tippte Patricia mit den Fingerspitzen auf Emmas Handrücken. »Du tust einfach genau, was ich dir sage, und wenn der Zweifel sich meldet, dann sagst du ihm einfach…«, Patricia schrie die nächsten Worte so laut, dass die beide Katzen herabsprangen und sich unter dem Sofa verkrochen: »Halt die Klappe!!!«
Mittlerweile wusste Emma, dass Patricias zweiter Vorname Sturheit war. Es war sinnlos, ihr zu widersprechen. Vielleicht kam das von ihrem Beruf, in dem sie Leuten ihre Zukunft vorhersagte. Sie musste es auf eine Weise tun, die die Leute überzeugte, und deshalb hatte sie sich angewöhnt, so eindringlich zu reden.
»Ich mache es.«
»Gutes Mädchen«, lobte Patricia und lächelte.
»Aber was tue ich mit den Briefen?«
»Was immer du gerne willst. Manche lesen sie laut dem Universum vor. Andere Leute versperren sie in einer Lade. Andere schreiben sie in ihr Tagebuch. Andere tippen sie auf dem iPad. Andere verbrennen sie. Hauptsache, du hast beim Schreiben deine Frequenz gefunkt.«
Emma wusste, dass sie sich albern fühlen würde, wenn sie die Briefe später las. Vor allem, wenn kein Traummann aufgetaucht war und die ganze Aktion umsonst.
»Stopp!«, rief Patricia. Emma fuhr zusammen. »Du zweifelst schon wieder.«
»Wieso weißt du das?«
»Liebste, mein Beruf ist Hellsehen und ein wenig Gedankenlesen. Außerdem steht dir alles mehr oder minder auf die Stirn geschrieben. Mit Leuchtbuchstaben.«
Verlegen grinsend atmete Emma tief durch.
»Hast du diesen Rat schon anderen gegeben? Das mit den Liebesbriefen an Unbekannt?«
»Vielen.«
»Und?«
Patricia überlegte und zählte mit den Fingern. »Trefferquote hängt immer davon ab, wie ernsthaft Leute die Briefe schreiben und wie sehr sie daran glauben, den richtigen Partner oder die Partnerin dadurch ins Leben zu ziehen. Bisher habe ich damit mehr als dreißig Beziehungen gestiftet. Neun davon sind verheiratet, fünf sind verpartnert, und nur eine Beziehung ist wieder in die Brüche gegangen. Kein schlechter Schnitt, finde ich.«
»Bei mir ist auch ein Mann aufgetaucht. Sonntagabend.«
»Erzähl!« Patricia deutete Emma, kurz zu warten, und holte schnell den Weißwein und zwei Gläser. Sie schenkte ihnen ein und sie prosteten sich zu.
Emma berichtete vom Spaziergang zum Strand und der Begegnung mit Eric.
»Ist er der Richtige? Was meinst du? Habe ich ihn angezogen?«
Wieder sah sie Patricia nur schweigend an.
»Sag etwas, bitte. Ich halte deinen Blick nicht aus«, flehte Emma.
»Cheers.« Patricia hielt das Glas in ihre Richtung, um erneut anzustoßen. Mehr war aus ihr an diesem Abend zum Thema Eric nicht herauszubekommen. Dafür wurde Quiche mit Tomaten und Karotten, dazu Fenchelsalat mit Orangenfilets serviert.
8
Es tat einfach gut, mit Patricia Zeit zu verbringen. Emma fühlte sich leichter, fast ein wenig beschwingt, als sie durch die Nacht nach Hause marschierte.
Ein angenehmer, frühlingswarmer Wind wehte ihr ins Gesicht. Die unerwartete Wärme um diese Zeit war wie ein Geschenk. Die Arme schwingend stapfte Emma durch die dunklen Straßen Richtung Meer, und die Umhängetasche, in der sie ihre wichtigsten Habseligkeiten immer bei sich trug, schlug bei jedem Schritt an ihr Hinterteil.
Beim Verabschieden, als sie sich Küsse auf die Wangen gehaucht hatten, hatte ihr Patricia noch ins Ohr geflüstert: »Träume, schreibe und glaube daran.«
Vielleicht würde Emma wirklich noch einen weiteren Brief an ihren zukünftigen Traummann schreiben. Nach zwei ziemlich großen und ziemlich vollen Gläsern Wein erschien ihr das Briefeschreiben wieder reizvoller.
Emma ging am Aquarium von Brighton und dem großen Bogentor vorbei, hinter dem sich der Pier ins Meer hinaus erstreckte. Sie steuerte die Kaimauer an und lief die Treppe hinunter zum Strand.
