Thomas Balmer

Unterrichtsentwicklung begleiten - Bildungsreform konkret (E-Book)


Скачать книгу

ist, entspricht dem Kriterium einer wirksamen Kooperation in einer professionellen Lerngemeinschaft nicht, dass sie nämlich grundsätzlich freiwillig sein sollte. Hingegen entspricht sie in der Anlage als fachbezogene Unterrichtsentwicklung einem anderen Kriterium. Zudem wird von der Erziehungsdirektion des Kantons Bern der Prozess mit zusätzlichen Ressourcen ausgestattet, sodass die kooperativen Prozesse weniger mit den alltäglichen Anforderungen konkurrieren. Im Weiteren sind Lehrpersonen gerade im Fall einer Lehrplaneinführung einem Weiterbildungsobligatorium gegenüber grundsätzlich weniger abgeneigt (Landert, 1999). Darüber hinaus kann die didaktische Gestaltung des Weiterbildungsangebots, etwa durch die Berücksichtigung individueller Voraussetzungen, produktive Prozesse unterstützen.

      5.2 Differenzierend mit Eingangsvoraussetzungen umgehen

      Unsicherheiten überwinden und unterstützen

      Was heisst das für die Gestaltung von Lerngelegenheiten für Lehrpersonen zur Weiterentwicklung ihres Unterrichtes, wenn Stress oder zumindest Unsicherheiten oder eine gewisse Unzufriedenheit eine Voraussetzung für eine Konzeptänderung sind? Für einen erfolgreichen Unterrichtsentwicklungsprozess scheint gerade auch das Gefühl der Sicherheit die zentrale Emotion für die Bereitschaft zum Lernen zu sein (Simons & Ruijters, 2004). Erfolgreiche professionelle Lernprozesse zeitigen denn auch emotional positive Ergebnisse: Gefühle des Meisterns, der Befriedigung und der Kompetenz (ebd.). Gemäss der Selbstbestimmungstheorie (Deci & Ryan, 1993) müssen ihre zentralen Elemente des Kompetenz-, Autonomie- und Verbundenheitserlebens unterstützt werden, damit intrinsische Motivation aufrechterhalten werden kann. Die Lernumgebung von Lehrpersonen im Zusammenhang mit einer Reform muss diese psychologischen Grundbedürfnisse befriedigen (Turner, Waugh, Summers & Grove, 2009; Schellenbach-Zell, 2009). Die didaktische Gestaltung von Lerngelegenheiten muss also unterschiedliche emotionale Ausgangslagen der Lehrpersonen (siehe die Einstellungstypen in Kapitel 4.1) bei unterschiedlichen Ausprägungen von Selbstwirksamkeitserwartungen und professioneller Kompetenz in Rechnung stellen und ein differenzierendes Angebot bereitstellen. Es muss die Überwindung von Unsicherheiten unterstützen oder aber durch Erzeugen von Dissonanzen zwischen eigenen Erwartungen und Überzeugungen und der tatsächlichen Praxis beziehungsweise deren Wirkung bei den Schülerinnen und Schülern allenfalls Unsicherheiten oder Unzufriedenheit mit dem eigenen Unterricht auslösen. Forschungsergebnisse deuten allerdings darauf hin, dass bei zu grosser Dissonanz oder zu grosser Lücke zwischen bestehendem und neuem Wissen Neues verworfen wird (McChesney & Aldridge, 2019; Timperley, Wilson, Barrar & Fung, 2007). In der Folge muss dann der erneute Aufbau von Sicherheit das Ziel sein. Weiterbildung realisiert dies offenbar wirksam durch eine Kombination von Reflexionsphasen und handlungspraktischen Erprobungsphasen, in denen die Lehrpersonen Kompetenzerfahrungen machen können (Lipowsky, 2014). Das Bedürfnis der Verbundenheit kann etwa durch positive Kooperationserfahrungen ermöglicht werden.

      Adressieren individuell ausgeprägter professioneller Kompetenz

      Unterrichtsentwicklung auszulösen, bedingt nicht nur das In-Rechnung-Stellen unterschiedlicher Emotionen angesichts der Reform, sondern, wie das Modell von Gregoire (2003) impliziert, auch unterschiedlicher Selbstwirksamkeitserwartungen bezüglich der Reformnachricht, kompetenzorientiert zu unterrichten, unterschiedlicher Überzeugungen und unterschiedlichen Wissens und Könnens. In Kapitel 3 wird auf die Tatsache verwiesen, dass Lehrpersonen unterschiedlich effektiv unterrichten, weil sie auch über unterschiedliches fachliches und fachdidaktisches Wissen verfügen. Ihr Wissen beziehungsweise ihre bestehende professionelle Kompetenz bestimmt auch die Wahrnehmung der Reformnachricht mit und «damit auch, ob die Aufforderung und Anforderung, kompetenzorientiert zu unterrichten, zur Herausforderung und zum Ausgangspunkt für einen Lernprozess wird» (Albisser & Keller-Schneider, 2010, S. 131).

