Mir ging es ja gut.
Trotzdem habe ich zwei weitere Ärzte aufgesucht, die mir genau dasselbe Medikament in derselben Dosis verschrieben. Daraufhin war ich einsichtiger und dachte: Wenn dir drei Ärzte, einer davon deine Mutter, unabhängig voneinander sagen, dass das Medikament gut für dich ist, dann sei nicht bockig und nimm es. Alle drei versicherten mir, dass es ein komplett harmloses Mittel wäre. Der Punkt sei eher der, dass ich es bis ans Ende meines Lebens schlucken müsste. Ich begann also mit dem Rest meines Lebens.
Nach einer gewissen Zeit bemerkte ich, dass ich kaum aus dem Bett kam, was allerdings rein gar nichts mit Sex zu tun hatte. Ich brauchte ewig, um aufzustehen. Für mich eine vollkommen neue Erfahrung, die mir äußerst ungelegen kam. Üblicherweise mache ich die Augen auf, bin wach, springe aus dem Bett und bin bereit für den jungen Tag. Auf einmal brachte ich die Augen nicht mehr auf, wurde nicht und nicht wach, blieb eine Dreiviertelstunde länger im Bett liegen als früher und hatte rein gar nichts übrig für den jungen Tag.
Die Erklärung dafür fand ich im Beipacktext meines Betablockers. Diese Präparate sind nicht nur gängige, sondern auch sehr gut entwickelte Medikamente. Bluthochdruck ist so verbreitet wie Schnupfen in der Übergangszeit, nur dass er das ganze Jahr über da ist. Die Nachfrage ist also riesig und der Markt noch viel riesiger. Außerdem gehören Betablocker zu den Medikamenten, die nicht heilen, sondern Symptome kontrollieren. Jahrelang und unverzichtbar. Die Pharmaindustrie liebt solche Mittel und steckt gern Geld in sie hinein, weil es sich so schön rentiert. Damit steigert sich die Qualität stetig, man bekommt gute Ware. Und die medizinischen und technologischen Möglichkeiten eröffnen immer neue Verbesserungen. Kein Medikament ist jemals perfekt.
Viele Menschen, die Medikamente nehmen, leben mit der einen oder anderen Nebenwirkung. Oft sind sie weit erträglicher als die Symptome, die man ohne das Präparat hätte. Oft sind sie lebensnotwendig, oft das kleinere Übel. Und oft hat man die Wahl, ob man lieber mit den Symptomen oder den Nebenwirkungen lebt.
Egal wie ausgereift mein Betablocker also war, in seiner Funktion als Blutdrucksenker war er kein Aufputschmittel. Er beeinflusste meinen Tagesrhythmus, er beeinträchtigte meine Lebensqualität, und irgendwann, so fürchtete ich, könnte er sich auf meine Psyche auswirken. Und das wollte ich nicht.
Obwohl Bluthochdruck an sich keine Erkrankung ist, kam ich trotzdem nicht umhin, ihn zu behandeln. Lässt man es einfach so laufen, wird aus einer physiologischen Veränderung irgendwann ein echter Schaden. Früher oder später hat man ein Problem, mitunter ein gravierendes. Ich musste mir etwas einfallen lassen.
Und stieß wieder auf das Fasten.
Den letzten Impuls für die Wahl dieses Forschungsthemas gab mir der Biochemiker Professor Frank Madeo, mein langjähriger Mentor und Doktorvater. Allerdings nicht gleich. Zuerst ließ er mich fast über beide Ohren in die Altersforschung eintauchen, bis ich kurz vor Beginn meiner Dissertation stand. Wir arbeiteten gemeinsam am Institut für Molekulare Biowissenschaften der Karl-Franzens-Universität in Graz. Ich war Teil seiner Gruppe und wurde nach und nach ein immer wichtigeres, immer verzahnteres Rädchen im alltäglichen Laborleben. Wir beschäftigten uns gerade Tag für Tag mit den Auswirkungen des Fastens auf den Körper und das Altern, als wir irgendwann zusammensaßen und auf meinen Blutdruck zu sprechen kamen. Ich erzählte ihm von meinem Medikament und meinen Bedenken.
Professor Madeo sah mich an und sagte: »Slaven, du sitzt an der Quelle und bist blind. Probier’s doch mit Fasten, das könnte funktionieren.«
Professor Frank Madeo ist kein Arzt, sondern Biochemiker wie ich, und es gab nur wenige wissenschaftliche Grundlagen für diesen Vorschlag. Trotzdem war mir sofort klar, dass das tatsächlich funktionieren könnte. Signifikante Effekte des Fastens auf den Blutdruck waren nach unserem Erkenntnisstand durchaus denkbar. Franks Idee brachte mich auf ein Experiment.
Fasten statt Betablockern.
