Damir Skenderovic

Die 1968er-Jahre in der Schweiz


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Tony Judt schreibt, beginnen «junge Leute zum erstenmal in der europäischen Geschichte, selbst Geld auszugeben und einzukaufen». Für viele Jugendliche gehören Shopping, Kino- und Konzertbesuche, Schallplatten kaufen und im Freien Transistorradio hören zu den begehrten Freizeitbeschäftigungen, und sie manifestieren damit ihre Unabhängigkeit und Mobilität. Die Unterhaltungs- und Werbeindustrie ihrerseits entdeckt die Jugend als zunehmend zahlungskräftige Konsumentengruppe und sieht in den «Teenagern» ein sozioökonomisches Modell, das zu kommerziellen Zwecken genutzt werden kann. Der Schwindel erregende Aufstieg der Schallplattenindustrie verdeutlicht das Potenzial dieses neuen Marktsegments. Allein im Bereich der Rockmusik steigen in den USA die Gewinne der Branche zwischen 1955 und 1973 von 277 Millionen auf 2 Milliarden Dollar. 1970 geben Jugendliche bis 19 Jahre fünfmal so viel Geld für Schallplatten aus wie 1955. In der BRD besitzen 1960 nur gerade mal 22 Prozent der 20- bis 25-Jährigen einen Plattenspieler, 1967 sind es bereits 65 Prozent der unter 21-Jährigen.

      Mit den demografischen Entwicklungen der westlichen Gesellschaften wächst die Alterskohorte der Jugendlichen enorm und führt zu einer Verjüngung der Gesellschaft. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzt ein Babyboom, ein Anstieg der Geburtenraten, ein. Zwischen 1950 und 1970 nimmt die Bevölkerung in der BRD um 28 Prozent zu, in Schweden um 29, in Frankreich um 30 und in den Niederlanden um 35 Prozent. In Frankreich ist 1967 jeder dritte Einwohner jünger als 20 Jahre. Auch im Bereich der Bildung kommt es zu grundlegenden Veränderungen. In den 1950er-Jahren verlässt ein Grossteil der Kinder die Schule zwischen dem 12. und dem 14. Lebensjahr und kommt so nur in den Genuss einer Volksschulausbildung, während weitere Ausbildungsjahre ein Privileg der Jugendlichen der Mittel- und Oberschicht sind. Die Universitäten sind noch weitgehend einer kleinen Elite vorbehalten. In Ländern wie Grossbritannien und der BRD gibt es in den 1950er-Jahren gerade mal 100 000 Studierende, was etwa 0,2 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmacht. Allmählich werden die Bildungssysteme reformiert, zunächst mit einer Erhöhung des Schulabschlussalters und dann mit der Öffnung der Gymnasien und Universitäten. 1968 studieren über 400 000 Jugendliche an deutschen Universitäten, in Italien absolviert einer von sieben Jugendlichen ein Studium, 20 Jahre zuvor war es einer von 20.

      Mit dem zunehmend individualisierten Konsumverhalten seit den 1950er-Jahren scheinen die Menschen über unbeschränkte Auswahlmöglichkeiten zu verfügen. Doch in anderen Lebensbereichen wie Familie, Schule und Beruf bleibt der kollektive Zwang traditioneller Werte und Verhaltensmuster weitgehend erhalten. Obwohl Massenmedien und Werbeindustrie den Eindruck grenzenloser Möglichkeiten erwecken, sind im gesellschaftlichen Mikrobereich die sozialen Beziehungen, insbesondere im familiären Leben, noch stark durch kleinbürgerliche und konservative Vorstellungen von Moral, Sexualität und Autorität bestimmt. Von dieser Ungleichzeitigkeit gesellschaftlicher Entwicklungen ist die damalige Jugend am stärksten betroffen. Mit der Ausweitung der Freizeit haben Jugendliche das Gefühl, sie besässen ausserhalb von Familie, Arbeit und Ausbildung ein Selbstbestimmungsrecht und könnten in diesen Bereichen auch eine Unabhängigkeit einfordern. Stattdessen sind sie tagtäglich mit dem Druck überlieferter Ordnungsmodelle und konformistischer Haltungen der Mehrheit der Gesellschaft konfrontiert.

      Mit dem neuen Selbstbewusstsein, das Jugendliche als soziale Kraft an den Tag legen, wollen sie nicht nur die eigenen Geschicke bestimmen, sondern beginnen sich auch bewusst gegen die als dominant empfundene Erwachsenenkultur abzugrenzen und gesellschaftlichen Konventionen zu widersetzen. Sie stellen ihren Generationszusammenhalt selber her, indem sie Moden, Trends und Lebensstile als verbindende kulturelle Codes und soziale Praktiken nutzen. So wird die Jugend zur wichtigsten Trägergruppe einer kulturellen Aufbruchsstimmung, die sich zunächst vor allem in den Bereichen Musik, Literatur und Mode ausdrückt. Ausgangspunkt der aufkommenden Jugendkultur sind die USA, doch rasch breitet sie sich auch in Europa aus und ist daher – wie Eric Hobsbawm bemerkt – durch einen erstaunlichen Internationalismus geprägt. Blue Jeans und Rockmusik werden im wahrsten Sinn des Wortes zu Markenzeichen der modernen Jugend.

