Thomas Balmer

Unterrichtsentwicklung begleiten - Bildungsreform konkret (E-Book)


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Dreiecks (Reusser, 2008) oder – erweitert um die materiale Dimension – des Tetraeders (Rezat, 2009) beschrieben werden. Als Modell hilft es, eine Vorstellung der Mehrdimensionalität unterrichtlicher Interaktionen zu entwickeln: Die Interaktionen im Unterricht spielen sich wechselwirkend zwischen Lerngegenstand, Lernenden, Lehrperson und Lehrmittel ab, den vier Eckpunkten des Tetraeders. Durch die Erweiterung dieser strukturellen Beschreibung unterrichtlicher Interaktionen auf die Ebene der Weiterbildung wird die im vorherigen Kapitel angesprochene doppelte Kompetenz zur Planung und Durchführung von Unterrichtsentwicklung unterstützenden Weiterbildungsangeboten deutlich: Das Tetraeder unterrichtlicher Interaktionen ist der Lerngegenstand in der Weiterbildung (siehe Abbildung 1.4) und die Interaktionen in der Weiterbildung lassen sich ihrerseits als Tetraeder modellhaft beschreiben (Prediger, Leuders & Roesken-Winter, 2017; Luft & Hewson, 2014).

      Abbildung 1.4: Das Tetraeder-Modell der Struktur der Interaktionen in der Weiterbildung (vgl. Prediger et al., 2017)

      Aus dem bisher Dargelegten und der Weiterbildungsforschung lassen sich folgende Merkmale eines Angebots ableiten, das wirksam werden kann: Häufig wird ein Fokus auf den Unterrichtsinhalt gelegt beziehungsweise Fachwissen als Merkmal wirksamer Weiterbildungen genannt, was allerdings nicht genügt (Kennedy, 2016). Vielmehr ist inhaltlich ein enger fachdidaktischer Fokus auf die Lernprozesse der Schülerinnen und Schüler wichtig, der ein Anknüpfen an unterrichtsbezogene Vorstellungen, fachdidaktisches Wissen und Alltagsfragen der Lehrpersonen ermöglicht. Modellhaft in Bezug auf das doppelte Tetraeder bedeutet dies, dass insbesondere die Dimension Schülerinnen und Schüler – Lerngegenstand auf der Ebene des Unterrichts fokussiert werden soll, von dem aus Zusammenhänge mit den anderen Dimensionen zu erschliessen sind.

      Es gibt Evidenzen, dass für eine Veränderung sowohl bei der Praxis als auch bei den Überzeugungen angesetzt werden soll (Hargreaves & Braun, 2012). Um dem Postulat des «engen» Bezuges gerecht zu werden, wird der Zugang über die Unterrichtspraxis bevorzugt. Das Anknüpfen an die Praxis und Berufserfahrungen nutzt den Vorteil der Weiterbildung gegenüber der Grundausbildung, «die ständig Antworten auf noch nicht gestellte Fragen liefert, [und] nichts hat, von dem weg sie in das Allgemeinere induzieren könnte», während die Weiterbildung «mit berufsbiografisch-episodischem Wissen arbeiten [kann] und entlang dessen, was die Teilnehmerinnen und Teilnehmer als Grenze, Rätsel, Problem, Frage erlebt haben oder ihnen zumindest dazu gemacht werden kann» (Neuweg, 2010, S. 45). Deshalb wird ein didaktisch induktiv und abstrahierend verlaufender Einstieg verfolgt (siehe Abbildung 1.3).

      Um den Bezug zum konkreten Unterricht realer werden zu lassen, können Artefakte des Unterrichts (als die materiale Ecke des Tetraeders der Weiterbildung, siehe Abbildung 1.4) genutzt werden. Der Bezug auf konkrete Aufgabenbeispiele oder Artefakte aus dem Unterricht unterstützt zudem das Entstehen eines kritischen, professionellen Dialogs eher, als wenn die Bezüge rhetorisch oder schlagwortartig bleiben (Ball & Cohen, 1999). Werden die Lehrpersonen aufgefordert, Artefakte aus dem eigenen Unterricht mitzubringen, dürfte wegen der direkten Betroffenheit in ihrem alltäglichen Handeln «emotionsgeladenere» Aspekte als Ausgangspunkt der Reflexion zur Sprache kommen, was die Aufmerksamkeit fokussieren hilft und den Lehrpersonen konkrete Anknüpfungspunkte bietet. Mit der anerkennenden Aufnahme der Artefakte, verbunden mit dem Anliegen, «good practice» weiterzuentwickeln, wird dem Erfahrungswissen der Lehrpersonen Rechnung getragen.

