Auftritten die Bewegung in die Presse bringt. Mit Filmen wie «Traité de bave et d’éternité», dessen Aufführung die Lettristen 1951 mit Störungen am Filmfestival von Cannes erzwingen, sucht Isou die narrativen und formalen Zwänge des damals dominierenden italienischen Neorealismus und französischen und amerikanischen Film noir aufzubrechen. In seinen filmischen Experimenten läutet er die europäische Kinoavantgarde der Nachkriegszeit ein, die in den 1960er-Jahren jenseits des Autorenfilms des britischen Free Cinema und der französischen Nouvelle vague eine Phase radikaler Erneuerung erlebt. Isou ist es auch, der in seinem 1952 veröffentlichten Text «Traité d’économie nucléaire: le soulèvement de la jeunesse» der Jugend eine ausserordentliche Rolle in der Gesellschaft zuspricht und sie dazu aufruft, als das «neue Proletariat» gegen Unterdrückung zu kämpfen. Bereits vier Jahre zuvor, also 20 Jahre vor 1968, haben er und einige Lettristen das Quartier Latin mit Plakaten beklebt, auf denen zu lesen ist: «12 000 000 werden die Strassen erobern, um die lettristische Revolution zu machen.»
Der Lettrismus ist direkter Vorläufer und Vorbild einer weiteren Bewegung, die sich dem damaligen Konformismus in Kultur und Gesellschaft radikal entgegenstellt: den Situationisten. In der Tradition der Surrealisten und Dadaisten stehend, geht es der situationistischen Bewegung um die radikale Umformung von bestimmten, oft alltäglichen «Situationen», um damit Neuinterpretationen von Realitäten anzubieten und herkömmliche Wahrnehmungsmuster zu durchbrechen. Wie ihr Begründer und wichtigster Vertreter Guy Debord 1958 in der ersten Ausgabe der «Internationale situationniste» schreibt, werden diejenigen siegen, «die es verstanden haben, die Unordnung zu schaffen, ohne sie zu lieben». Unmittelbaren Einfluss auf die 68er-Bewegung hat Debord mit seinem Schlüsselwerk «La société du spectacle» von 1967, in dem er die zunehmende Entfremdung der Menschen voneinander in einer durch Massenmedien und Warenfetischismus bestimmten Konsumgesellschaft beschreibt. In der Gesellschaft des Spektakels sind die Menschen zu blossen Zuschauern degradiert, wodurch eine echte Kommunikation verunmöglicht wird. Wichtig für die späteren «68er» ist aber nicht nur die situationistische Gesellschaftsanalyse, sondern vor allem auch ihr revolutionäres Selbstverständnis. Dieses wird beispielsweise in der situationistischen Broschüre «De la misère en milieu étudiant» ausgedrückt, die im Herbst 1966 an der Universität Strassburg verteilt wird. Darin kritisieren die Situationisten die Entfremdung der Studenten und rufen sie zur Revolution auf. Mit dieser Aktion, die von Störungen des universitären Betriebs begleitet ist, findet die situationistische Bewegung erstmals grössere Beachtung in der Öffentlichkeit. Ihre Broschüre wird in mehrere Sprachen übersetzt, immer wieder neu aufgelegt und erlangt entgegen den Absichten ihrer Verfasser Kultstatus. Dennoch bleiben die Situationisten, wie vor ihnen die Lettristen, eine marginale Gruppe, die sich bewusst dem kulturellen Mainstream entzieht und nur punktuell für öffentliche Aufmerksamkeit sorgt.
Beatniks und Provos
Eine breitere Rezeption erfährt eine andere, in den 1950er-Jahren in den USA ursprünglich als Künstlerboheme entstandene Subkultur: die Beatniks. Desillusioniert vom konsumbesessenen Nachkriegsamerika und begeistert von der afroamerikanischen Musikkultur, insbesondere vom Bebop, dieser von Miles Davis, Charlie Parker und Dizzy Gillespie geprägten neuen Stilrichtung im Jazz, formiert sich um Jack Kerouac, Allen Ginsberg, William Burroughs und Gary Snyder in New York und San Francisco Mitte der 1950er-Jahre eine Szene von Beat-Poeten. Wie Norman Mailer 1957 in «White Negro» schreibt, haben die Beatniks wie auch die sogenannten Hipster eine Vorliebe für Marihuana und Jazz, verfügen über wenig Geld und glauben, die Gesellschaft sei ein Gefängnis des Nervensystems. Während Ginsberg in seiner oftmals live vorgetragenen Gedichtsammlung «Howl» seine tiefe Abscheu vor der bigotten amerikanischen Gesellschaft zum Ausdruck bringt, singt Jack Kerouac in seinem Reiseroman «On the Road» eine Hohelied auf die individuelle Freiheit der Aussteiger. Die Literatur und Performances der Beat-Poeten finden schon bald in europäischen Künstler- und Literatenkreisen Widerhall, insbesondere in Frankreich, wo in den 1950er-Jahren weite Teile der literarischen Bohemeszene zu einer politischen Literaturszene mutiert, vor allem nachdem sich französische Existentialisten um Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir den poststalinistischen Kreisen einer sich neu orientierenden Linken angenähert haben. Die Texte von Ginsberg und Kerouac werden zur Schlüssellektüre einer Generation, die ihr neues Lebensgefühl aus Poesie, Jazz und Drogen speisen und damit einen Gegenentwurf zum Konformismus der damaligen Zeit manifestieren. In einem gewissen Sinn werden die Beatniks mit ihrer Absage an Gesellschaft und Politik zu Vorläufern der Hippies, die als Flower-Power-Bewegung ab Mitte der 1960er-Jahre, wiederum von den USA ausgehend, nicht ein Engagement innerhalb, sondern den Ausstieg aus der Gesellschaft suchen.
