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Gestalttherapie in der klinischen Praxis


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ist tatsächlich eine Welt, wie ich bereits ausgeführt habe, wenngleich eine phänomenale Welt. Die Gestalttherapie war mit dieser klinisch-sozialen Weltsicht selbstverständlich nicht allein, sondern teilte ihr Engagement für den sozialen Aktivismus z. B. mit der radikalen Psychoanalyse (Lichtenberg 1969).

      Unsere PatientInnen sind also nicht nur leidende Individuen, sie sind Teil des größeren sozialen Felds, dessen Institutionen gegen die guten und animalischen Impulse dieser Individuen als Organismen stehen (PHG; 2006, Bd. 1, 82) Diese Impulse besitzen die »Weisheit des Organismus« – eine »Weisheit«, die eine »Ethik des Augenblicks«, jedoch »nicht unfehlbar« ist (ebd.). Die Gestalttherapie wollte diese »Weisheit« nicht nur in einer Psychotherapie befreien, die den von der Gesellschaft am Individuum angerichteten Schaden heilt, sondern auch durch politische Aktion, um soziale Veränderungen zu bewirken (Perls F. 1992; Stoehr 1994; Perls / Stevens 1969; Aylward 2006; Bocian 2010). Hier zeigt sich die Neigung der Gestalttherapie, intrinsische und extrinsische Ethik zu verwechseln. Kann die Gestalttherapie in einer psychotherapeutischen Sitzung gleichzeitig eine klinische Praxis und ein Instrument sozialer Veränderung sein?

      Wenn GestalttherapeutInnen über Gestalttherapie schreiben, schreiben sie manchmal über die klinische Praxis. Manchmal schreiben sie über soziale, politische oder religiösspirituelle Themen, in denen die klinische Praxis zusammengefasst zu sein scheint (Levin 2010). »Wir sind ebenso eine politische wie eine therapeutische Kunst« (Aylward 2006 [Übers. a. J.]), schreibt ein zeitgenössischer Gestalttherapeut. Es ist unklar, ob er meint, dass diese zur selben Zeit praktiziert werden.

      Und ein anderer Gestalttherapeut geht noch weiter und schreibt:

      Die Gestalttherapie bietet mehr als nur ein Heilmittel. Sie beschäftigt sich mit der Heilung … Ein Heiler unserer Zeit muss sich um die Umwelt und die Gemeinschaft kümmern, indem er sich mit einer Reihe von sozio-ökonomischen Themen wie der Globalisierung befasst, wie auch mit der transpersonalen und spirituellen Innerlichkeit der Seelen der Menschen. (Levin 2010, 147 [Kursivierung: D. Bloom; Übers. A. J.])

      Wie unterscheidet sich diese Beschreibung von der Berufung eines Priesters?

      Welche persönlichen Überzeugungen auch immer aus den humanistischen, spirituell-sozio-politischen Idealen der Gestalttherapie entstehen, so handelt es sich immer um eine extrinsische Ethik des Inhalts, die für die Welt als Ganzes heilsam sein mag. Vom Standpunkt der klinischen Psychotherapiepraxis aus gesehen sind diese Überzeugungen jedoch extrinsisch – und können sich potenziell intrusiv auf sie auswirken. Die persönliche ethische Agenda, die von der PsychotherapeutIn in die Therapiesitzung getragen wird, kann zu der Norm werden, an der eine auftauchende Figur gemessen wird. Perls, Hefferline und Goodman (2006) schreiben, dass »der Patient … sich selbst so gut wie möglich in Übereinstimmung mit der Konzeption des Therapeuten erschaffen [will]« und sagen weiter: »[ist] es offensichtlich wünschenswert, eine Therapie zu entwickeln, die so wenig normativ wie möglich ist und statt dessen versucht, so viel wie möglich aus der Struktur der aktuellen Situation im Hier und Jetzt zu machen« (PHG 2006, Bd.1, 91 f.). Doch die PatientIn und die TherapeutIn sind Teil des größeren sozialen Felds. Lässt sich die Therapie davon trennen? Gibt es einen Mittelweg?

      In der Gestalttherapie wird die Psychopathologie als Störung an der Kontaktgrenze verstanden (Spagnuolo Lobb 2007d; Francesetti / Gecele 2009). Diese Störungen werden von PatientIn und TherapeutIn als ästhetische (gefühlte) Aspekte des In-Kontakt-Tretens unmittelbar erlebt (Bloom 2003). Unsere eigene phänomenologische Methode verlangt, dass wir extrinsische irrelevante Annahmen beiseitelegen (ausklammern), damit wir unser Augenmerk auf das richten können, was in der Sitzung entsteht (Bloom 2009; Crocker 2009; Philippson 2009; Yontef 2009).

      Natürlich werden das klinische Know-how und die klinische Weisheit und die klinischen Standards der PsychotherapeutIn nicht ausgeklammert. Sie bleiben verfügbarer Hintergrund, da sie Teil der grundlegenden Ethik der Psychotherapie sind. Wie könnte es die Therapie ohne sie geben? Auch das Wissen um die Außenwelt besteht weiterhin als Hintergrund. Eine Sitzung kann schließlich nicht hermetisch abgeschlossen sein. Der »Ausklammerer« ist »nicht ausklammerbar« (Stolorow / Jacobs 2006).

