Orientierung in der Theorie-Praxis-Relationierung bietet neben den Arbeitsschritten des Reflexionsprozesses auch eine empirisch gewonnene Sammlung von relevanten Situationen der Sozialen Arbeit, eben Schlüsselsituationen. Sie erheben den Anspruch, das Berufsfeld der Sozialen Arbeit abzudecken, und bilden primär das Kerngeschäft der Sozialen Arbeit ab, nämlich die auf Klientensysteme bezogene Arbeit in den Feldern der Sozialarbeit, Sozialpädagogik, Jugend- und Gemeinwesenarbeit. Sie schließen dabei Leitungsfunktionen und andere erweiterte Funktionen und Spezialisierungen aus, wie sie beispielsweise auf wissenschaftlicher oder planerischer Ebene vorkommen. Das kasuistische Wissen dieser Schlüsselsituationen veröffentlichen wir auf einer Plattform, um einen fachlichen Diskurs zu initiieren. Dieser soll uns ermöglichen, uns über die Grenzen von scientific und professional community hinweg über die Bedeutung von professionellem konkretem wissens- und wertebasiertem Handeln zu verständigen.
Entstehung und Ursprünge des Modells »Schlüsselsituationen«
Das vorliegende Buch ist in seinen Anfängen der leidvollen Erfahrung geschuldet, dass die Bologna-Reform, die 1999 begann und bis 2020 abgeschlossen sein soll (Europäische Union [EU], 2010), eine strukturelle und keine inhaltliche Studienreform darstellt. Den Architekten und Architektinnen dieser Reform ging es primär darum, europäisch vergleichbare Abschlüsse zu schaffen, die Mobilität der Studierenden und Lehrenden zu steigern und um ausweisbare, quantifizierbare Nachweise von im Studium erbrachten Leistungen zu erhalten. Die mit der Modularisierung einhergehende Kompetenzorientierung bildet zwar eine Bezugsgröße im Hinblick auf den »Outcome«, doch lassen sich auf der inhaltlich-fachlichen Ebene daraus keine eindeutigen Aussagen ableiten.
In einer Evaluation des neuen, Bologna-tauglichen Curriculums 2002/2003 an der Vorgängerinstitution der Hochschule für Soziale Arbeit in Basel klagten die Studierenden über einen mangelnden »roten Faden« im Studium sowie über Fragmentierung des Wissens einerseits und Überschneidungen von Inhalten und Redundanzen andererseits. Es wurde deshalb nach neuen Ansätzen gesucht, um trotz Modularisierung die Modulinhalte besser aufeinander zu beziehen und auch das Postulat der Kompetenzorientierung einzulösen. Gleichzeitig gab es aus der Praxis der Sozialen Arbeit Stimmen, wie beispielweise die der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS, 2006), welche die Berufsbefähigung der FH- Studienabgängerinnen und -abgänger bemängelten und das Kompetenzprofil oder zumindest dessen Umsetzung infrage stellten.
Es wurde nun nach einem Ansatz gesucht, um empirisch zu erfassen, was die Praxis bezüglich Berufsbefähigung erwartet, und mit dem die Probleme der Modularisierung gelöst werden können. Das aus den USA stammende, langjährig erprobte Verfahren DACUM (Developing A Curriculum) nach Norton (1997) schien ein nützliches Verfahren, um die Anforderungen an die Berufstätigen in der Praxis zu beschreiben. Dabei handelt es sich um einen innovativen Ansatz zur Analyse von Berufen mit dem Ziel, die Tätigkeiten herauszufinden, die in einem bestimmten Beruf auszuüben sind, beziehungsweise auf deren Erwerb hin im Laufe der Ausbildung innerhalb eines Curriculums ausgebildet werden soll. Hierzu werden die für einen Beruf spezifischen Verantwortungsbereiche sowie die dazugehörigen Tätigkeiten und erforderlichen Skills beschrieben. Das Verfahren selbst wird in Form eines strukturierten Fokusgruppenansatzes in mehreren Workshops durchgeführt (Tippelt & Edelmann, 2007).
2005 wurde in Basel ein an DACUM angelehntes modifiziertes Verfahren (Kaiser, 2005a und b) zur Erhebung der professionellen Situationen durchgeführt (vgl. Teil 6 des Buches). Das Ergebnis dieses Prozesses bestand in der Entwicklung von etwa 130 Situationsbeschreibungen, die das Berufsfeld der Sozialen Arbeit abbilden (Kunz & Tov, 2009). Im Rahmen einer hochschulinternen Weiterbildung mit externen Fachleuten wurden Grundfragen und die Weiterentwicklung vertieft diskutiert. Auf dieser Grundlage haben wir die Nutzbarmachung der Situationsbeschreibungen für die Lehre und Praxisausbildung sukzessive vorangetrieben.
Inzwischen können wir ein erprobtes Modell »Schlüsselsituationen« vorlegen. Es ist ein eigenständiger, neuartiger Ansatz zur Theorie-Praxis-Relationierung, der von den Studierenden in einer CoP weitgehend selbstständig umgesetzt wird und dessen Kernelemente Reflexion, Diskurs und Prozesshaftigkeit sind.