      Rock’n’Roll, diese von weissen Musikern gespielte und mit Hillbilly verwässerte schwarze Musik, beginnt ab Mitte der 1950er-Jahre seinen Siegeszug durch die globale Musikwelt. Die junge Generation feiert Bill Haleys «Rock around the Clock» (1955) als musikalischen Befreiungsschlag und Elvis Presley als König des Rock’n’Roll, während die Erwachsenen darin eine Unkultur sehen und diesen «Krach» am liebsten verbieten möchten. In der ersten Hälfte der 1960er-Jahre kommt es im Fahrwasser des kommerziellen Erfolgs der Liverpooler Band The Beatles zum weltweiten Aufstieg der Beatmusik und regelrechten Begeisterungsstürmen unter den «Teenies». Auch Jazz, in Europa seit den 1930er-Jahren vor allem als Musik der Intellektuellen und Künstler in Cafés und Bars verbreitet, erfährt eine beachtliche Verbreitung. Nun sind Jazzbands auch ausserhalb der urbanen Zentren Westeuropas live zu hören und gehören zum Programm zahlreicher Tanzveranstaltungen.

      Unter der Oberfläche des aufkommenden popkulturellen Mainstream entstehen aber auch erste jugendliche Subkulturen, die zwar durchaus am Aufstieg der kommerzialisierten Massenkultur teilhaben, doch in ihrem Auftreten eine neue Art von Rebellion und Provokation ausdrücken. Mit den «Teddy-Boys» in Grossbritannien, den «Blousons noirs» in Frankreich, den «Halbstarken» in der BRD und den «Teppisti» in Italien formiert sich in westeuropäischen Städten die erste transnationale Subkultur der Nachkriegszeit. Mit ihren Anleihen an der amerikanischen Populärkultur zählt sie gewissermassen zu den Pionieren der westeuropäischen Wohlstands- und Massenkonsumgesellschaft. In Filmikonen wie Marlon Brando und James Dean, die in «The Wild One» (1953) beziehungsweise «Rebel Without a Cause» (1955) respektlose Rebellen spielen, sieht diese jugendliche Subkultur ihre Vorbilder und drückt ihre aufmüpfige Haltung gegenüber dem Konformismus der Erwachsenenwelt in Kleidung, Haarschnitt und Musik aus. Bluejeans, Entenschwanzfrisur, Cowboystiefel und Rockmusik sind ihre Erkennungszeichen. Von Medien und Polizei in erster Linie mit Gewalt, Krawallmacherei und Kleinkriminalität in Verbindung gebracht, ist der öffentliche Umgang mit den «Halbstarken» Westeuropas bereits früh vom Diskurs um Jugenddelinquenz geprägt.

       Vorgeschichte(n)

      «1968» als Protest, Rebellion und Bewegung hat eine Reihe von Vorgeschichten. Verschiedene Vorläufer, deren Auftritte bis in die frühen 1950er-Jahre zurückreichen, ebneten den «68ern» den Weg. Sie bedienen sich politischer, künstlerischer und oft symbolträchtiger Ausdrucksformen, die später von den «68ern» aufgegriffen werden. Diese Vorboten bringen bereits Unmut, Unzufriedenheit und Ablehnung zum Ausdruck, die sich gegen das gesellschaftliche und moralische Klima ihrer Zeit richten und später für die «68er» ebenfalls wichtige Motivationen darstellen. Sie sind gewissermassen die Avantgarde zu «1968». Bei diesen Vorläufern handelt es sich meist um kleine Szenen und Gruppen, die sich um Künstler, Aktivisten und Zeitschriften formieren und sich in Cafés, Bars oder Theatern treffen. Im Gegensatz zur späteren 68er-Bewegung geht ihre Ausstrahlungs- und Anziehungskraft selten über den Kreis ihrer Anhängerschaft hinaus. Die breite Öffentlichkeit nimmt nur punktuell aufgrund spektakulärer Auftritte und provokativer Äusserungen von ihnen Notiz. Sie stehen in jener Tradition von subkulturellen Szenen, die Greil Marcus treffend als kulturelle Gruppen und historische Momente beschreibt, die «lipstick traces» hinterlassen, da sie nur kurz, aber oft grell und schrill ihre Stimmen erheben und anschliessend verloren gehen, um dann wieder entdeckt zu werden. Lange Zeit sind solche subkulturellen Ahnen von «1968» unter rein ästhetisch-künstlerischen Aspekten betrachtet und als Fortführungen oder Wiederbelebungen von Strömungen wie dem Dadaismus und dem Surrealismus in kunstgeschichtliche Zusammenhänge gestellt worden. Erst jüngere Darstellungen sehen sie auch als Vorboten kultureller Rebellion, gesellschaftlicher Dissidenz und politischen Protests und in der Kontinuität nonkonformistischer, antiautoritärer und subversiver Haltungen und Praktiken. Dies hat zur Folge, dass «1968» nicht nur als eruptives Ereignis, sondern als Fortführung einer lange vergrabenen Geschichte zu ergründen ist.

      In Frankreich ist ein wichtiger Vorläufermoment der 9. April 1950, als vier Personen, eine davon als Dominikanermönch verkleidet, die ostersonntägliche Hochmesse in der Pariser Kathedrale Notre Dame stürmen und proklamieren: «Gott ist tot!». Es kommt zu einem Tumult, und die vier können nur dank der Polizei vor den aufgebrachten Gottesdienstbesuchern gerettet werden. Es handelt sich um das erste öffentliche Auftreten der 1946 ins Leben gerufenen lettristischen