sondern auch halböffentliche Funktionen. Die Freie Deutsche Jugend (FDJ) etwa war ein Organ der Jugendpolitik in Schulen, Betrieben und Hochschulen. Nur Großorganisationen, wie etwa die Evangelische Kirche, konnten eine gewisse Eigenständigkeit bewahren. Unter ihrem schützenden Dach sammelten sich Ende der 1980er-Jahre oppositionelle Bürgerrechtler, die schließlich entscheidend zum Zusammenbruch des Regimes beitrugen. Friedens-, Menschenrechts- und Bürgerinitiativen, die vor allem durch die Leipziger Montagsdemonstrationen bekannt wurden, gehörten zu diesen Gruppen.
In der Wendezeit vom November 1989 bis zur Deutschen Vereinigung im Oktober 1990 lösten sich die Massenorganisationen der DDR in rasantem Tempo auf. Allerdings dehnten Organisationen aus dem Westen – Gewerkschaften, Wirtschaftsverbände, Kammern, Ärzteverbände, Wohlfahrtsverbände, Sportverbände – auch rasch ihre Strukturen nach Osten aus. Die schwächer und basisnah organisierten Bürgerinitiativen der Ex-DDR wurden von den etablierten Institutionen westlicher Provenienz geradezu aufgesogen.
Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks und dem Ende des Kalten Krieges, der für die Nachkriegsgesellschaft so bestimmend war, begann auch die hohe Zeit der neoliberalen Doktrin. Wirtschaftsliberale Überzeugungen wurden im Laufe der letzten beiden Dekaden so selbstverständlich, dass sie wie Sachzwänge funktionierten. Rückblickend, nachdem ungezügelte Finanzmärkte ungeahnte Risiken hervorbrachten, erscheint dieses Phänomen als »Marktgläubigkeit«.
Der Glaube an die Selbstregulierung der Märkte dominierte das Verhältnis zwischen Wirtschaft, Staat und Drittem Sektor. Diese Verschiebung zugunsten der Marktlogik seit den 1970er-Jahren bis heute wird uns im nächsten Kapitel weiter beschäftigen.
2. Paradigmenwechsel von der Bedarfs- zur Marktorientierung
Zu Zeiten der Rivalität wirtschaftspolitischer Weltbilder zwischen Ost und West gab es in der Bundesrepublik Deutschland einen ganz eigenen Weg der wohlfahrtsstaatlichen Programmatik: die Soziale Marktwirtschaft. Dieses Programm stammte vom »Vater des Wirtschaftswunders«, Ludwig Erhard (1949-1962 Bundeswirtschaftsminister im Kabinett Adenauer und 1962-1969 Bundeskanzler). Die sozialpolitische Rahmung der Marktwirtschaft gehörte in den Jahren des Kalten Krieges zum Grundkonsens der großen Volksparteien und Wirtschaftsverbände in der BRD.
Nach der Implosion des Ostblocks konnte sich der Westen im Wettstreit der politischen Systeme als Sieger fühlen, da sich die Maxime der marktmäßigen Steuerung schließlich durchsetzte. Im Laufe dieser Entwicklung kam seit den frühen 1990er-Jahren der Sozialstaat ins Gerede. Im Weiteren wurden dann sozialstaatliche Funktionen aktivierenden arbeitsmarktpolitischen Instrumenten untergeordnet.
Die Neuordnung des Sozialstaates auf der Basis geopolitischer Veränderungen war aber nur ein Aspekt des dann folgenden weitreichenden Paradigmenwechsels in der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik. Die Übertragung ökonomischer Sinnstrukturen auf den Rest der Gesellschaft entwickelte sich zu einem Megatrend. Der bildete zusammen mit technischen Innovationen einen mächtigen Sog für Umstrukturierungen.
Seit den 1980er-Jahren brachte die Betriebswirtschaftslehre in raschem Tempo immer neue Wettbewerbsstrategien und Managementmethoden hervor. Die Optimierung von Geschäftsprozessen im Sinne hoher Kundenorientierung und ständiger Qualitätsverbesserung erzielte zuerst in der Autoindustrie spektakuläre Erfolge. Darauf wurde das Prinzip schlanker Unternehmensführung (Lean-Konzept) zunächst in anderen privatwirtschaftlichen Branchen eingeführt und schließlich als »Lean Service Management« auch auf den Dienstleistungssektor und den Non-Profit-Bereich übertragen. Der Caritasverband Wiesbaden war z. B. eine von vielen Non-Profit-Organisationen, die in den 1990er-Jahren diesem Weg folgten (vgl. Zöller 1994). Wirtschaftlicher Druck und die Abhängigkeit vieler Trägervereine von staatlicher Finanzierung spielten dabei sicher eine große Rolle. Die veränderten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen im Zuge der Globalisierung erhöhten zu Beginn der 1990er-Jahre auch den Druck auf den öffentlichen Sektor. Zudem verstärkten die Kosten der Deutschen Einheit die Finanzprobleme öffentlicher Haushalte.