      Wenn das Lernen der Schülerinnen und Schüler im Zentrum stehen soll, erhält seitens der Lehrpersonen derjenige Aspekt professioneller Kompetenz eine zentrale Bedeutung, der für die Ermöglichung des Lernens der Schülerinnen und Schüler genutzt wird: das fachspezifisch-pädagogische beziehungsweise fachdidaktische Wissen («pedagogical content knowledge»), weil es diejenigen Wissensstrukturen umfasst, welche etwa beim Diagnostizieren, Erklären, Aufgabenstellen, Sequenzieren, Begleiten und Beurteilen im Unterricht manifest werden. Auf Basis des Fachwissens und des pädagogisch-psychologischen Wissens stellt es die spezifische Wissensfacette dar, wie der fachliche Inhalt unterrichtet werden soll. Fachdidaktisches Wissen umfasst in aktuellen Konzeptionen die Komponenten

      1 der Überzeugungen der Lehrpersonen zum Zweck und den Zielen des Faches auf der jeweiligen Altersstufe,

      2 des Wissens, wie die Schülerinnen und Schüler bestimmte Inhalte lernen,

      3 des Wissens, was im Lehrplan vorher und nachher gelernt werden soll, um das aktuelle Thema einordnen zu können (inkl. Kenntnissen von Lehrmitteln und -materialien),

      4 des Wissens über fach- und themenspezifische Lehrstrategien sowie

      5 des Wissens, wie Lernen und das Gelernte im Fach beurteilt werden können (Park & Oliver, 2008).

      Zusätzlich unterstreicht auch die Empirie die Bedeutung dieser Wissensfacette von Lehrpersonen zusammen mit dem Fachwissen: «Mediiert über die Merkmale der Unterrichtsgestaltung sind Fachwissen und fachdidaktisches Wissen auch für die Fachleistung der Schülerinnen und Schüler substantiell bedeutsam […]. Fachwissen ist die Grundlage, auf der fachdidaktische Beweglichkeit entstehen kann» (Baumert & Kunter, 2006, S. 496; Hervorhebung im Original). Angesichts dieser Ergebnisse schliessen die Autoren, «dass sowohl das Fachwissen als auch das fachdidaktische Wissen von Lehrkräften grösster Aufmerksamkeit bedürfen» (ebd.). Das Wissen der Lehrpersonen erklärt einen erheblichen Teil der Leistungsunterschiede zwischen den Klassen (Baumert & Kunter, 2011b; Hill, Rowan & Ball, 2005), wobei das fachdidaktische Wissen den grösseren Anteil aufweist. Hohes fachdidaktisches Wissen korreliert positiv mit dem Fachwissen, aber das Umgekehrte ist nicht zwingend. Das heisst, viel zu wissen, wie ein Fach unterrichtet wird, bedingt auch viel Fachwissen, aber viel Fachwissen genügt nicht, um gut zu unterrichten. Zudem bestimmt das fachdidaktische Wissen erheblich die beiden fachspezifischen Basisdimensionen der Unterrichtsqualität mit, den kognitiven Aktivierungsgrad des Unterrichts und die konstruktive Lernbegleitung, was für das Fachwissen nicht zutrifft (Baumert et al., 2010). In ihrem Forschungsüberblick identifizieren es Coe et al. (2014) als den wichtigsten Einflussfaktor für die Lernfortschritte der Schülerinnen und Schüler. Daraus lässt sich eine hohe Bedeutung des fachdidaktischen Wissens für die Dozierendenkompetenz und die Weiterbildungsdidaktik fachbezogener Angebote ableiten.

      In Analogie zu dem, was der Lehrplan 21 in seinem Lern- und Unterrichtsverständnis in Rechnung stellt – Lernprozesse setzen am Vorwissen an –, kann auch für das Lernen der Lehrpersonen gefolgert werden, dass die Möglichkeit, an eigene Fragen und Konzepte oder, technischer gesprochen, an eigene Überzeugungen und fachdidaktisches Wissen anzuschliessen, bedeutsam ist. Das zeigt sich auch empirisch: Lindvall et al. (2018) folgern in ihrer Studie, dass eine gewisse Kohärenz der Inhalte einer Weiterbildung mit dem aktuellen Wissen und der Praxis von Lehrpersonen zu ihrer Wirksamkeit beiträgt. Zudem ist die Reflexion von Unterricht effektiver, wenn die Verbesserungsprioritäten der Lehrpersonen in Rechnung gestellt und sie ermutigt werden, ihren eigenen Handlungsplan zu entwickeln, der die eigenen beruflichen Bedürfnisse adressiert (Antoniou & Kyriakides, 2011).

      Das Gestalten von Weiterbildungen, die im Rahmen einer Bildungsreform verordnetes kollektives Lernen ermöglichen, die heterogenen Kompetenzen von Lehrpersonen berücksichtigen und mittels individueller Handlungspläne eine Entwicklung des Fachunterrichts unterstützen, ist für die Dozierenden eine anforderungsreiche Aufgabe.

      6 Dozierendenkompetenz

      6.1 Didaktische und kommunikative Herausforderungen

      Für die Gestaltung des Angebots einer Lerngelegenheit sind Dozierende sowie Weiterbildnerinnen und Weiterbildner, insbesondere auf der mikrodidaktischen Ebene, mitverantwortlich: Sie strukturieren die Lernerfahrung nicht nur durch die didaktischen Entscheidungen bezüglich Zielen, Methoden, Inhalten und Medien, sondern auch durch die Kommunikation mit