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Gestalttherapie in der klinischen Praxis


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haben wir ethische Kodizes, aber sind es alles autoritäre Regeln, die wir schlucken müssen? Wir haben ethische Leitlinien, doch können wir sie selbst in die Hand nehmen und sie anwenden, wie es uns passt? Gibt es einen Unterschied zwischen autoritären Regeln und nur Regeln?

      An diesem Punkt können Emmanuel Lévinas’ Gedanken zu Ethik und Gerechtigkeit hilfreich sein. Seine Ethik bewegt sich innerhalb der Sphäre des Intersubjektiven und befasst sich nicht mit Gegenseitigkeit oder Gleichheit (Lévinas 1969). Lévinas bezieht sich auf Gerechtigkeit, sittliches Empfinden und Gleichheit als »politische« Fragen innerhalb einer Sphäre eines/einer Dritten, die »breitere Perspektiven eröffnet und ein Interesse für soziale Gerechtigkeit weckt« (Davis 1996, 82, Übers. A. J.) diesem/dieser »Dritten«, so schreibt Bauman in seinen Ausführungen zu Lévinas, »kann in dem Bereich der Gesellschaftsordnung […] begegnet werden, der von Gerechtigkeit beherrscht wird… Die Beziehung zwischen mir und dem/der Anderen muss … Raum lassen für den/die Dritte, eine(n) souveränen Richter(in), die zwischen zwei Gleichwertigen entscheidet« (Bauman 1993). Ohne diese(n) Dritten (n), der/die Recht spricht, gibt es keine Ethik des/der Gleichen und des/der Anderen, obwohl in Lévinas’ Philosophie der/die Dritte »Distanz zwischen mir und dem/der Anderen schafft« (Davis 1996, 82, Übers. A. J.) Daraus folgt, dass sich Lévinas’ Ethik in einer Welt ohne den/die Dritte(n) genauso wenig aufrechterhalten lässt, wie Psychotherapie nicht verantwortlich praktiziert werden kann, wenn die PsychotherapeutIn dem/der Dritten und daher ihren Praxisnormen, ethischen Kodizes, beruflichen Erfahrung und klinischen Weisheit gegenüber blind ist.

      Die situative Ethik als unsere ethische Vision ermutigt uns, uns auf der Suche nach einer Ethik des Inhalts an diese(n) Dritte(n) zu wenden. Diese Ethik des Inhalts umfasst berufliche Ethikkodizes, berufliches Fachwissen und klinisches Urteilsvermögen als grundlegende Voraussetzung für die Therapie selbst. Sie umfasst Kodizes, berufliches Fachwissen, das Lernen, Urteilsvermögen usw. in dem Maße, wie die TherapeutIn sie integriert hat und sie in die Arbeit an die Kontaktgrenze einbringt.

      Wenn eine ethische Entscheidung einer TherapeutIn nicht durch die Optik der situativen Ethik »gesehen« wird, wird die TherapeutIn nicht wissen, dass eine ethische Entscheidung zu treffen ist, sondern wird nur formelhaft vorgegebenen Verhaltensregeln oder -normen folgen. Durch die situative Ethik sehen wir, dass es um eine ethische Angelegenheit geht – und dass es daher einer Ethik des Inhalts, eines ethischen Kodex als Drittem, bedarf – sei es tatsächlich ein Kodex, eine Gemeinschaft von KollegInnen, Supervision oder jede andere Grundlage für eine Ethik des Inhalts, die eine intrinsische und grundlegende Unterstützung für die Therapie darstellen kann.

      Jetzt können wir offen sein für berufliche Verhaltenskodizes als dem relevanten extrinsischen Dritten. Sie sind innerhalb der grundlegenden Ethik der Psychotherapie kontextualisiert und werden nicht als irrelevante extrinsische Ethik eingesetzt, die in die klinische Praxis eindringt. In dieser Rolle fördert der/die Dritte Fortschritte in der Therapie, weil er/sie als Unterstützung für TherapeutIn und PatientIn fungiert. Diese(r) Dritte ist nicht einfach nur ein abstrakter oder auch konkret geschriebener Kodex, sondern kann eine Gemeinschaft von KollegInnen, Berufsverbänden, Instituten und SupervisorInnen sein.

      TherapeutInnen, die isoliert arbeiten und von solch einem/einer Dritten abgeschnitten sind, können sich angesichts eines ethischen Dilemmas in einer ethischen Verwirrung verlieren. Eine ordentliche berufliche Ausbildung stellt zwar keine Garantie dar, bietet jedoch Orientierung, weil es innerhalb des integrierten Hintergrunds der Ausbildung eine(n) ethischen Dritte(n) gibt. Und da niemand von uns isoliert ausgebildet worden ist, haben wir alle unsere sozialen Ausbildungserfahrungen als soziale Unterstützung im Hintergrund integriert. Unsere berufliche Gemeinschaft ist in der Struktur der Lebenswelt präsent, in der die situative Ethik eine bedeutende Struktur darstellt. Aber reichen diese integrierten Erfahrungen aus, um einen sicheren Weg aus der ethischen Verwirrung zu weisen? Ebenso könnte man die Frage stellten, ob eine TherapeutIn ohne professionelle Supervision praktizieren kann. Ein Ethikkodex, der das nicht voraussetzt, ist schwer vorbestellbar.

