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Friedlaender / Mynona und die Gestalttherapie


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Indifferenz (1918/26; s. u. S. 73), nur schwer greifbar waren.

      Das hat sich nun geändert. Die »Gesammelten Schriften« von Salomo Friedlaender/Mynona, herausgegeben von Hartmut Geerken und Detlef Thiel, konzipiert auf über 35 Bände, machen das außerordentlich vielseitige Werk dieses allzu lange fast vergessenen Philosophen und Kulturkritikers wieder zugänglich, auch für Gestalttherapeuten. Neben den unter dem Pseudonym Mynona veröffentlichten Grotesken und Satiren ist als Band 10 auch Friedlaenders Hauptwerk der Berliner Zeit wieder erschienen, mit Kommentar und Dokumenten.

      Die Beiträge dieses Bandes zeigen, wie anregend und grundsätzlich Friedlaender/Mynonas Denken ist und in welchen bunten Perspektiven und Anknüpfungspunkten sein Einfluss auf die Gestalttherapie sich interpretieren lässt. Eben die Frage, inwieweit Fritz Perls Friedlaenders philosophischen Ansatz verstanden habe, führt, wie abzusehen war, zu kontroverser Diskussion. Die Gedankenfigur von Polarität und Indifferenz wird in ihrer Relevanz für gestalttherapeutische Praxis und Theorie in verschiedener Weise herausgearbeitet. Das zeitgenössische Klima und personale Umfeld rückt in den Blick; gelegentlich wird das Terrain von Philosophie und Psychotherapie auch überschritten in Richtung Mystik und Weltreligionen sowie Sozial- und Naturwissenschaften.

      Wir danken unseren Autorinnen und Autoren für ihre interessanten Beiträge, in denen viel Mühe und Hirnschmalz steckt, und unserem Verleger Andreas Kohlhage für sein spontanes Engagement. Und wir hoffen, dass dieser Band gestalt- und psychotherapeutische Kreise zu einer Auseinandersetzung mit Friedlaender/Mynonas Werk anregt.

      Ludwig Frambach

      Detlef Thiel

      Bernd Bocian

      Expressionistische Generation und krisenhafte Selbst- und Welterfahrung

      Zentrale Haltungen, Theorien und Methoden der Gestalttherapie stehen für mich in der Tradition der durch die Nationalsozialisten vertriebenen Berliner Kulturavantgarde der Jahre der Weimarer Republik. Was mit Fritz Perls 1933 aus Deutschland geflohen ist, sind im Kern die Erfahrungen der sogenannten expressionistischen Generation. Salomo Friedlaender war in den Kreisen der Berliner Avantgarde bis Anfang der Zwanziger-Jahre »eine herausragende und einflussreiche Persönlichkeit« (Bergius 1993, 233) und für Perls ein enorm wichtiger Einfluss in diesen Jahren.

      Perls hat Friedlaender immer namentlich in seinen Büchern erwähnt, anstatt sich direkt auf die durch ihn hindurch wirkenden großen und anerkannten Namen wie Goethe oder Nietzsche zu beziehen. Ich halte das für eine Art persönlicher Treue zu einem wichtigen Mentor. Wenn Gordon Wheeler in Bezug auf Friedlaender von einer »obskuren Quelle« (Wheeler 1993, 60) spricht und ihn für intellektuell bedeutungslos hält, so scheint er sich nicht mit der damaligen Berliner Atmosphäre beschäftigt zu haben. Das von mir bereits vorgelegte Material nutzend, das ich zu den ersten vierzig Lebensjahren, die Fritz Perls in Berlin verbracht hat, erstellt habe (Bocian 2007), will ich hier zum Verständnis der Selbst- und Welterfahrung der Berliner Kulturavantgarde beitragen, in deren Kreisen sich Perls bewegte und durch die er »sozialisiert« wurde. Das Verhältnis Perls – Friedlaender wird so ein wenig kontextualisiert und in seine Zeit gestellt, was die große Bedeutung, die Friedlaender für Perls hatte, verständlicher macht.

      Die Avantgarde-Kultur der Weimarer Republik, diese Bewegung von Neuerern, schuf am Rande der etablierten Einrichtungen Werke von bleibender Wirkung und war »Ort eines echten Bündnisses zwischen Juden und Deutschen, die sich auf dem Terrain einer gemeinsamen Revolte begegneten« (Traverso 1993, 53). Der schon im Kaiserreich wirkende grundlegende Einfluss war der Expressionismus, der als ein Epochenbegriff die Zeit von 1910 bis maximal 1925 umschließt (vgl. Vietta 1994). Die sogenannte expressionistische Generation war »unter dem Erlebnis zerstörter Tradition und verlorener Identität chaotisch zerrissen« (Glaser 1976, 200). Nach dem Ersten Weltkrieg fand sich dieser Teil der wohl ausnahmslos traumatisierten Frontgeneration1 in der Revolte wieder, suchte den »neuen Menschen« in einer sozialistischen »Brüdergesellschaft«, jenseits der patriarchalischen Gesellschaftsordnung und des bekämpften patriarchalischen Vaters, jenseits der Selbstzwangmechanismen des Über-Ich und der gesellschaftlichen Untertanenmentalität.