Selbstversuche sind in der Wissenschaft keine Seltenheit. Gerade in der Altersforschung gibt es viele gute Leute, die die Dinge an sich selbst austesten. Genau das machte ich. Ich setzte das Präparat ab und begann, Fasttage einzulegen.
Und schau! Wir hatten Glück: Es funktionierte.
Frank Madeo hat mich wissenschaftlich begleitet und vorgegeben, in welche Richtung sich die Forschung bewegen sollte. Beruflich habe ich ihm zu danken, dass ich dorthin gekommen bin, wo ich jetzt stehe. Noch dankbarer aber bin ich dafür, dass er mich auch emotional begleitet hat. Er war zwar nicht der Erste, durch den ich auf das Fasten gestoßen bin. Aber durch ihn bin ich nicht nur meine Betablocker, sondern auch meinen Bluthochdruck losgeworden.
Ich habe das Medikament jedenfalls irgendwann abgesetzt. Allerdings würde ich niemandem, der an massiv erhöhtem Blutdruck leidet, empfehlen, einfach so drauflos zu fasten, ohne das mit einem Arzt zu besprechen. Rein wissenschaftlich haben wir noch nicht einwandfrei geklärt, wie genau, unter welchen Bedingungen und ob es bei jedem funktioniert. Meine Werte waren auch keine Katastrophe, sondern bloß minimal aus dem Ruder. Sie pendelten gerade einmal zwischen normal und leicht erhöht.
Schön und gut, mag sich jetzt jemand denken, einen pipifeinen Blutdruck hat er, großartig. Seine Richtung im Leben hat er gefunden, super. Ein paar weibliche Methusalems hat er in der Familie, wunderbar.
Aber was genau hat das mit Fasten zu tun?
Was passiert dabei in unserem Körper?
Und vor allem: Was hat das mit dem Altern und unseren Zellen zu tun?
Diese Fragen haben wir uns auch gestellt und nach vielen Jahren der hochklassigen Forschung sind wir nah an der Wahrheit dran.
ALT WERDEN ODER JUNG BLEIBEN
Altersforschung ist total uninteressant.
Wenn ich mit jemandem von Altersforschung rede, sehe ich das Grauen in den Augen meines Gegenübers aufblitzen. Dritte Zähne, grauer Star, neue Hüften, es rasselt nur so herunter hinter der gekräuselten Stirn. Das Alter malt da seine Bilder gerade in den dunkelsten Farben.
Das Wort Forschung wird aufgefressen von dem größten Schreckgespenst der Menschheit, dem Altwerden. Dem Nicht-mehr-schön-Sein. Dem Nicht-mehr-mit-dabei-Sein. Dem Nicht-mehr-Mitkönnen. Dem abenteuerlosen Dasein am Rande. Dem Tod.
Alter ist nicht nur die Lebensphase der Weisheit am Lebensende. Alter ist das Letzte in der Ära des Jugendwahns. Und das ist jetzt gar nicht zeitlich gemeint.
Wenn ich aber von der Langlebigkeitsforschung rede, sehe ich die Neugier in den Augen meines Gegenübers aufblitzen. Glatte Haut, reges Hirn, gute Kondition, die Augenbrauen machen richtige Luftsprünge nach oben. Der Traum von der ewigen Jugend malt sogleich Bilder in den leuchtendsten Farben.
Das Wort Forschung erhebt sich wie ein Versprechen über die Sterblichkeit des Menschen. Langlebigkeit ist kein langsames Dahinsterben. Langlebigkeit ist ein Mitspielen, ohne auf die Reservebank zu müssen. Langlebigkeit ist das Beste am Menschen der Zukunft.
Und das ist ganz generell gemeint.
Gefühlsmäßig besteht ein gewaltiger Unterschied zwischen möglichst langsam alt werden und möglichst lange jung bleiben. Heißt eigentlich dasselbe und doch liegen Welten dazwischen.
Beim Altwerden haben wir den Fortschritt in der Medizin, die Sorge um die Pflege und die Hoffnung auf einen gnädigen Tod im Schlaf im Kopf.
Das Jungbleiben suggeriert uns die Möglichkeit, die Natur auszutricksen. Und dabei setzen wir alles auf die Forschung.
Auf einmal ist die Altersforschung total interessant. Gleichzeitig klingt das alles sehr abstrakt, fast utopisch.
Die Lebenserwartung der Menschen in Europa liegt für Frauen bei 81 und für Männer bei 75 Jahren. Japanische Frauen sind mit 87 die ausdauerndsten Erdenbürger. Bei den Männern bringen es die Bewohner des kalten Islands auf heiße 81 Jahre. Island und Japan, nicht unbedingt Nachbarländer. Allein das deutet leise darauf hin, dass die Aussicht auf ein langes Leben nicht so sehr in den Genen liegt. Wenn die Bedingungen so unterschiedlich sind, muss noch etwas anderes mitspielen.
Tatsächlich