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Gestalttherapie in der klinischen Praxis


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Aufmerksamkeit zu widmen, da TherapeutIn und PatientIn gemeinsam an der Therapie teilnehmen (Hycner / Jacobs 1995).

      Dies ist jedoch nicht die Ethik, mit der ich mich hier vorrangig befassen will. Mir geht es um jene Ethik, die den Therapieprozess selbst aufrecht hält, ja, eine Voraussetzung für ihn ist – und die auch unserer menschlichen Existenz im »Mitsein« implizit ist (Heidegger 1953). Diese Ethik ist die Ethik unseres gemeinsamen phänomenalen Hintergrundes, der Lebenswelt. Sie orientiert unser Bewusstsein dahingehend, dass in der therapeutischen Beziehung zu jeder Zeit ethische Fragen auftauchen – zum Beispiel, wie wir unsere Honorare handhaben und wie wir uns unseren KollegInnen und SupervisorInnen gegenüber verhalten. Sie steht auch hinter unseren ethischen Kodizes und unserem Standard in der therapeutischen Praxis – und in Momenten beruflicher Isolation verankert sie unseren Glauben, dass wir in unserer Arbeit nie alleine sind. Dies ist keine Ethik, die uns sagt, was zu tun ist, was richtig oder falsch ist, sondern eine Ethik, die uns dafür öffnet, dass es da ein Richtig, ein Falsch oder eine Kontroverse darüber geben könnte, ob es richtig und falsch überhaupt gibt. Dies ist »situative Ethik« – eine Ethik einer anderen Ordnung.

      Mein Gebrauch des Begriffs »Ethik« als »situative Ethik« wird von der europäischen Philosophie beeinflusst. Nicht nur in Emmanuel Lévinas’ komplexer Philosophie bezeichnet »Ethik« oder »das Ethische« unsere grundlegende praktische konkrete Beziehung zueinander (Critchley 2002). Die Ethik ist ein Weg, »mit dem/der Anderen als Akt oder Praxis in Beziehung zu sein«, den Lévinas als »ethisch« beschreibt (Lévinas 1969, 12). Das »Ethische« ist eine »untrennbare interpersonelle« Struktur, auf der alle anderen Strukturen beruhen. Lévinas Ethik bietet keine der Regeln herkömmlicher Ethik; sie ist die »Voraussetzung meiner Existenz« und »definiert genau den Bereich, den ich bewohne« (Davis 1996 [Übers. a. J.]).

      »Die Ethik ist eine Optik« (Lévinas 2002). So wie uns die Struktur unserer Augen befähigt, Farben zu sehen und zu wählen, so sensibilisiert uns die situative Ethik und öffnet uns für die ethische Situation, in deren Rahmen wir einer Ethik des Inhalts und der Wahl fähig sind.

      Die situative Ethik kann in das gestalttherapeutische Paradigma des Organismus/ Umwelt-Feldes transferiert werden, das durch verschiedene Interpretationen der »Situation« ergänzt wird, wie ich später ausführen werde. Ich bezeichne auch diese Ethik als situativ, um zu betonen, dass sie ein verkörperter und sozialer Aspekt des Organismus/Umwelt-Feldes ist. Das In-Kontakt-Treten und die Kontaktgrenze, der Kern der Gestalttherapie, sind in einer ethisch organisierten Welt verortet. Die klinische Implikation von situativer Ethik als Plattform für die Praxis der Gestalttherapie zieht sich durch dieses Kapitel.

      Meine Abhandlung umfasst auch eine phänomenologische Dimension. Ich behandle die situative Ethik als eine Struktur der Lebenswelt und nicht so sehr als eine Ethik des Organismus/Umwelt-Feldes, um die erfahrungsbezogenen oder phänomenologischen Merkmale dieser Ethik hervorzuheben. Die Bedeutung, die dem Begriff der Lebenswelt in der Phänomenologie zugeschrieben wird, hat sich im Laufe der Geschichte der Philosophie verändert. Es herrscht jedoch Einigkeit darüber, dass es sich bei der Lebenswelt um eine Erfahrungswelt handelt. Folgender Aspekt der Lebenswelt ist aus den späteren Schriften von Edmund Husserl (1954, 145) entnommen: »Die Lebenswelt ist […] immer schon da, im Voraus für uns seiend, ist ›Boden‹ für alle […]. Die Welt ist uns […] vorgegeben«. Die Lebenswelt geht der Erfahrung voran. Ergänzend sei Martin Heideggers ähnliches Konzept der »Welt« (Heidegger 1962) angeführt, wonach die historische, kulturelle und soziale Welt, in die wir »hineingeworfen« werden, die Architektur ist, die dann das Fundament unserer Erfahrungswelt bildet. Ich würde sagen, dass unsere grundlegende ethische Perspektive zur Architektur der Lebenswelt gehört. Die situative Ethik ist Teil dieser Architektur innerhalb der Struktur der Welt.

