mit den gleichen Merkmalen besteht, wie sie in der Gesamtgruppe vorkommen. Wenn Sie diese Gesetzmässigkeit beachten, können Sie von der Meinung von beispielsweise 60 befragten Mittelschülerinnen und -schülern auf die Meinung aller 800 Schülerinnen und Schüler Ihres Schulhauses schliessen, und dies mit einer erstaunlich tiefen Fehlerquote.
Sie fragen sich beispielsweise, welche Auswirkungen die Einführung von künstlicher Intelligenz auf Bankangestellte haben wird. Allerdings finden Sie dazu kaum Fachliteratur. Sie führen deshalb mit einer Person aus dem höheren Kader ein sogenanntes Experteninterview durch. Damit kommen Sie zu Hintergrundwissen und erhalten eine Einschätzung der derzeitigen Situation. Eine andere Zielsetzung verfolgen Sie, wenn Sie zu dieser Fragestellung Interviews mit den Betroffenen, den Bankangestellten, durchführen. Es geht dann vielleicht vor allem um deren Zukunftsängste. Entsprechend führen Sie die Interviews auf eine ganz andere Art durch.
1.3.5 Zeitzeuginnen und Zeitzeugen befragen
Eine andere Interviewtechnik wenden Sie an, wenn Sie Zeitzeuginnen und -zeugen befragen. Bei dieser Technik geht es − im Gegensatz zur herkömmlichen Interviewtechnik − nicht darum, die Zügel fest in der Hand zu halten, sondern vor allem darum, aufmerksam und einfühlsam zuzuhören. Sie probieren, Ihr Gegenüber in einen Erzählfluss zu bringen. Die Erlebnisse, für die Sie sich interessieren, liegen oft Jahrzehnte zurück. Durch geschickte Erzählanstösse versuchen Sie, einen Erinnerungsprozess in Gang zu bringen. Das kann durch Fotos geschehen oder indem Sie gemeinsam die Orte der Erinnerung besuchen.
1.3.6 Kulturelle Werke analysieren
Dokumentar- und Spielfilme können als Kunstwerke betrachtet und nach ästhetisch-formalen Gesichtspunkten analysiert werden. Sie können aber auch als zeitgeschichtliche Quellen interpretiert werden. Beispielsweise fällt bei einem Vergleich verschiedener Verfilmungen des «Heidi»-Romans von Johanna Spyri auf, dass jede Verfilmung den Zeitgeist ihres Entstehungsjahrs spiegelt. Dass Heidi im späteren Leben noch Schriftstellerin wird, wäre bei der ersten deutschsprachigen Verfilmung in den Fünfzigerjahren mit dem damaligen Frauenbild undenkbar gewesen.
Als «Text» wird heute in der Literaturwissenschaft sehr vieles bezeichnet, von der kurzen Werbebotschaft bis zum langen Roman. Entsprechend vielfältig sind auch die Fragestellungen und die Methoden, mit denen Texte untersucht werden können. Zum Beispiel erinnern Werbetexte manchmal an Texte der konkreten Poesie aus den Fünfzigerjahren des letzten Jahrhunderts. Untersuchen liesse sich, welche poetischen Verfahren übernommen, wie sie weiterentwickelt und welche Wirkungen damit erzielt werden. Denn Textanalyse ist offen für alle Aspekte des Mediums Text: von seiner Struktur bis zu seiner Funktion in verschiedenen kommunikativen Situationen.
Sie haben nun elf Methoden kennengelernt, die bei Maturaarbeiten üblicherweise vorkommen. Häufig verlangt ein bestimmter Untersuchungsgegenstand die Anwendung einer zweiten Methode oder die Abwandlung einer der genannten Methoden. Wenn Sie Ihren Bildungsweg an einer Hochschule fortsetzen, werden Sie die gleichen Forschungsmethoden wieder antreffen.
Die Zielsetzung einer wissenschaftlichen Tätigkeit in der Forschung ist das Gewinnen von neuen Erkenntnissen. Das streben Sie auch bei Ihrer Maturaarbeit an. Wahrscheinlich sind von den Erkenntnissen, die Sie mit Ihrer Maturaarbeit gewinnen, nur kleine Ausschnitte neu. Das Prinzip bleibt jedoch dasselbe: Sie arbeiten nach einer wissenschaftlichen Methode, Sie stellen eine Behauptung an den Anfang (These/Hypothese), Sie sammeln Argumente und untermauern sie mit Fakten, Sie dokumentieren in präziser Sprache und sind sich der erwarteten Qualitätsstandards immer bewusst, kurz: Sie arbeiten wissenschaftlich.
1.4 Wissenschaftliches Arbeiten
Am Anfang des wissenschaftlichen Denkens steht die Neugier: Man möchte wissen, was die Welt – so lässt es Goethe 1808 seinen Wissenschaftler Faust sagen – «[i]m Innersten zusammenhält» (Goethe 1986, Vers 383).