      Verschiedene Studien zeigen, dass Lehrerinnen- und Lehrerweiterbildung, die mittels solcher Unterrichtsrepräsentationen, insbesondere Videoaufnahmen, Reflexionen unterstützen, die professionelle Wahrnehmung von Unterricht und das Unterrichtshandeln verbessern (z.B. Kuntze, Krammer & Lipowsky, 2017; Krammer, 2014; Sherin & van Es, 2009). Als alternative Repräsentation sind auch Unterrichtsprodukte, insbesondere Lernspuren von Schülerinnen und Schülern wie Aufgabenlösungen, fotografische Dokumentationen von Lernsituationen oder Ähnlichem, als Ausgangs- und Anknüpfungspunkt für die Interaktionen denkbar und niederschwelliger zu beschaffen als Videoaufnahmen. Sie sollen helfen zu erfahren, was die Lernenden «in ihren Köpfen haben» (Rakoczy & Pauli, 2006, S. 225). Lernspuren können genutzt werden, um zwei Komponenten des fachdidaktischen Wissens zu verbinden. Sie können als Ausgangspunkt für die Beschreibung des Lernprozesses oder des Verständnisses der Schülerin oder des Schülers («Wissen, wie die Schülerinnen und Schüler bestimmte Inhalte lernen») und der Interpretation, was zu diesem Ergebnis beigetragen hat (was manchmal Kontextinformationen notwendig macht), dienen. Sie dienen anschliessend Rückschlüssen auf die Eignung des vorherigen Unterrichts und Überlegungen zu dessen möglichen Anpassungen («Wissen über fach- und themenspezifische Lehrstrategien»).

      Es kann davon ausgegangen werden, dass die Analyse von Artefakten ihren Ausgangspunkt in der Wahrnehmung des Geschehens durch die Lehrperson nimmt, was in der englischsprachigen Forschung als «professional vision» beziehungsweise «noticing», im Deutschen als «professionelle Wahrnehmung» bezeichnet wird (Möller, Steffensky, Meschede & Wolters, 2015; Seidel & Prenzel, 2007; Seidel & Stürmer, 2014; van Es & Sherin, 2002; Steffensky, Gold, Holdynski & Möller, 2015). Es besteht die Annahme, dass die professionelle Kompetenz, insbesondere das fachliche und fachdidaktische Wissen, stark beeinflusst, was im Unterricht und in den Artefakten wahrgenommen wird (siehe Abbildung 1.5).

      Abbildung 1.5: Professionelle Wahrnehmung als Grundlage der Reflexion von Unterricht (eigene Darstellung)

      Dem Sprechen über Unterricht voraus geht also die Wahrnehmung des Relevanten und dessen individuelle, wissensbasierte Verarbeitung. Die Verarbeitung besteht – explizierend – einerseits aus der Beschreibung einer wahrgenommenen Situation, das heisst ihrer präzisen Abgrenzung von anderen, und dem Konkretisieren in Bezug auf Unterrichtsmerkmale (z.B. kognitive Aktivierung), andererseits aus der Interpretation mit Erklären, Bewerten, insbesondere in Bezug auf Qualitätsmerkmale des Unterrichts, sowie dem Abschätzen von Wirkungen. Damit können die kognitiven Strukturen, die für Rolff (2014) «für die Schul- und Unterrichtsentwicklung unmittelbar handlungsrelevant» sind (ebd., S. 178), quasi veröffentlicht werden.

      Solche Reflexionen der eigenen Praxis, insbesondere am Gegenstand der repräsentierten Unterrichtspraxis, sind ein weiteres Merkmal wirksamer Weiterbildungsangebote (Lipowsky, 2014). In der Lehrerinnen- und Lehrerweiterbildung wird der Reflexion grosse Bedeutung zugeschrieben als Brücke zwischen Praxiserfahrungen und theoretischem Lernen, als mentaler Prozess der Strukturierung oder Restrukturierung von Erfahrung oder Wissen (Bolhuis, 2006; Clarke & Hollingsworth, 2002). Auch in der Lehrerinnen- und Lehrergrundausbildung kommt Praktika und ihrer Reflexion zur Entwicklung einer reflexiven Unterrichtspraxis («reflection-on-action», vgl. Schoen, 1983) ein zentraler Stellenwert zu (Hascher, 2012). Die Reflexion der Unterrichtserfahrungen wird als zentrales Mittel des Lernens von Lehrpersonen und ihrer Unterrichtsentwicklung gesehen. Das «Nachdenken über eigenen und fremden Unterricht» (Halbheer & Reusser, 2009) erlaubt Lehrpersonen, eine Erfahrung zu analysieren, ihr Sinn zu verleihen und das Wissen für folgende unterrichtliche Entscheidungen zu nutzen (van Es & Sherin, 2008; Borko, Jacobs, Eiteljorg & Pittman, 2008).

      Die Frage, wie produktive reflektierende Diskussionen beziehungsweise eine Kommunikationskultur entstehen, in denen Lehrpersonen Themen verbunden mit dem eigenen Unterricht und dem Lernen ihrer Schülerinnen und Schüler kritisch diskutieren (Borko et al., 2008; Alles, Seidel & Gröschner, 2019), ist zentral für diese Form der Lehrerinnen- und Lehrerweiterbildung. Erkenntnisse, wie produktive Klassengespräche entstehen, werden auch für die Lehrerinnen- und Lehrerweiterbildung als anwendbar betrachtet (Borko, Jacobs, Seago & Mangram, 2014; Elliott et al., 2009). Dabei sind jedoch Spezifika des Lernens Erwachsener zu berücksichtigen, weil zum Beispiel die bisherigen Erfahrungen, die aufgebauten Konzepte und Überzeugungen gefestigter sind und sie zwingend wissen müssen, warum sie etwas lernen sollen, das sie zudem an der Effektivität in der Praxis messen (Rohlwing & Spelman, 2014). Hier ist insbesondere die Kompetenz der Dozierenden gefordert, entsprechende Diskussionen zu moderieren, wie es in Kapitel 6 skizziert ist. Die Lehrpersonen selbst schreiben solchen