In dieser Situation fand die Idee Interesse, durch eine Verwaltungsreform die Haushaltskrise zu überwinden und die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands zu stärken. Dazu bot sich das Neue Steuerungsmodell (NSM) zur strategischen Steuerung öffentlicher Verwaltungen nach dem Tilburger Modell an. Die hoch verschuldete Stadt Tilburg hatte Instrumente der Betriebswirtschaft eingeführt, um aus der Ämterstruktur quasi eine Konzernstruktur zu formen. Diese Maßnahme folgte in weiten Teilen dem internationalen Trend des New Public Management (NPM). In vielen Kommunen wurden im Zuge des NPM neue finanzwirtschaftliche Instrumente eingeführt – z. B. die Doppik, die dem betrieblichen Finanzmanagement ähnelt. Das neue Steuerungsmodell ersetzte die bis dahin für Behörden typische Inputsteuerung (jährlicher Haushaltsplan) durch einen ergebnisbezogenen Ansatz. Dabei wird die Leistungserstellung öffentlicher Verwaltungen über »Produkte« gesteuert, die sich am Markt ausrichten.
Der Umbau von Behörden in moderne Verwaltungen mit dezentralen unternehmensähnlichen Organisationsstrukturen zog weitere Umstrukturierungen in Trägervereinen und Verbänden nach sich. Auch dort setzten sich weitgehend die Prinzipien des Lean Managements durch. Dazu gehört Zielvereinbarung ebenso wie Kundenorientierung und Qualitätsmanagement (vgl. Buestrich / Wohlfahrt 2008). Die Steuerung von »Dienstleistungsunternehmen« im öffentlichen wie im Non-Profit-Sektor erfolgt somit über Kontrakte auf der Basis von Produkt- oder Leistungskatalogen.
Nachdem Wirtschaftsstandorte miteinander weltweit konkurrierten, schien die grundsätzliche Neuordnung des Sozialstaates unausweichlich. Auf das Ausgabenvolumen des Sozialsektors wurde vor allem aus Wirtschaftskreisen hingewiesen. Es mehrten sich kritische Stimmen, die sozialstaatliche Aufwendungen nicht mehr als historischen Erfolg bewerteten, sondern als Belastung. Der Blickwinkel verschob sich von der Bedarfslage zu den Kosten. Dem entsprach die politische Forderung nach mehr Eigenverantwortung und Eigeninitiative der Bürger bei der Daseinsvorsorge. Der Staat solle sich aus der Versorgerrolle zurückziehen und seine Interventionen lediglich auf Anregung und Rahmensetzung beschränken.
So kam Anfang der 1990er die Rede von der Krise des Wohlfahrtsstaates auf. Die Zahl der Sozialhilfeempfänger hatte sich seit den 1970er-Jahren vervierfacht. Soziale Leistungen kamen zunehmend unter Rechtfertigungsdruck: Angesichts der Herausforderungen des demografischen Wandels sei der Sozialstaat in der bisherigen Form nicht mehr finanzierbar. Deshalb solle sich der Staat auf seine Kernaufgaben besinnen. Die richtigen Anreizsysteme und die Effizienz von Märkten seien in der Bekämpfung von Arbeitslosigkeit wirksamer und gerechter als die »soziale Hängematte«. Doch gleichzeitig sprudelten in den 1990er-Jahren reichlich steuerlich begünstigte Spekulations- und Aktiengewinne. Die Zahl der Vermögensmillionäre nahm in dieser Zeit überproportional zu. Die öffentlichen Kassen dagegen leerten sich.
Haushaltsprobleme und neoliberale Prinzipien, die den Primat der Wirtschaft suggerierten, prägten das politische Klima der 1990er-Jahre nicht nur in Deutschland. In allen westlichen Industrienationen begann man, die sozialen Sicherungssysteme nach dem Modell von Anreiz und Sanktion (Fördern und Fordern) umzubauen. Umverteilung als Mittel der Sozialpolitik entsprach nicht mehr dem Geist der Zeit.
Durch den weltweiten Wettbewerb gerieten Löhne und Wohlfahrtsleistungen unter Druck. So wurde in Deutschland mit der Agenda 2010 ein umfassendes Reformprogramm auf den Weg gebracht. Dazu gehörten Einschnitte beim Arbeitslosengeld, die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe sowie eine Flexibilisierung beim Kündigungsschutz. Im Jahre 2004 billigte der Bundesrat die Hartz-IV-Reformen.
Auch die Trägerlandschaft der Wohlfahrtspflege konnte sich dem Megatrend zu mehr Wettbewerb nicht entziehen. Mit der Einführung der Pflegeversicherung waren private Anbieter und freigemeinnützige Träger der Altenhilfe gleichgestellt. Damit wurde Trägerkonkurrenz erzeugt. Die Neufassung des SGB XI §80 von 1994 formulierte erstmals Wirtschaftlichkeitsregeln für Träger von sozialen Einrichtungen. Durch Präzisierungen der Sozialgesetzgebung (1996-2003) wurden Leistungsvereinbarungen und Qualitätsentwicklung bindend. Auf diese Weise regeln Rahmenverträge im Pflegebereich nicht nur Maßstäbe und Grundsätze für eine wirtschaftliche und leistungsbezogene Pflege, sondern auch Wirtschaftlichkeitsprüfungen und Personalrichtwerte. Leistungsvereinbarungen zwischen Kommunen und freien Trägern sind inzwischen in allen sozialen Bereichen Standard.
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