Mal, damit auch wirklich alles aus ihm rausfiel. Danach stellte sie sich auf die Zehenspitzen und sah durch die Öffnung.
Ihre hilflosen Briefversuche hatten es sich schon in der Tiefe des Containers zwischen alten Zeitungen und Kartons mit dem Amazon Logo gemütlich gemacht.
Als sie zu ihrem Haus zurückeilte, waren der Mann und Jamie nicht mehr zu sehen. Sie konnte ihnen nicht verübeln, vielleicht auf der anderen Seite des Platzes zu gehen, um einen Bogen um diese Wahnsinnige zu machen, die aussah, wie gerade aus einer Anstalt entkommen.
Oh, Emma, dachte sie und schlug die Tür hinter sich zu.
6
Tut mir leid, aber dieses Briefeschreiben kommt mir einfach nur verrückt vor.« Emma seufzte. Es war Abend, und sie hatte eine Einladung zum Abendessen bei ihrer Freundin Patricia angenommen.
»Emma.« Patricia setzte sich ihr gegenüber an den Esstisch. Sie war noch immer von ihrer Arbeit geschminkt: dunkel umrahmte Augen, violetter Lippenstift, silberfarbener Lidschatten, der ein wenig glitzerte. Mit einem geschickten Griff öffnete sie ihre Haare, die hinten auf dem Kopf zusammengesteckt waren. Die dicken Locken der Kraushaarmähne wippten auseinander wie Sprungfedern. Patricias Gesicht erinnerte Emma immer an einen kleinen Mond, der aus der Nacht der dunklen Mähne schien.
»Ich weiß, du hast es mir erklärt, und ich…«
Patricia legte ihre Hand auf die von Emma. Die Fingernägel waren mitternachtsblau lackiert und mit kleinen Goldsternchen beklebt. »Das Business braucht diese Verkleidung. Ich könnte meine Vorhersagen auch im Bikini machen, aber das nehmen die Leute nicht so ernst«, hatte Patricia einmal ihren Aufzug erläutert.
»Emma, du hörst mir jetzt noch einmal genau zu, solange wir nüchtern sind. Danach werden wir zur Feier des Tages, weil du es endlich verstanden hast, eine Flasche Sauvignon Blanc köpfen und leeren. Und wenn uns danach ist, auch noch eine zweite. Damit überschreiten wir das erlaubte Tageslimit an Alkohol, erweisen uns als völlig unvernünftige und alkoholgefährdete Frauen, aber das ist mir egal. Ich hoffe, dir auch.«
Gehorsam nickte Emma, denn etwas anderes hätte Patricia nicht geduldet.
»Ich sage es dir noch einmal.« Patricia redete in ihrer ruhigen, etwas rauchigen Stimme, in der sie manchen Leuten Vorhersagen für ihr Leben machte, die in Wirklichkeit eine Art Hypnose waren, wie sie ebenfalls einmal verraten hatte. »Außerdem kannst du es auf meiner Homepage nachlesen.« Sie griff nach ihrem Laptop, klappte ihn auf, tippte und drehte Emma den Bildschirm hin.
Emma las mit, während Patricia ihr vorlas.
Liebesbrief an Unbekannt
Die Kraft der Anziehung nutzen, um einen Partner mit Herz und Hirn ins Leben zu ziehen. Wer Energie ausstrahlt, zieht Energie an. Es muss aber die richtige Energie sein, um das gewünschte Ergebnis zu erzielen.
Stell deine Energie vom »Wunsch nach einem Partner« auf »Ich habe einen Partner und bin glücklich« um, dann wirst du ihn in dein Leben ziehen.
Briefe an einen Partner zu schreiben, der nur in der Zukunft existiert, ist ein Zeichen an den Kosmos, diesen Menschen in deine Richtung zu bewegen, damit ihr einander treffen könnt.
Da diese Technik eher von Frauen angewendet wird als von Männern, richtet sich diese Anweisung auch an Frauen. Alle Herren sind aber herzlich eingeladen, es genauso zu machen.