      Begünstigt das Ausklammern der extrinsischen Ethik des Inhalts eine unverantwortliche ethische Anarchie, die angeblich charakteristisch für das Paradigma des Individualismus ist (Wheeler 2000a)? KritikerInnen der Gestalttherapie, die innerhalb dieses Paradigmas praktizieren, werfen GestalttherapeutInnen vor, PatientInnen darin zu bestärken, sich jeglicher Autorität zu widersetzen und in ihrem Verhalten einer kühnen Autonomie zu frönen, ohne die Auswirkungen auf andere in Betracht zu ziehen (Yontef 2002). Es stimmt, dass Fritz Perls die Anti-Establishment-Gegenkultur anfeuerte (Perls F. 1992), aber es ist absurd zu behaupten, dass er für das extreme Ethos dieser Gegenkultur verantwortlich gewesen sei.

      Wir treten in die Phase der Quacksalber und Betrüger ein, die glauben, dass du geheilt bist, wenn du irgendeinen Durchbruch schaffst – und die jegliche Erfordernisse des Wachstums außer Acht lassen … Ich muss sagen, dass ich über das, was gegenwärtig vor sich geht, sehr besorgt bin. (Perls 2008, 10)

      Die ethischen Werte der Mach-dein-Ding-Autonomie wurden von manchen TherapeutInnen verfolgt, die sich unter dem Banner der kreativen Freiheit allzu sorglos ihren PatientInnen gegenüber verhielten. Manche GestalttherapeutInnen glaubten, dass dieses Verhalten durch Fritz Perls’ Gestalt Prayer, sein Gestaltgebet (Perls F. 1992), legitimiert würde. Diese Exzesse beschränkten sich natürlich nicht nur auf GestalttherapeutInnen. Innerhalb des frühen individualistischen Paradigmas wurde der Gestalttherapie oft vorgeworfen, PatientInnen zu beschämen. Konfrontativ arbeitende TherapeutInnen überredeten PatientInnen dazu, ihre »Widerstände zu durchbrechen« (Yontef 2002). Manche TherapeutInnen von damals haben den Ruf, sich außerhalb dessen verhalten zu haben, was heute für viele als ethische Leitlinien gilt. Die Gestalttherapie hat anscheinend unter diesem Paradigma einen schlechten Ruf bekommen. Aber muss die Gestalttherapie Buße für vermeintliche Verfehlungen in der Vergangenheit tun?

      Im Zusammenhang mit einem möglichen »Ethikkodex der Gestalttherapie« reflektieren Phil Joyce und Charlotte Sills, dass »die Gestalttherapie in den 1950ern entwickelt worden ist und sich für eine anarchistische Haltung einsetzte, die moralische Kodizes als überholte fixierte Gestalten betrachtete, die herausgefordert werden mussten. Die Ethik und der Verhaltenskodex wurden individuell festgelegt oder verhandelt«.

      Und weiter: »Es gab nur wenig Interesse am Potenzial für therapeutischen Schaden oder an Diskussionen von moralischen oder gemeinschaftlichen Werten. Wir glauben, dass dies zu vielen Beispielen missbrauchender therapeutischer Beziehungen geführt hat und auch weiterhin ein wichtiges Problem für einen gestalttherapeutischen Ethik- und Verhaltenskodex darstellt« (Joyce / Sills 2006 [Kursivierung D. Bloom]).

      Doch waren diese GestalttherapeutInnen nicht den »Gemeinschaftswerten und der Moralität« verpflichtet, die zu dieser Zeit und an diesem Ort herrschten? Kann man wirklich Fritz Perls’ lautere Absichten im klinischen Rahmen in Frage stellen, ungeachtet seiner Selbstdarstellung in nicht-klinischen Zusammenhängen? Die GestalttherapeutInnen der ersten Generation hatten ethische Leitlinien. Sie waren um das Wohlergehen ihrer PatientInnen bemüht. Das traf damals natürlich nicht immer auf alle von ihnen zu – und das tut es auch heute nicht. Es gab, gibt und wird in allen Berufen immer ethische Probleme geben. Alle Berufe brauchen ethische Kodizes, so wie alle Gesellschaften Gesetze brauchen. Und sicher sind GestalttherapeutInnen nicht die einzigen »Missetäter« in dieser Berufsgruppe, die sich Verstöße gegen die ethischen Leitlinien haben zuschulden kommen lassen.

      Außerdem ist es ein Kernaspekt der klinischen Theorie/Praxis der Gestalttherapie, fixierte moralische Kodizes infrage zu stellen, wenn unbewusste Introjekte bewusst werden und Gestalt annehmen. Manche moralischen Kodizes sind tatsächlich überholt und tauchen in Sitzungen als Einschränkungen des In-Kontakt-Tretens an der Kontaktgrenze auf. Dies ist allen GestalttherapeutInnen bekannt. Die Normen der zeitgenössischen Praxis fordern uns nicht länger auf, unsere PatientInnen zu provozieren, sondern konkret mit ihnen an der Kontaktgrenze zu sein und sensibel dem gegenüber zu sein, was auftaucht.

      Robert Lee hat einen wichtigen Beitrag zur gestalttherapeutischen Ethik geleistet. In seinem Essay Ethics: A Gestalt of Values / The Values of Gestalt. A Next Step (Lee 2004a),