      Wichtig ist mir an dieser Stelle der Interpretationsansatz von Vietta (1994), der die vielfältigen künstlerischen Stile und Erscheinungsformen dieser Zeit durch das Herausfiltern eines inneren Zusammenhangs zu fassen versucht. Das Kennzeichen der expressionistischen Epoche ist für Vietta die »Dialektik von persönlich erlebter Ich-Dissoziation und der Sehnsucht nach Menschheitserneuerung« bzw. von Entfremdungserfahrung und messianischem Aufruf zur Wandlung des Menschen (vgl. ebd., 22). So gesehen meint Expressionismus im Kern nicht den eigentlichen künstlerischen Akt, sondern eine spezifische Ich- und Welterfahrung.2 Diese Erfahrung ist auch bei Perls zu finden, der sich in den betreffenden Jahren in den hier gemeinten Künstler- und Bohèmekreisen bewegt hat.

      In diesen Kreisen wurde Philosophie und Erkenntniskritik oftmals nicht im eigentlichen Sinne studiert, sondern weitgehend durch »Osmose« aufgenommen und »existentiell antizipiert« (ebd., 151). Die philosophische Grundlage der expressionistischen Gruppierungen (eigentlich aller oppositionellen Kreise von links bis rechts) war die Lebensphilosophie, 3 die speziell in der Gestalt Nietzsches ein Synonym für eine antibürgerliche Haltung und die Kritik am wilhelminischen Wertesystem war. An dieser Stelle werde ich auf den prägnantesten Ausdruck der sich antibürgerlich verstehenden Avantgarde-Bewegung, soweit sie sich im Bereich der gelebten Kunst bzw. philosophischen Aktion abgespielt hat, eingehen. Gemeint ist hier der Berliner Dadaismus, mit dem Perls durch Salomo Friedlaender/Mynona in Verbindung stand (vgl. Erlhoff in Hausmann, 228; Exner 1996, 264 f.). Als einer der ganz wenigen hat Perls, der im Sinne von Sloterdijk (1983b, 711 f.) durchaus ein Nachfolger des Diogenes, ein Neo-Kyniker, war, die dadaistische Haltung bis an sein Lebensende beibehalten. Dada war für den in unserem Zusammenhang wichtigsten Vertreter der Dadagruppe, Raoul Hausmann, ein »Lebenszustand, mehr eine Form der inneren Beweglichkeit als eine Kunstrichtung« (Hausmann 1982b, 229). Auf Hausmann, der aus meiner Sicht als ein Vermittler der kulturkritischen Psychoanalyse von Otto Gross im Mynonakreis angesehen werden kann, werde ich noch zurückkommen.

      1. Berliner Kunstavantgarde und expressionistische Weltanschauung

      »Nicht wahr, das Bauhaus, der ›Blaue Reiter‹, die ›Brücke‹ und der Dadaismus. Alles hatte dort seinen Ursprung, und ich verkehrte in diesen Kreisen.«

      (Perls 1980, 21)

      Berlin, die jüngste Weltstadt Europas, gehörte in den Jahren zwischen 1910 und 1930 zu den Metropolen der Avantgarde der europäischen Kunst und Kultur. Der Expressionismus hatte sich bereits im wilhelminischen Deutschland entwickelt, und die Kriegserfahrung hatte die Haltung der einzelnen Künstler radikalisiert, die sich im »Totalaufstand gegen die bestehende wilhelminische Ordnung mit all ihren militärischen, kapitalistischen und imperialistischen Begleiterscheinungen« (Hermand et al. 1989, 115) empfanden. Die Weimarer Republik gab ihnen nun die Möglichkeit, an die Öffentlichkeit zu gelangen.

      Berlin wurde in den Jahren ab 1918 zu einem kulturellen Experimentierfeld und bot sich »den Geistern, die Neues wollten, den Experimentierern, den Bastlern, den Reformern und Revolutionären, als ideales Versuchsfeld an« (Roters 1989, 21). Der Magnet Berlin zog kreative Talente aus der deutschen Provinz, aus ganz Europa, Russland und Amerika an. Es gab einen internationalen Gedankenaustausch und es entstand eine Art kulturelles Weltbürgertum. Bezogen auf die Kunst formulierte Roters dieses Phänomen folgendermaßen: »Die Kunst des Industriezeitalters ist Zivilisationskunst – Zivilisationskunst ist Weltstadtkunst – Weltstadtkunst ist Weltkunst.« (ebd.)

      Was in diesen Jahren im Bereich Malerei, Literatur, Theater, Kino, Architektur, Musik, Tanz, Kabarett, als Sexualreform, Reformpädagogik und als Psychoanalyse oder Individualpsychologie in Erscheinung trat, Entwicklungsraum und Publikum fand, ist zur Legende der Kultur von Weimar geworden. Perls sprach in diesem Zusammenhang rückblickend von einer interessanten und wunderbaren Atmosphäre in Berlin (vgl. Perls 1980, 20 f.). Franz Werfel hat in seinem Gedicht »Spiegelmensch« von 1920 das Kaleidoskop der philosophischen wie künstlerischen Orientierungsangebote dieser Zeit ironisch eingefangen:

      »Eucharistisch