alt="Image - img_03000004.png"/>
Was fällt auf?
Die Lehrperson unterrichtet seit neun Jahren Geschichte an einer Berufsmaturitätsschule. Laut ihrer Erfahrung ist die mündliche Beteiligung generell ein großes Problem, besonders aber bei den Detailhandels-Berufsmaturitäts-Klassen.
Die Lehrperson beschreibt einen bestimmten Fall, an dem sie die Probleme der mündlichen Beteiligung in Detailhandels-BM-Klassen exemplarisch verdeutlicht.
Der Unterricht der besagten Klasse findet jeweils am Freitagmorgen statt. Die Klasse sitzt in einer Hufeisenform, die Platzwahl ist frei. Auf der linken Seite der Hufeisenform sitzen fünf Mädchen, denen die Lehrperson unterstellt, sie wollten sich mündlich nicht am Unterricht beteiligen. Sie ergänzt, ohnehin würden sich «nur etwa 20 bis 25 Prozent der Klasse regelmäßig mündlich beteiligen». Drei bis vier Schülerinnen und Schüler beteiligen sich in der Wahrnehmung der Lehrperson konstant, zwei bis drei weitere «nach Lust und Laune». Vom «Rest», die linke Reihe eingeschlossen, berichtet die Lehrperson, dass die Schülerinnen und Schüler «auch nach mehrmaligem Nachhaken nicht zum Mitmachen zu bewegen» seien. Die Ausdrucksweise legt nahe, dass es die Lehrperson viel Kraft kostet, die mündliche Beteiligung vermehrt über die ganze Klasse zu verteilen. Auch das Wissen, dass sich die mündliche Beteiligung «notenmäßig auf die Semesternote auswirken würde», worin die Lehrperson einen gewissen «Druck» sieht, «verleite» die Mädchen nicht zur aktiven Beteiligung. Mit dieser Aussage stehen wiederum die Mädchen auf der linken Seite im Fokus, die in der Wahrnehmung der Lehrperson eine Gruppe mit gruppenkonformem Verhalten (sich nicht mündlich am Geschichtsunterricht zu beteiligen) zu bilden scheinen. Auch der Hinweis, dass es von Vorteil sei, den mündlichen Unterricht als Trainingsmöglichkeit für die mündliche Berufsmatur zu nutzen, kann «nicht zum Mitmachen animieren». Die Lehrperson beschreibt den mündlichen Unterricht als eine Situation, in der sie mit verschiedenen Lockmitteln sozusagen zum Mitspielen anregen will. Ein eigentliches pädagogisches Ziel der mündlichen Beteiligung bleibt dabei unausgesprochen.
Die bis zu diesem Punkt des Falles beschriebene mangelnde mündliche Beteiligung bezieht sich auf die Quantität der Wortmeldungen. Wie beiläufig kommt die Lehrperson in einem einzigen Satz auf die Qualität der Antworten zu sprechen: Wenn sie den Mädchen in der linken Reihe spontan Fragen stellte, waren die Antworten «ungenügend». Ob das wirklich jedes Mal zutraf und wie die Lehrperson auf die ungenügenden Antworten reagierte, schreibt sie nicht, auch nicht, wie sie die Fragen gestellt hat und um welchen Schwierigkeitsgrad es sich bei den Fragen handelte. Dass es für die Schülerinnen eher schwierig ist, aus dem Stegreif heraus eine sprachlich und inhaltlich qualitativ hochstehende Antwort zu geben, ist nachvollziehbar.
Die Lehrperson schildert zum Schluss, dass sie die Mädchen auf die mangelnde Mitarbeit anspricht, wobei nicht klar wird, ob sie sie direkt vor der Klasse, nach dem Unterricht, als Gruppe oder einzeln anspricht. Die dokumentierten Antworten der Mädchen beziehen sich einerseits auf den Unterricht («die Fragen sind zu schwierig»), auf ein fachunabhängiges Verhalten («ich habe im Unterricht noch nie mündlich mitgemacht, auch in anderen Fächern nicht») oder auf ein mangelndes inhaltliches Interesse («Geschichte interessiert mich nicht»). Die Lehrperson hat diese Aussagen offenbar einfach zur Kenntnis genommen, ohne mit den Schülerinnen weiter über ihre Erfahrungen mit mündlicher Beteiligung zu sprechen. Zusätzlich holt die Lehrperson ein Feedback ein. Sie stellt fest, dass der «Großteil der Klasse […] allerdings mit dem Unterricht zufrieden war». Auf welche Weise dieses Feedback erhoben wurde, ob es sich um eine mündliche oder schriftliche generelle Einschätzung oder eine Befragung anhand eines Fragebogens mit vorgegebenen Kriterien handelte, beschreibt die Lehrperson nicht.
Das Problem der mangelhaften mündlichen Beteiligung aus der Sicht der Lehrperson wird von den Schülerinnen und Schülern nicht negativ beurteilt, vielleicht auch nicht einmal wahrgenommen. Für sie steht vermutlich im Vordergrund, ob der Unterricht interessant ist.