      Die situative Ethik verleiht uns TherapeutInnen unsere Fähigkeit für einen ethischen Blick. Sie führt uns zu ethischen Entscheidungen. Wir können sehen und mit unserer besten Urteilsfähigkeit ethische Entscheidungen treffen, die sich auf unsere Erfahrung, berufliches Fachwissen, unsere Ausbildung und unser Wissen um die berufliche Ethik und Kodizes stützt – innerhalb unserer Gemeinschaft von KollegInnen. All diese Faktoren sind Komponenten der grundlegenden Ethik, auf der die Psychotherapie begründet ist. Die situative Ethik ist Teil der Struktur des größten sozialen Felds, der Lebenswelt, die selbst eine isoliert arbeitende TherapeutIn »bewohnt«.

      3. Schlussfolgerung

      Die Gestalttherapie verdient es, stolz auf ihre Ethik zu sein. Wir GestalttherapeutInnen sollten uns gegenseitig ermuntern, unsere Ethik der besten Absichten für soziale Reformen und Aktivismus so weit nach außen zu tragen, wie unsere Vision reicht. Gleichzeitig sollten wir unsere Verpflichtung zu klinischer Arbeit als phänomenologische PsychotherapeutInnen nicht aus den Augen verlieren und als solche mit der unmittelbaren Erfahrung arbeiten, die an der Kontaktgrenze entsteht. Dies ist die Kraft unserer klinischen Methode. Unsere einzigartige klinische Vision ist gefährdet, wenn eine extrinsische Ethik des Inhalts in die intrinsische Ethik der Gestalttherapie eindringt, die die Grundlage unserer Arbeit ist. Bis zu einem gewissen Grad macht uns unsere Ethik der besten Absichten, die uns dazu bewegt, soziale ReformerInnen und humanistische PsychotherapeutInnen zu sein, anfällig für ein solches Eindringen. Zudem können wir uns nicht auf die gefühlte »Wahrheit« unserer Arbeit an der Kontaktgrenze verlassen, um uns der Gerechtigkeit unseres Verhaltens gegenüber unseren PatientInnen sicher zu sein – nur seiner klinischen Richtigkeit.

      Wir sind in dieser Lebenswelt zuhause und sehen einander durch die Optik der situativen Ethik, unserer ethischen Sensibilität. Die situative Ethik macht uns offen für »richtig« und »falsch«. In diesem Rahmen ist jeder und jede von uns fähig, eine Ethik des Inhalts zu formulieren und persönliche Welten gemäß den sich ständig wandelnden Normen der menschlichen Natur aufzubauen.

      »Der Mensch strebt nicht danach, gut zu sein; vielmehr ist es menschlich, das Gute anzustreben« (Perls / Hefferline / Goodman 2006, Bd.1, 163). Die situative Ethik ist der Blick, mit dem jeder und jede von uns das Gute sehen kann, nach dem jeder und jede von uns auf unterschiedliche Weise nur streben kann.

      Richard E. Lompa

      Dieses Kapitel, das sich mit ethischen Fragen in der Praxis der Gestalttherapie auseinandersetzt, ist ein sehr wichtiger und interessanter Beitrag zum Wesen dieser Publikation, die ein breites Spektrum praktischer Anwendungen dieser Therapie bietet. Ethischen Überlegungen wurde in der Vergangenheit in der theoretischen gestalttherapeutischen Literatur oft nur minimale Aufmerksamkeit zuteil. Ausbildungsprogramme für GestalttherapeutInnen haben erst in den letzten zehn Jahren diese Themen in ihr Curriculum aufgenommen. Daher ist jeder Versuch willkommen, dieses Thema in den Fokus der gestalttherapeutischen Praxis zu bringen und Richtlinien zu bieten, die der GestalttherapeutIn helfen, mit den komplexen Situationen umzugehen, mit denen sie/er sich konfrontiert sieht. Wie viele meiner KollegInnen habe auch ich oft mit dem Auftauchen von ethischen Fragen und/ oder Dilemmata zu kämpfen, die sich im Beziehungs-Feld abspielen, einem so unverzichtbaren Konzept unserer Praxis. Dieses Kapitel zu lesen hat mein Bewusstsein im Hinblick auf meine persönliche Position in meinem Beitrag zum Beziehungsfeld gesteigert, das an der Kontaktgrenze entsteht.

      Dan Bloom verdient Respekt und Anerkennung für seine dynamische und eingehende Auseinandersetzung mit einem großen Teil der aktuellen Literatur. Diese Publikationen tragen zu genauen Betrachtungen der Auswirkungen bei, die ethische Konzepte auf unsere Arbeit als TherapeutInnen und auf jene Menschen haben, die GestalttherapeutInnen konsultieren. Das Konzept der situativen Ethik als Ethik des phänomenalen Grundes, der Lebenswelt, ist ein Konzept, das zum Kern unseres Menschseins in Interaktion mit unseren Mitmenschen vordringt. Dieses Konzept ist Ausdruck der aktuellen Überlegungen des Feldes, die die Gestalttherapie als Psychotherapie der Situation hervorheben.

      Goodman (Perls / Hefferline / Goodman 2006, 21 ff.) stimmt mit den Gestalttheoretikern überein, wenn er postuliert,