Wir haben das Buch geschrieben, um unser Modell der professional und scientific community innerhalb der Sozialen Arbeit zu erschließen. Es soll ermutigen, einen neuen Ansatz zu erproben, der die Situation im Fokus hat. Zentral dabei sind die Interaktionsdynamiken zwischen Professionellen und Klientinnen und Klienten während einer zeitlich eingegrenzten Handlungssituation, in der eine bestimmte Herausforderung zu meistern ist. In der Situation spielt auch der institutionelle Kontext, vor dessen Hintergrund der Professionelle agiert, eine maßgebliche Rolle.
Mithilfe des Buches soll es zum einen möglich sein, mit dem Modell im Lehr- und Ausbildungskontext zu arbeiten, wozu die Arbeitsschritte detailliert beschrieben werden (Teil 4). Zum andern werden die bearbeiteten Schlüsselsituationsbeispiele auf einer Plattform veröffentlicht, um einen Fachdiskurs über Professionalität auf der konkreten Handlungsebene zu initiieren.
Alle Arbeitsmaterialien, wie Veranstaltungsprogramme, Literatur zum Thema, PowerPoint-Präsentationen und Arbeitsanleitungen, sind ebenfalls auf der Plattform zu finden und können heruntergeladen werden. Als Zielpublikum sollen sich Dozierende, Praxisbildende, Studierende sowie alle, die als Professionelle in der Sozialen Arbeit oder in verwandten Bereichen engagiert sind, angesprochen fühlen.
Lesehinweise zu den Teilen des Buches
Das Buch besteht aus sieben Teilen. Nachdem in dieser Einleitung der Ursprung des Modells »Schlüsselsituationen« hergeleitet und im Zusammenhang mit dem Diskurs zur Relationierung von Theorie und Praxis verortet wurde, liefert der zweite Teil eine Definition des Begriffs Schlüsselsituationen im Kontext von Professionalität. Dazu werden die Elemente einer Schlüsselsituation vorgestellt und anhand eines Beispiels veranschaulicht. Die professionalitätsfördernden Aspekte des Modells werden diskutiert, und es wird aufgezeigt, wie die Arbeit mit und der Diskurs über Schlüsselsituationen professionelle Handlungsfähigkeit auf individueller und gemeinschaftlicher Ebene begünstigt. Im dritten Teil wird die theoretische Fundierung des Modells »Schlüsselsituationen« vorgestellt, ebenso die daraus abgeleiteten Grundsätze des Lernens. Diese bilden die Grundlage für Teil 4, in dem der Reflexionsprozess Arbeit mit Schlüsselsituationen ausführlich geschildert wird. Die einzelnen Prozessschritte werden genau beschrieben, und es wird erörtert, wie diese auf unterschiedliche Art methodisch-didaktisch umgesetzt werden können. Die Evaluationsergebnisse zur Umsetzung der Arbeit mit Schlüsselsituationen werden im fünften Teil dargelegt. Danach wird ein visionärer Blick in die Zukunft gewagt, indem die Grundidee eines Fachdiskurses und einer Wissenssystematik im sechsten Teil, Diskurs über Schlüsselsituationen, präsentiert werden. Grundlage hierfür ist die empirisch gewonnene Sammlung der Schlüsselsituationen. Schließlich werden im Fazit und Ausblick Fragen der Übertragbarkeit des Modells in andere Kontexte diskutiert. Der Epilog schließt den beim Prolog aufgespannten Bogen mit einer Reflexion unseres Prozesses in der CoP.
Wir hoffen, dass sich die Leserinnen und Leser sowohl von den praktischen als auch von den theoretischen Teilen des Buches packen lassen. Wer aber das Buch nicht von Anfang bis zum Ende durchgehen mag, kann sich auf einzelne Teile konzentrieren. Wer sich vor allem für die theoretischen Hintergründe interessiert, findet diese in den Teilen 2 und 3. Wer andererseits eine Übersicht über die praktische Umsetzung sucht, nimmt den vierten Teil, in dem die einzelnen Schritte der Arbeit mit Schlüsselsituationen ausführlich dargestellt werden, in den Blick und den sechsten Teil, in dem der Diskurs über Schlüsselsituationen erörtert wird. Wer hingegen die empirische Basis und Evaluation des Modells kennenlernen will, liest die Teile 5, wo die Umsetzungsevaluation vorgestellt wird, und 6, in dem die Entwicklung der Schlüsselsituationstitel nach einem empirischen Verfahren beschrieben wird. Die Autorenschaft hat die Entwicklung der Ideen des Modells und der eigenen CoP im Prolog und im Epilog aufgearbeitet.
Ein Intro jeweils zu Beginn der einzelnen Teile bietet eine kurze Übersicht über den Inhalt. Die Hauptaussagen werden in Kurzform jeweils am Ende jedes Teils unter dem Titel Key Points zusammengefasst.
In einzelnen Teilen wird auf Arbeitshilfen und weitere Materialien verwiesen, die zum Download