Dort, an die Mauer geschmiegt, gab es einige Bars und Cafés. Lucky Beach war eines der letzten Cafés, und auf Grund des milden Abends hatte es vielleicht noch geöffnet. Die Chancen standen um diese Jahreszeit nicht sehr gut, aber Emma wollte es trotzdem versuchen.
Sie hoffte, Eric zu treffen. Insgeheim vermutete sie, dass Lust und Mut mehr mit dem vielen Wein zu tun hatten als mit neuem Selbstvertrauen. Emma musste sich zwingen, nicht an das hässliche Unglücksentlein zu denken, als das sie sich seit längerem empfand.
Die ersten beiden Bars hatten die Rollbalken heruntergelassen. Außer Emma schien niemand mehr hier unterwegs zu sein.
Die Hoffnung stirbt zuletzt, gab Emma an sich selbst als Parole aus.
Auf der Holzterrasse des Restaurants, das als nächstes kam, waren Tische und Stühle gestapelt und mit Stahlseilen verbunden, damit sie niemand stehlen konnte. Der Kiosk, wo man im Sommer Souvenirs, Strandspielzeug und Sonnencreme kaufen konnte, lag noch im Winterschlaf. Die Fenster waren sogar vernagelt.
Mit jedem Schritt sank Emmas Stimmung. Es wäre wirklich schön gewesen, Eric diesmal zu ihr nach Hause einzuladen und einen Drink mit ihm zu nehmen. Sie kannte vom Besuch im Fitzherbert die Marke seines Lieblingsbieres und hatte vorsorglich zwei Dosen davon gekauft und in den Kühlschrank gestellt.
Emma lief schneller, um Klarheit zu bekommen. Sie spürte eine Enttäuschung nahen und wollte den traurigen Moment so schnell wie möglich hinter sich bringen.
Das Lucky Beach bot denselben verlassenen Anblick wie die anderen Lokale. Kam es ihr nur so vor, oder wurde die Nacht schlagartig dunkler? Auch das Rauschen der Wellen hatte seine sanfte, beruhigende Wirkung verloren. Emma hörte nur noch die Kiesel aneinanderschlagen, die das Wasser bewegte. Es war ein Knirschen, wie von Zähnen.
Einen Versuch war es wert gewesen, versuchte Emma sich zu trösten. Als sie allein vor dem verriegelten Café stand, überkam sie wieder diese schmerzhafte Einsamkeit. Sie neigte den Kopf nach hinten und blickte zum Himmel hoch, zu den Sternen, von denen hier, mit kleinem Abstand zur Beleuchtung der Küstenstraße, mehr zu sehen waren.
Ihre Augen füllten sich mit Tränen, die sie energisch mit dem Handrücken wegwischte.
»Blöde Kuh«, schimpfte sie sich selbst. Es war ein Gefühl, als würde ihr jemand den Hals abschnüren, und selbst mehrfaches Schlucken half nichts. Die Traurigkeit, die sich in ihr aufgestaut hatte, zog sie hinunter und erfüllte ihren Körper wie schwarzes Blut.
Emma musste sich setzen. Sie holte einen Stuhl unter einem Tisch hervor. Das Stahlseil zur Sicherung war lang genug, um ihm Bewegungsspielraum zu geben. Die Kälte des Metalls drang durch den Stoff ihrer Hose. Sie hätte am liebsten losgeheult, aber sie konnte einfach nicht mehr. Die Verzweiflung steckte in ihr und bereitete ihr diese unendliche Qual.
Wie sollte ihr Leben weitergehen? Wie sollte ein Mensch, der einfach nur versagt hatte, jemals wieder Freude finden?
Die Luft hatte die salzige Frische, die früher in Brighton von Kranken zur Heilung gesucht worden war.
Für jemanden wie mich gibt es keine »Heilung« mehr, hing Emma den düsteren Gedanken nach. Sie wucherten in ihrem Kopf wie ein Geschwür. Emma spürte ihre Tasche am Rücken, zog sie vor und öffnete sie. Sie kramte in der Unordnung von Schlüsseln, Pass, Geldtasche, Taschentüchern, Kaugummi und einem Lippenstift ohne Kappe. Sie holte einen alten Plastikkugelschreiber und ein paar Papierumschläge heraus, die an diesem Tag durch den Briefschlitz geworfen worden waren. Emma hatte sie vom Boden aufgehoben und beim Verlassen des Hauses eingesteckt. Sie war zu faul gewesen, zurückzugehen und die Post in der Diele abzulegen.
Das Papier der Kuverts diente ihr nun zum Schreiben.
Lieber Wer-immer-du-bist,
eigentlich