Was ist das Problem?
Das Fallbeispiel beschreibt die mangelhafte mündliche Beteiligung von Lernenden im Geschichtsunterricht. Bei einer hufeisenförmigen Sitzordnung wird die linke Reihe von fünf Mädchen gebildet, die sich auch durch Nachhaken nicht mündlich am Unterricht beteiligen wollen. Lediglich drei bis vier Schülerinnen und Schüler sind aktiv, zwei bis drei weitere «nach Lust und Laune». Für die Nichtbeteiligung am Unterricht geben die Schülerinnen verschiedene Gründe an. Obwohl die mündliche Mitarbeit benotet wird und am Ende der Schulzeit eine mündliche Abschlussprüfung bevorsteht, können die Schülerinnen nicht zum Mitmachen bewegt werden. Wie ein Feedback zeigt, ist der Großteil der Klasse mit dem Unterricht zufrieden.
Zwei Probleme lassen sich erkennen:
–Die Vorstellung der Lehrperson von einem guten mündlichen Unterricht deckt sich nicht mit der Vorstellung der Lernenden von gutem Unterricht.
–Was ist ein guter mündlicher Unterricht und wie lässt er sich umsetzen?
Erklärungsansätze und Hintergründe
Annahmen der Lehrperson über die «Detailhandels-BM-Klasse»
Die Lehrperson sieht die mangelnde mündliche Beteiligung als besonders großes Problem bei Detailhandels-BM-Klassen. Es ist denkbar, dass sie oft ähnliche Erfahrungen mit früheren Klassen gemacht hat. Vielleicht aber findet sie die mündliche Beteiligung bei dieser Berufsrichtung auch ausgesprochen wichtig und wünscht sich deshalb eine besonders gute Beteiligung. Die Art und Weise, wie sich die Lehrperson ausdrückt, lässt ein Vorurteil vermuten: Detailhandels-Klassen beteiligen sich immer mangelhaft am mündlichen Unterricht.
Einflüsse auf die mündliche Beteiligung der Schülerinnen und Schüler im Unterricht
So wie die Erfahrungen der Lehrperson latent als Vorurteil in den Unterricht einfließen, so gilt dies auch für die Lernenden: Ihre Erfahrungen mit dem mündlichen Unterricht dürften einen direkten Einfluss auf ihre Beteiligung bzw. Nichtbeteiligung im Unterricht haben («ich habe im Unterricht noch nie mündlich mitgemacht, auch in anderen Fächern nicht»). Weitere Faktoren, die einen Einfluss auf das Verhalten im mündlichen Unterricht haben können, sind: persönliche Einstellung gegenüber dem von der Lehrperson gewünschten Verhalten; wahrgenommene Schwierigkeit, dieses Verhalten ‹korrekt› auszuführen; Annahme über die Akzeptanz oder Ablehnung des gezeigten Verhaltens durch andere, z. B. die Mitschülerinnen und -schüler oder die Lehrperson (vgl. hierzu die «Theorie des geplanten Verhaltens» [Ajzen und Fishbein 1977; Tonglet, Phillips und Read 2004]).
Gründe für die Nichtbeteiligung am Unterricht aus der Perspektive der Lernenden
Die Schülerinnen beschreiben verschiedene Gründe, warum sie sich nicht am Unterricht beteiligen:
–«Geschichte interessiert mich nicht»: Diese Aussage kann einerseits eine bequeme Rechtfertigung sein, sich dem Unterricht entziehen zu können, oder ein echtes Interesse fehlt tatsächlich. Bei einem fehlenden Interesse können eine Vielzahl von Faktoren dafür verantwortlich gemacht werden: z. B. mangelndes Sachinteresse; mangelnde Selbstwirksamkeit; fehlende Relevanz des Inhalts für die Schülerin; Kritik an der Qualität des Unterrichts, die zu einem tiefen situationsbedingten Interesse beiträgt (siehe Krapp 1992, 2002 zum Interessenbegriff).
–«Die Fragen sind zu schwierig»: Wenn die Schülerin die Fragen als zu anspruchsvoll erlebt, geht dies mit der Erfahrung einher, dass ihre Fähigkeiten und ihr Wissen ungenügend sind, um die Fragen beantworten zu können. In der Folge sinkt die Anstrengungsbereitschaft (Wahl et al. 2001). Vielleicht will sie sich auch nicht exponieren und benützt die angebliche Schwierigkeit der Fragen als Ausrede.
Denn im mündlichen Unterricht wird das Können oder Nichtkönnen direkt für andere sichtbar.
Es gibt weitere Gründe, warum sich Lernende kaum oder gar nicht am mündlichen Unterricht beteiligen. Darüber sprechen die Lernenden im Fallbeispiel allerdings nicht.
Überlegen Sie für sich selbst: Melden Sie sich gerne und jederzeit bei einer Diskussion in einer Seminar-Veranstaltung