselsituationen« kündigten an, im Verlaufe des Jahres die Hochschule für Soziale Arbeit FHNW in Richtung Israel und England zu verlassen. Trotzdem arbeiteten wir ab Herbst 2012 an diesem Buch weiter und vermochten das Projekt über die geografischen Grenzen hinweg weiterzuführen. Wie sich die weitere Zusammenarbeit entwickeln wird, ist allerdings noch offen, wobei zwei geplante Dissertationsvorhaben sich explizit dem Modell »Schlüsselsituationen« widmen.

      Mit dieser Geschichte unserer CoP möchten wir verdeutlichen, dass die Ideen in diesem Buch, wie es Freire im Motto zu diesem Teil über das »Wort« schreibt, im Zusammenspiel von Reflexion und Aktion entstanden sind. Ganz im Sinne Freires haben wir diese radikale Interaktion, die uns und darüber unsere Welt verändert hat, erfahren. Im stetigen Wechselspiel von Ausprobieren und Reflektieren haben wir eine Veränderung der Welt im Kleinen erreicht.

      Nur durch dieses reflexive Zusammenspiel von Handeln und Wissen gelingt die Relationierung von Theorie und Praxis. Sie kann weder rein theoretisch noch rein praktisch gestaltet werden. Professionalität kann in unserem Verständnis durch den Diskurs über die Bedeutung von Wissen und Praxis (Handeln) gefördert werden. Wir möchten die Leserinnen und Leser ermutigen, selbst auf die Suche nach Antworten zu gehen und dabei auch Neues auszuprobieren. Wir hoffen, dass die im Buch enthaltenen Ideen dazu anregen.

      The case is not in the book

      Donald A. Schön

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      Einleitung

       Der einleitende Teil gibt eine erste Übersicht zum Modell »Schlüsselsituationen« mit den beiden Aspekten Arbeit mit und Diskurs über Schlüsselsituationen. Wir verorten das Modell im Kontext des Diskurses zur Relationierung von Theorie und Praxis und vor dem Hintergrund der Hochschulentwicklung. Schließlich geben wir eine Übersicht zu den einzelnen Teilen des Buches und Lesehinweise.

      Überblick

      Eine grundlegende Frage jeder Profession und somit auch der Sozialen Arbeit ist, was Professionalität ausmacht und wie diese gefördert werden kann. Wir geben in diesem Buch mit dem Modell »Schlüsselsituationen der Sozialen Arbeit« Antworten auf diese Fragen.

      Der Berufskodex der Sozialen Arbeit verpflichtet die Profession, ihre Erklärungen, Methoden und Vorgehensweisen auf wissenschaftlich fundierte Grundlagen zu stellen (AvenirSocial, 2010; siehe auch www.avenirsocial.ch/cm_data/EthikprinzSozArbeitIFSW.pdf). Gleichzeitig sind Entscheidungen nach Abwägen aufgrund von ethischen Grundsätzen zu fällen. »Professionell handeln« bedeutet demnach, wissens- und wertebasiert zu handeln. Im Reflexionsmodell »Arbeit mit Schlüsselsituationen« streben wir beides an, indem die Verbindung von Wissen und Handeln anhand von Situationen der Sozialen Arbeit unter Berücksichtigung von situativen Kontexten geschieht und die Situation mit auf Werten basierenden Qualitätsstandards reflektiert wird. Dabei wird die Bedeutung von Theorie und Praxis in Communities of Practice (CoPs) ausgehandelt. Der »Arbeit mit Schlüsselsituationen« ist der Hauptteil dieses Buches gewidmet.

      Wir wagen aber auch einen Blick in die Zukunft, denn es reicht nicht aus, wenn Professionelle der Sozialen Arbeit situativ reflektieren. Der Berufskodex weist nämlich auch darauf hin, dass Wissen zu teilen und hinsichtlich der Qualität zu überprüfen ist (AvenirSocial, 2010). Wie dies geschehen kann, stellen wir anhand unserer Perspektive einer virtuellen CoP rund um eine offene Plattform vor. Darauf wird das kasuistische Wissen, das in Schlüsselsituationen dokumentiert wird, veröffentlicht. Die Plattform ermöglicht damit einen fachlichen Diskurs über Schlüsselsituationen und trägt so durch die Relationierung von Wissen und Handeln über die Grenzen von scientific und professional communities hinaus zur Professionalisierung der Sozialen Arbeit bei.

      Bevor wir unser Modell vorstellen, wollen wir in dieser Einleitung auf den gegenwärtigen Diskurs zur Relationierung von Theorie und Praxis als konstitutives Problem der Profession eingehen. Wir zeigen die Entwicklungen der Hochschullandschaft auf und illustrieren, wie diese die Entstehung des Modells »Schlüsselsituationen« beeinflusst haben. Schließlich stellen wir die einzelnen Teile des Buches kurz vor.

      Relationierung von Theorie und Praxis

      Ganz im Sinne unseres Modells, bei dem wir von erlebten Situationen ausgehen, wollen wir