Grundsätzlich: Du bist eine Frau, die einen großartigen, warmherzigen, ehrlichen, gut aussehenden Mann verdient. Einen Mann, der dich liebt und den du aus ganzem Herzen liebst. Einen Mann, der dich ehrlich will und nicht braucht und umgekehrt genauso. Einen Mann, der dein bester Freund ist, und du bist seine beste Freundin. Gerne fügen wir hinzu, dass er eine Kanone im Bett und treu ist.
Wir legen uns weder auf Haarfarbe noch Beruf oder Herkunft fest, denn diese Wahl überlassen wir dem Universum, dem Kosmos, der großen Macht, die uns umgibt.
Dieser Mann ist bereits geboren. Er hat genau das richtige Alter für dich und er ist gerne bereit, in dein Leben zu kommen, weil er dich genauso gerne treffen möchte wie du ihn. Er sucht eine Frau wie dich, weiß es vielleicht aber noch gar nicht, und dich kennt er schon gar nicht.
Dieser Mann mag irgendwo auf der Welt sein, aber das spielt keine Rolle, wenn du gewillt bist, ihn in dein Leben zu ziehen.
Du wartest nicht auf deinen Märchenprinzen, denn es gibt keine Märchenprinzen. Du bist auch keine Prinzessin, sondern eine Prachtfrau mit jeder Menge Macken, die dazugehören. Bei ihm ist es nicht anders.
Schick Energie an den Unbekannten aus, damit er dich finden kann. Er wird zu dir gezogen, oder aber du entdeckst den Weg zu ihm. Dafür musst du leuchten. Deine Energie muss das Universum durchdringen und in tausenden kleinen Strahlen ausgesandt werden. Einer davon wird den Mann deines Herzens und dich zusammenführen.
Liebesbriefe an Unbekannt zu schreiben ist eine Art, die richtige Frequenz einzustellen, damit du deinen Traummann anfunkst. Du musst die Wellenlänge vorgeben, auf der du funkst. Ist sein Empfänger auf diese Wellenlänge eingestellt, so wird durch Zeit und Raum ein unsichtbarer Kontakt hergestellt. Die kosmischen Kräfte werden alles in Bewegung setzen, damit Funkturm – also du – und Empfangsgerät – also er – zueinander finden.
7
Emma ließ die Worte einsickern. »Wie lange kann das dauern?«
»Von fünf Sekunden bis zu fünf Jahren.«
»Die fünf Sekunden hören sich gut an, die fünf Jahre weniger. Bis dahin bin ich alt und grau.«
»Wie alt bist du jetzt?«
»29.«
»Aha, und mit 34 bist du alt und grau.«
»Du weißt, wie ich das meine.«
»Die fünf Sekunden sind schon allein deshalb zu kurz für dich, weil du einen Mann brauchst. Weil du ihn dir so wünschst.« Patricia schlug auf die Tischplatte. Die vielen kleinen Glücksbringer aus aller Welt hüpften in die Höhe. »Das ist die beste Art, den wirklich richtigen Mann von dir fernzuhalten. Du würdest ihn nämlich erdrücken, wie eine Boa constrictor ihre Beute.«
»Patricia, es ist überhaupt nicht so…«
Emma traf ein langer, ruhiger Blick aus den geschminkten Augen. Patricia legte den Kopf leicht zur Seite und schwieg einfach nur. Nach ein paar Atemzügen stammelte Emma herum, schluckte und wurde verlegen. Weil sie den Blick nicht aushielt, sah sie im Raum herum: Es war ein geräumiges Wohnzimmer, in dem auf allen geraden Flächen hohe Stapel von Büchern lagen.
Ganz oben auf den beiden höchsten Stapeln thronten die Katzen Isis und Osiris. Sie war eine schwarz-weiß-rote Glückskatze, er ein pechschwarzer Kater mit weißen Pfoten und einem weißen Schwanz. Mit seinen smaragdgrünen Augen sah er auf Emma herab. Als sich ihre Blicke trafen, glaubte sie eine Stimme in ihrem Kopf zu hören.
»Kannst du das alles endlich kapieren, du dumme Nuss?«