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler formulieren ganz konkrete Fragen oder einen Anforderungskatalog. Um Antworten und Ergebnisse zu finden, verwenden sie eine oder mehrere Vorgehensweisen, die unter dem Begriff «wissenschaftliche Methoden» zusammengefasst werden. Und wenn sie eine These respektive Hypothese begründen wollen, nutzen sie eine Struktur, die man am besten mit dem Begriff der Argumentation beschreiben kann.
1.4.1 Wissenschaftliches Argumentieren
Typische Begrifflichkeiten, die in den Wissenschaften verwendet werden, sind die Begriffe «Aussage», «Definition», «These», «Hypothese», «Argument» und «Schlussfolgerung».
Eine Aussage drückt einen Sachverhalt aus. Ein Aussagesatz kann – anders als ein Ausrufe- oder ein Fragesatz – wahr oder falsch sein. Aussagen über Sachverhalte unserer Erfahrungswelt (die uns umgebende Natur und Kultur) sollen immer auch zeitlich und örtlich definiert werden. Aussagen über Sachverhalte, die aufgrund von Beobachtungen, Experimenten und Befragungen gewonnen wurden, können verifiziert (für wahr erklärt) oder falsifiziert (für falsch erklärt) werden (vgl. Wörterbuch der Philosophie, Stichwort «Aussage», und Prechtl & Burkhard 1999, S. 53).[10]
Eine Definition ist der Form nach eine Aussage. Definitionen erklären einen Begriff (Ausdruck, Terminus) mit einer Kombination von bereits bekannten Begriffen (vgl. Sandberg 2017, S. 22). Definitionen sind beim wissenschaftlichen Arbeiten sehr wichtig, denn oft muss ein Terminus in einen Kontext gestellt werden, damit allen klar wird, was damit gemeint ist. Der Begriff «Freiheit» zum Beispiel kann – situiert in einer bestimmten geschichtlichen Situation – als «Unabhängigkeit von Zwang oder Bevormundung» definiert werden (Wahrig-Burfeind 2005, S. 498). Aber man kann unter Freiheit auch ein «Privileg» verstehen (ebd.), was dann einem deutlich anderen Verständnis entspräche. Es empfiehlt sich deshalb, Schlüsselbegriffe in einer wissenschaftlichen Arbeit zu definieren und diese Definitionen als solche kenntlich zu machen (vgl. Sandberg 2017, S. 23).
Eine These ist eine Behauptung, deren Wahrheitsgehalt es zu beweisen gilt. Der Form nach ist eine These eine Aussage, aber eine spezielle, denn sie bildet den Ausgangspunkt für eine strittige Argumentation (vgl. ebd.). Beispielsweise stellt Andreas Pfister in seiner Dissertation die These auf, dass der Roman «Das Parfum» von Patrick Süskind ein Künstlerroman sei (vgl. Pfister 2005). Pfister begründet diese These, indem er am Text zeigt, dass der Roman zentral zum Konzept des Künstlers als Genie Stellung bezieht (siehe Abschnitt 12.4.3).
Eine Hypothese (wörtlich «Unterstellung») ist der Funktion nach sehr ähnlich wie eine These. Hypothesen sind Annahmen über einen Sachverhalt, den sie zu klären versuchen. Sie beschreiben nicht nur einen Einzelfall, sondern sind generalisierbar. Da sich die meisten Hypothesen auf eine Vermutung über einen irgendwie gearteten Zusammenhang zwischen zwei Ereignissen oder Zuständen beziehen, werden sie in der Form eines Bedingungssatzes formuliert: «Wenn …, dann …» (vgl. Voss 2017, S. 36 f.).
Die meisten Forschungsvorhaben im Bereich der Naturwissenschaften, die sich den zu untersuchenden Phänomenen messend oder zählend annähern, also quantitativ arbeiten, sind sehr aufwendig. Um den Aufwand in Grenzen zu halten, untersucht man eine überschaubare Stichprobe. Beispielsweise stellen Sie folgende Hypothese zu einer Untersuchung über Schmetterlinge auf: «Wenn eine Wiese gemäss einer Definition aus der Literatur als Magerwiese gilt, dann halten sich in ihr deutlich mehr Schmetterlinge auf als in einer Fettwiese.» Nun wählen Sie zwei Stichproben aus, das heisst, je eine Fläche von 16 Quadratmetern Magerwiese respektive Fettwiese, die Sie markieren. Sie setzen sich auf eine Bockleiter ausserhalb des Quadrats und machen während einer definierten Beobachtungszeit in regelmässigen Zeitabständen Fotos. Die auf den Fotos ausgezählten Schmetterlinge bestätigen oder widerlegen Ihre Hypothese.
Auch in jenen Wissenschaften, die mehrheitlich nicht mit Zählen und Messen arbeiten, können Hypothesen gute Dienste leisten (vgl. Voss 2017, S. 37). So könnte beispielsweise die Hypothese: