Regula Kyburz-Graber

Unterrichtssituationen meistern


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insgesamt mangelhaft.

      Es stellen sich zwei zentrale Probleme:

      –Warum gelingt es der Lehrperson nicht, die Lernenden zu vertiefter Arbeit zu bewegen?

      –Welches sind erfolgsversprechende Motivationsstrategien?

      Erklärungsansätze und Hintergründe

      Der inhaltliche und emotionale Übertrag aus dem Halbklassenunterricht in die ganze Klasse

      Die Lehrperson stellt bereits im Halbklassenunterricht fest, dass die Bearbeitung des Arbeitsauftrags nicht in der angestrebten Tiefe erfolgt. Zudem ist sie mit dem geplanten Programm nicht fertig geworden. Es ist der Praktikumsleiter, der vorschlägt, die Geschichte in der nächsten Lektion mit der Klasse noch einmal aufzugreifen. Offen bleibt, wie die beiden den Verlauf und die Ergebnisse des Halbklassenunterrichts analysiert haben und ob auch die Lehrperson selbst die Geschichte in einer weiteren Lektion nochmals aufgegriffen hätte. Es ist denkbar, dass das geplante Programm, mit dem die Lehrperson in den Halbklassen «nicht ganz durchgekommen» ist, keine weitere Lektion ‹füllt›.

      Das Format des Halbklassenunterrichts bietet eine individuellere Arbeit mit den Lernenden als der Plenumsunterricht. In der Wahrnehmung der Lernenden unterscheiden sich die beiden Unterrichtsformate vermutlich deutlich, sie haben eine bestimmte Erwartungshaltung gegenüber den beiden Formen. Es ist zudem unklar, ob im Halbklassenunterricht stets die Literaturarbeit im Zentrum steht, während in den Lektionen mit der ganzen Klasse andere Inhalte behandelt werden. Es ist in jedem Fall anzunehmen, dass es den Lernenden Mühe bereitet, das Thema des Halbklassenunterrichts in einem Plenumsunterricht weiter zu bearbeiten. Zudem scheint es, dass sie selbst den Eindruck haben, die Kurzgeschichte bereits ausreichend behandelt zu haben. Es gibt aus ihrer Sicht inhaltliche Wiederholungen: (1) bei der Weiterführung der Lektion und der damit verbundenen Tatsache, sich erneut mit der Geschichte auseinanderzusetzen und (2) bei der Textanalyse zu den «figures of speech», mit welchen sich die Lernenden gemäß Praktikumsleiter bereits auseinandergesetzt haben.

      Auch die Motivation der Lehrperson kann getrübt sein: Sie nimmt die Bearbeitung des Themas im Halbklassenunterricht als «zäh» wahr, was eine begeisterte Weiterführung des Themas in der Folgelektion beeinträchtigen kann und dadurch die Haltung der Lernenden schon von Beginn an entsprechend beeinflusst haben dürfte. Die tendenziell negativen Erfahrungen im Halbklassenunterricht (und später im Stundenverlauf mit der ganzen Klasse) erschweren es der Lehrperson vermutlich, den Unterricht motiviert durchzuführen und eine hohe Qualität des Unterrichts aufrechtzuerhalten.

      Der fehlende Sinn des Lernens: Ein möglicher Grund für die Verweigerung der Lernenden, sich erneut mit der Kurzgeschichte auseinanderzusetzen

      Die Lehrperson möchte in der Lektion mit der ganzen Klasse durch eine genauere Analyse in die Tiefen der Geschichte vordringen. Die Schülerinnen und Schüler sind jedoch der Ansicht, dass sie zur Geschichte schon alles gesagt haben und sehen keinen Sinn darin, sich noch einmal damit auseinanderzusetzen. Somit erkennen die Lernenden die «tiefere Ebene» der Geschichte nicht oder sie taxieren diese Vertiefung als nicht relevant. Für sie steht vermutlich das Verstehen der Geschichte im Vordergrund. Allerdings haben die Lernenden im 12. Schuljahr gewiss schon größere Erfahrung mit einer vertieften Textanalyse. Vielleicht sind aber die bisherigen Erfahrungen nicht sehr positiv. Eine weiterführende, vertiefende Textanalyse ergibt offensichtlich für die Lernenden keinen Sinn. Sie sind der Auffassung, dass sie im Halbklassenunterricht schon genügend aus der Geschichte herausgeholt haben. Es würde an der Lehrperson liegen, modellierend vorzuzeigen, wie sie selbst bei einer vertiefenden Analyse vorgeht. Gerade die Sinnhaftigkeit der Inhalte und Tätigkeiten gilt als ein zentraler motivationsfördernder Aspekt (Dubs 2009). Die Lernenden sollen an der Matura ihre Fähigkeit zur vertiefenden Textanalyse unter Beweis stellen. Inwiefern diese Tatsache den Lernenden kommuniziert wurde, bleibt aufgrund der Fallbeschreibung unklar.

      «Erwartungs-x-Wert-Theorien» als Erklärungsansätze für die Verweigerungshaltung

      Ein Erklärungsansatz für die fehlende Bereitschaft, sich erneut mit der Kurzgeschichte auseinanderzusetzen, stellt das spezielle Konstrukt der Lernmotivation dar, welches sich häufig auf «Erwartungs-x-Wert-Theorien» stützt. Die Voraussetzungen für eine gute Lernmotivation sind im vorliegenden Fall nicht gegeben: Die Lernenden haben eine geringe Erwartung an das Ergebnis, der Arbeitsauftrag hat für sie einen geringen Wert wegen der fehlenden Neuigkeit, sie fühlen sich unterfordert (weil «sie schon alles gesagt haben») oder überfordert, weil sie nicht wissen, was zusätzlich von ihnen verlangt wird. Diese Voraussetzungen führen zu einer geringen Anstrengungsbereitschaft. Wenn die Lehrperson allenfalls zu Beginn des Plenumsunterrichts auch noch ihre Unzufriedenheit über das bisherige Ergebnis im Halbklassenunterricht ausgedrückt hat, fehlt den Lernenden auch die Aussicht auf Erfolg, weil ihnen nicht klar ist, was genau zum Erfolg führen kann (vgl. zur Lernmotivation Heckhausen und Heckhausen 2010 oder Rudolph 2007).

      Das Konstrukt der Leistungsmotivation als mögliche Erklärung für die Verweigerungshaltung

      Auch die Leistungsmotivation kann in der Tradition der «Erwartungs-x-Wert-Theorien» angesiedelt werden und bezieht sich auf verschiedene Komponenten, die insgesamt das Leistungshandeln determinieren (Rudolph 2007). Dabei spielt die Erfolgserwartung, der Anreiz von Erfolg, die Wahrscheinlichkeit von Misserfolg sowie der (negative) Anreiz von Misserfolg eine entscheidende Rolle (Rudolph 2007): Eine Person nimmt die Schwierigkeit einer Aufgabe wahr und schätzt dadurch die Erfolgserwartung ab. Eine Leistungssituation wird dann gesucht, wenn die Aussicht auf Erfolg größer ist als die Aussicht auf Misserfolg, vorausgesetzt, die Fähigkeit, Stolz nach positiven Leistungsergebnissen zu erleben ist größer als die Disposition, sich für Misserfolge zu schämen (Rudolph 2007). Aufgrund einer geringen Aussicht auf Erfolg und eventuell sogar Furcht vor Misserfolg resultiert dagegen eine geringe Leistungsmotivation bei den Lernenden (Risiko-Wahl-Modell von Atkinson; vgl. hierzu Edelmann 2012; Rudolph 2007; Mietzel 2007). Für das vorliegende Fallbeispiel können auf der Basis dieses Modells unterschiedliche Ursachen für die Verweigerungshaltung der Lernenden ausgemacht werden:

      –Über- oder Unterforderung während den Lektionen: Bei erfolgsmotivierten Lernenden fällt die Tendenz, den Erfolg aufzusuchen, in beiden Situationen gering aus. Während bei einer Überforderung der Anreiz eines Erfolgs durchaus gegeben ist, fällt die Erfolgserwartung sehr gering aus. Bei einer Unterforderung verhält es sich umgekehrt: Eine hohe Erfolgserwartung trifft auf einen geringen Anreiz des Erfolgs. Das Streben nach Erfolg ist daher für Aufgaben mittlerer Schwierigkeit am größten. Misserfolgsorientierten Lernenden hingegen, welche bei Misserfolgen Scham empfinden und sie daher vermeiden wollen, entsprechen leichte oder schwere Aufgaben besser. Dies kann dadurch begründet werden, dass bei leichten Aufgaben die Wahrscheinlichkeit von Erfolg sehr groß und bei schweren Aufgaben ein Scheitern weniger unangenehm ist, da auch viele andere die Aufgaben nicht bewältigen können.

      –Geringer Anreiz von Erfolg: Ein geringer Anreiz von Erfolg ist nicht nur in Bezug auf das Anspruchsniveau innerhalb des Unterrichts gegeben, sondern kann auf verschiedene Gründe wie beispielsweise ein mangelndes intrinsisches Interesse oder geringe Gegenwarts- und/oder Zukunftsbedeutung zurückgeführt werden.

      –Geringer negativer Anreiz von Misserfolg: Ist beispielsweise ein mangelndes intrinsisches Interesse oder eine geringe Sinnhaftigkeit in Bezug auf die wahrgenommene Lektion gegeben, folgt daraus, dass bei einem Scheitern im Unterricht wenig Scham empfunden wird und daher ein geringer negativer Anreiz von Misserfolg die Folge ist.

      Abschließend kann angeführt werden, dass eine Abnahme der Leistungsmotivation auch dann entsteht, wenn Lernende erfahren, dass Anstrengungen dauernd nicht zu Erfolg führen und ihre Fähigkeiten nicht ausreichen, um die Aufgaben zu bearbeiten (stabile internale und stabile externale Zuschreibung bei einem Misserfolg; vgl. hierzu die Attributionstheorie von Weiner, beschrieben in Edelmann 2012; Rudolph 2007; Mietzel 2007).

      Einen weiteren Erklärungsansatz für die fehlende Bereitschaft der Lernenden, sich erneut mit der Kurzgeschichte zu befassen, liefert die Selbstbestimmungstheorie von Deci und Ryan (1993). Sie besagt, dass Motivation dann entsteht, wenn sich das Individuum als kompetent und selbstbestimmt erleben kann. Die Kompetenzerfahrung können die Lernenden im Fallbespiel nicht machen, weil für