      1.1 Die Situation und die Gestalttherapie

      Heutzutage bringen GestalttherapeutInnen »die Situation« in die Gestalttherapie, wenn auch mit unterschiedlichen Schwerpunkten (Staemmler 2006a; Robine 2011; Staemmler 2011; Wollants 2012). Die Zeit für diese Idee ist gekommen. Meiner Ansicht nach betont die Situation die konkrete existenzielle Dimension der Gestalttherapie.

      Wie Jean-Marie Robine ausführt, taucht der Begriff der »Situation« in Perls / Hefferlines und Goodmans Klassiker zur Gestalttherapie viel öfter auf als der Begriff »Feld«. Die Kontaktgrenze kommt im phänomenalen Ganzen der »Situation« vor, so wie der Grund oder Figur/Grund und das Auftauchen des Selbst (Robine 2011). Die Situation ist »eine Portion in der Zeit« als Erfahrungsganzes (vgl. Staemmler 2011), und die Kontaktsequenz im Mittelpunkt unserer Methode ist ein zeitlicher Prozess. Die »Situation« verortet das In-Kontakt-Treten ausdrücklich als zeitlichen Prozess innerhalb des breiter gefassten Begriffs des Feldes.

      Vom phänomenologischen und existenziellen Standpunkt aus betrachtet ist die Situation dort,

      […] wo sich die menschliche Existenz primär findet. […] Wem oder was auch immer begegnet wird, wird in einer Situation begegnet. Was auch immer getan wird, es wird aus einer Situation heraus und in Anbetracht weiterer Situationen getan. Die menschliche Existenz ist ihre eigene Situation. (Rombach 1987, 138).

      Die Situation hat also die Qualität menschlicher Existenzialität; sie ist Kennzeichen der menschlichen Existenz. Die Situation ist ein erfahrungsbezogener und existenzieller Teil des Feldes. Die situative Ethik ist demnach die Ethik der gestalttherapeutischen Situation – ein erfahrungsbezogenes und existenzielles Phänomen. Diese Situation entsteht aus dem Kontakt und ist gleichzeitig Grundlage für das In-Kontakt-Treten. Sie ist Teil der vorgegebenen Struktur der Lebenswelt, die immer für uns da ist – eine Struktur die für uns präsent ist, verfügbar, wenn wir Gestalttherapie praktizieren. »Ich werde von der Situation gemacht und nehme auch an der Erschaffung der Situation teil. Schon vor jeglichem Entstehen einer Gestalt«, schreibt Robine, »bildet sich bereits eine Situation, die der Grund für die kommenden Gestalten sein wird« (Robine 2011, 110). Für Robine ist es das »Es der Situation« (ebd., 103). Für mich ist es auch die Situation als Lebenswelt.

      1.2 Situative Ethik und Ethik des Inhalts

      Die situative Ethik ist keine »Ethik des Inhalts«. Die Ethik des Inhalts umfasst moralische, persönliche oder gesellschaftliche Werte, die uns erlauben, dieses oder jenes, »richtig« oder »falsch« zu wählen. Die situative Ethik ist vielmehr unsere unvermeidliche ethische Ausrichtung auf eine Ethik des Inhalts. Sie ist ein Aspekt der vorgegebenen Struktur der Lebenswelt, die erst ermöglicht, dass wir uns einer Ethik des Inhalts bewusst werden. Wir sind ethische Wesen, die sich mit einer Ethik des Inhalts auseinandersetzen, weil die ethische Sensibilität in der Struktur unserer Situation als situative Ethik eingebettet ist.

      2. Intrinsische, extrinsische und grundlegende Ethik

      Jede medizinische, psychotherapeutische oder pädagogische Theorie basiert auf einer Konzeption der Selbstregulation und der entsprechenden Wertehierarchie. Die Konzeption ist die Realisierung dessen, was der Wissenschaftler tatsächlich als den Hauptfaktor im Leben und in der Gesellschaft betrachtet. (Perls / Hefferline / Goodman 2006, Bd. 1, 88)

      Ein klinisches Beispiel.

      Eine Sitzung beginnt.

      Die Tür der psychotherapeutischen Praxis öffnet sich.

      Ein Mensch tritt ein. Die TherapeutIn und der/die Eintretende geben sich die Hand und beide setzen sich.

      »Was bringt Sie zu mir?« fragt die TherapeutIn.

      Der Mensch sagt: »Ich bin depressiv, traurig, besorgt …«

      Dann weint er/sie.

      Die PsychotherapeutIn wird sich als Nächstes nach den persönlichen Umständen erkundigen – ohne solche Informationen lässt sich keine Psychotherapie fortsetzen. Was, wenn es im Leben dieses Menschen einen Notfall gibt? Was dann? Worauf wird sich die »Arbeit« konzentrieren – auf das soziale Feld, das Leben zu Hause, Beziehung(en), die Familie, Drogenmissbrauch und so weiter? Auf das »umweltbezogene Feld«? Auf das »beziehungsorientierte Feld«? Auf das »spirituelle Feld«? Auf globale oder politische Fragen? Oder