Anders sieht es bei den sogenannten Provos aus, die vor allem in Amsterdam auftreten und gezielt kulturelle Subversion und politischen Protest miteinander verbinden. Wie Daniel Cohn-Bendit, der Studentenführer im Pariser «mai 68», rückblickend feststellt, haben die niederländischen Provos einen nachhaltigen Einfluss auf ihn und seine Mitstreiter gehabt. In einer ihrer Aktionen stören sie 1966 eine Hochzeitsfeier des niederländischen Königshauses mit Rauchbomben und erregen damit weltweit Aufsehen. Um ihre politischen Forderungen durchzusetzen, arbeiten die Provos auch mit der aufkommenden Neuen Linken zusammen. Dazu gehören verschiedene politische Gruppen und Zeitschriften, die in den späten 1950er- und vor allem in den 1960er-Jahren entstehen und sich von der Alten Linken abgrenzen. Sie berufen sich auf trotzkistische oder anarchistische Vorbilder oder verehren Mao und die chinesische Kulturrevolution. Um Zeitschriften wie «Socialisme ou Barbarie» in Frankreich und «New Left Review» in Grossbritannien sammeln sich Intellektuelle, die eine grundlegende Erneuerung des Marxismus anstreben und jenseits ökonomistischer Reduktion linke gesellschafts- und kulturkritische Entwürfe anbieten.
Von den Theorien der New Left beeinflusst sind auch die sich in den 1960er-Jahren radikalisierenden studentischen Organisationen wie der Sozialistische Deutsche Studentenbund, der sich 1961 von der Sozialdemokratischen Partei getrennt hat. Die Students for a Democratic Society, ihr US-amerikanisches Pendant, verabschieden im Sommer 1962 das «Port Huron Statement», in dem sie den Rassismus gegenüber der afroamerikanischen Bevölkerung, die Gefahren der Atombombe, den Überfluss in der Industriegesellschaft und die Unterernährung in den Entwicklungsländern heftig kritisieren und diese Zustände mit der Apathie der amerikanischen Gesellschaft erklären. Rhizomartig überspannen all diese Ideen, Strömungen und Gruppen die Vorgeschichte zu «1968». Sie sind nicht nur Vorboten, sondern sie dienen den Akteuren von «1968» auch als intellektuelle, künstlerische und subkulturelle Referenzsysteme, die sie aufnehmen, neu interpretieren und auf die eruptive Situation im Jahr 1968 anpassen.
Hochkonjunktur in der Schweiz
Auch für die Schweiz beginnen nach dem Zweiten Weltkrieg die «goldenen dreissig Jahre». Es ist eine Phase des Wirtschaftswachstums und Wohlstands, die bis zur Ölkrise und Rezession Mitte der 1970er-Jahre andauert. Im Gegensatz zu den meisten europäischen Ländern stellt jedoch das Kriegsende für die Schweiz weder in wirtschaftlicher noch in politischer Hinsicht eine Zäsur dar. Das Land verfügt über einen intakten Produktionsapparat und reichlich vorhandene Kapitalreserven. Bereits Ende der 1940er-Jahre sind die meisten Regulierungen des Kriegswirtschaftssystems abgebaut. Mit geringen Steuerbelastungen und minimalen staatlichen Reglementierungen bestehen äusserst liberale Rahmenbedingungen für die Privatwirtschaft. Gegen aussen löst sich die Schweiz rasch aus der anfänglichen Isolation durch die Alliierten, die dem Land wirtschaftliche und finanzielle Kooperation mit NS-Deutschland vorwerfen. Im aufziehenden Kalten Krieg positioniert sich die Schweiz trotz der offiziell deklarierten Neutralität bedingungslos auf der Seite der «freien Welt» und gilt aufgrund ihrer langen Tradition des Antikommunismus als vertrauenswürdiger Partner im westlichen Allianzsystem.
Trotz dem Abseitsstehen beim Aufbau der internationalen Nachkriegsordnung gelingt es der Schweiz, günstige Bedingungen für ihre Aussenwirtschaft auszuhandeln. Die Exportindustrie mit ihren Hauptbranchen Maschinenbau, Chemie, Elektrotechnik und Nahrungsmittel sowie Banken und Finanzinstitute entwickeln sich zum Zugpferd der schweizerischen Volkswirtschaft und verhelfen dem Land zu einem Spitzenplatz in der sich zunehmend globalisierenden Weltwirtschaft. Die geringe staatliche Kontrolle erweist sich vor allem für