wie lange hatte sie schon nicht mehr geflirtet. Am vergangenen Abend war es das erste Mal gewesen, dass sie mit einem Mann annähernd das gehabt hatte, was man Flirt nennt. Natürlich sehnte sie sich auch nach mehr Berührung, einer langen Umarmung, zarten Küssen, die langsam heftiger wurden, und sie hätte nichts dagegen gehabt, auch wieder einmal einen Mann in ihrem Bett zu haben.
Es würden dann wieder die üblichen Zweifel und Unsicherheiten beginnen, aber das nahm sie in Kauf.
Ja, sie beschloss, Eric beim nächsten Mal einfach Andeutungen zu machen, dass sie bereit für mehr wäre. Bisher erschien er als liebenswert, wenn auch nicht als Traummann. Ihre Lügen würde er irgendwann herausfinden, aber wenn sie bis dahin schon Spaß miteinander gehabt hatten und die Gefühle abgeflaut waren, konnte es ihr egal sein.
Nachdenklich blickte sie durch das Erkerfenster auf die parkenden Autos.
Emma, Emma, was ist aus dir nur geworden, fragte sie sich im Stillen. Viel wichtiger aber war wohl die Frage, was aus ihr werden sollte?
Sie schob den Stuhl zurück und stand auf. Zeit, ins Bett zu gehen. Schlafen und vergessen. Das hatte in der Vergangenheit immer geholfen.
5
Wie viel hatte sie am Abend getrunken? Beim Aufwachen fühlte sich Emma wie nach einer Partynacht. Sie versuchte sich genau zu erinnern, und ihr fielen nur zwei kleine Bier ein. Davon konnte sie doch nicht so benebelt sein.
Sie setzte sich im Bett auf und warf einen Blick aus dem Fenster. Ihr Zimmer – eigentlich das Schlafzimmer ihrer Tante Nell – lag unter dem Dach, war niedrig und eng. Emma mochte hier so gut wie gar nichts: Die Blümchentapete war hoffnungslos altmodisch und ausgebleicht, das Bett zu hoch und für ihren Geschmack zu weich, das Braun des Schranks der Nachtkästchen hatte ihr vom ersten Moment an nicht gefallen.
Das Wetter verbesserte ihre Laune auch nicht gerade. Der Himmel hatte das gewohnte Grau und der Wind rüttelte an den Hälften der Schiebefenster. Emma rechnete mit Regen bis spätestens Mittag.
Was für ein großartiger Wochenbeginn, dachte sie und stand auf.
Die Küche befand sich, wie in vielen dieser Häuser, im Souterrain. Es war ein Keller, der halb aus dem Boden ragte und Fenster besaß, durch die Licht fallen konnte. Emma stapfte gähnend die steilen Treppen hinunter. Das Haus war schmal, besaß aber vier Stockwerke samt Dachgeschoss, und dann noch Küche und Essraum im Keller.
Sie fröstelte und zog den ziemlich ausgeleierten Bademantel fester um sich und den Stoffgürtel zu. Auch der Mantel war aus dem Besitz ihrer Tante, und Emma hoffte, sich bald einen eigenen neuen kaufen zu können.
Aus Sparsamkeit hatte sie die Heizung nicht mehr eingeschaltet, aber in Brighton brauchte man sie manchmal sogar im Juli, hatte ihr Patricia erklärt. Der Anblick, der sich Emma in der Küche bot, war auch nicht sehr erfreulich: Drei volle Müllsäcke lehnten an der Anrichte, weil sie so oft vergessen hatte, sie hinaus an den Zaun zu hängen. In Brighton war es nicht erlaubt, den Müll einfach nur hinzustellen, da die Möwen sonst die Säcke aufrissen und den Abfall nach Fressbarem durchwühlten.
Sie füllte den elektrischen Teekessel und schaltete die Espressomaschine an. Während sie wartete, bis das Wasser kochte, schlenderte sie durch den Essraum. Hier gab es vier kleine Tische, an denen die Gäste ihr Frühstück einnehmen konnten. Auch diese Möbel waren alt und strahlten etwas Liebloses aus.
Ein schmaler Spiegel an der Wand sollte den kleinen Raum größer erscheinen lassen. Emma betrachtete sich kurz und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. Waschen, machte sie eine mentale Notiz. Sie war verstrubbelt, hatte dunkle Schatten unter den Augen und mochte sich an diesem Morgen gar nicht.
Vor dem Haus hörte sie das Brummen eines großen Wagens. Sie blickte durch das Fenster und sah das untere Drittel eines Müllautos.
Jetzt aber schnell, sonst blieb sie auf ihrem Mist noch länger sitzen, und es würde hier drinnen zu stinken beginnen. Sie raffte die drei Müllsäcke zusammen und lief damit ins Erdgeschoß. Auf dem Weg zur Eingangstür fiel ihr Blick in das kleine Arbeitszimmer und auf den übervollen Papierkorb. Er musste auch endlich ausgeleert werden. Sie trat die Papierbälle mit dem bloßen Fuß hinein und schnappte den ganzen Korb. Es war keine Zeit mehr, den Abfall in einen der Plastiksäcke umzufüllen.
Auf der Straße schlug ihr gleich der Wind vom Meer entgegen. Er wehte ihren Bademantel ein wenig hoch, und Emma versuchte ihn mit den Ellbogen wieder hinunterzuschieben.
Der Müllwagen war schon weiter nach oben Richtung St. James’s Street gefahren.
»Warten Sie bitte!«, rief Emma und rannte hinterher. Die Müllsäcke schlugen gegen ihre Beine, der Papierkorb geriet gefährlich ins Rutschen.
Zwei Männer sammelten die Müllsäcke von den Zaunstangen der Häuser ein. Einer war klein mit muskulösen Armen, der andere hatte etwas Aristokratisches an sich. Die Männer drehten sich zu ihr, und der Kleine kam wortlos auf sie zu und nahm ihr die Säcke ab. Der andere deutete auf den Papierkorb. »Das nehmen wir nicht.«
»Jaja, verstehe«, Emma nickte schuldbewusst. Für Papier und Karton gab es einen Container am anderen Ende des Platzes, an der Ecke des Parks.
Als der Müllwagen mit einem Ruck weiterrollte, kam jemand um die Ecke. Zuerst sah Emma nur einen kleinen Hund, weiß mit braunen Flecken, der heftig an der Leine zog. Ihm folgte -
Sie erkannte ihn sofort. Es war der Mann aus dem Pub, dem sie das Bier über den Pulli gegossen hatte. Er trug einen dunklen Anzug, weißes Hemd mit Schlips und schwarze Lederschuhe.
»Langsam, Jamie, nicht so ziehen«, befahl er dem Hund, für den das aber nur eine Aufforderung zu sein schien, noch mehr Gas zu geben.
Emma fiel der graue Bademantel ein und das ausgeleierte T-Shirt, das sie darunter trug. Sie musste verwahrlost aussehen und es war ihr peinlich, wenn der Mann sie so sah. Sie griff an den Kragen und hielt mit einer Hand den Mantel am Hals zu. Ein neuer Windstoß schlug ihr vom Meer entgegen und wehte unter den Bademantel. Sie fühlte, wie der Saum hochgehoben wurde und drückte ihn mit der Hand energisch nach unten. Dabei kippte der Papierkorb und ein paar der Papierbälle fielen auf die Straße.
»Nein«, hörte sich Emma rufen. Der Wind trieb die Papierbälle vor sich her, und Emma nahm die Verfolgung auf. Sie schaffte es, einen einzufangen, als der kleine Hund neben ihr auftauchte. Er fand, dass die Jagd ein lustiges Spiel war und entriss ihr, was sie gerade eingesammelt hatte. »Gib das her!«, schrie sie ihn an.
»Aus, Jamie, aus!« Der Mann kam Emma zu Hilfe, hockte sich neben sie und versuchte, seinem Hund die Beute zu entwenden. Emma kroch auf allen Vieren herum und schlug nach den weißen Bällen. Sie bekam einige zu fassen und beförderte sie in den Papierkorb zurück, den sie unter den linken Arm geklemmt hielt.
»Hier!« Der Mann streckte ihr die Hand hin. Emma wollte ihm abnehmen, was er für sie eingefangen hatte. Da er sich gleichzeitig zu ihr vorbeugte, schlug sie ihm aber voll auf die Wange.
»Verzeihung, ich wollte Ihnen nur helfen!« Er stand auf und hob abwehrend die Hände.
»Entschuldigung, entschuldigen Sie vielmals!« Emma wäre am liebsten im Boden versunken. Sie spürte den musternden Blick des Mannes.
»Kann das sein, sind Sie die Dame, die mir gestern das Bier…?«
»Ja, ich bin das. Entschuldigung noch einmal.« Emma nahm ihm die Papierkugeln ab und stopfte sie in den Korb. »Schönen Tag noch.«
Was war der Superlativ von peinlich, dachte sie. Oberpeinlich. Oder unerträglich peinlich? Sie drehte sich einmal im Kreis um zu sehen, ob ihr ein Papier entgangen war, konnte aber keines mehr entdecken.
Jamie wedelte und blickte hechelnd zu ihr. Den Blick seines Herrchens konnte sie nicht deuten, wahrscheinlich hielt er sie für geistesgestört, und sie konnte es ihm nicht verdenken.
»Ja, Entschuldigung dann noch einmal«, stammelte sie, und das verlegene Grinsen in ihrem Gesicht verursachte ihr Gänsehaut. Sie stolperte am Park entlang hinunter zu dem großen grünen Container.