Damir Skenderovic

Die 1968er-Jahre in der Schweiz


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      Anfang der 1960er-Jahre schliesst sich in Bern ein Kreis von gesellschaftskritischen Schriftstellern und Journalisten sowie Avantgardekünstlern, aber auch Anhängern einer subkulturellen, von der Beat-Generation geprägten Jugendkultur zusammen. Es ist der Beginn des Berner «Untergrunds», wie es im damaligen Sprachgebrauch heisst. Basis und Treffpunkt ist die «Junkere 37», ein Keller an der Junkerngasse 37, den der Künstler Franz Gertsch, der Verleger Niklaus von Steiger, der Volkskundler und Erzähler Sergius Golowin und der Schriftsteller Zeno Zürcher ab 1964 mieten. Dass das Veranstaltungslokal einen Namen im Deutschschweizer Dialekt erhält, ist kein Zufall. Mundartdichtung spielt für diesen Kreis, zu dem auch Schriftsteller wie Kurt Marti, Walter Matthias Diggelmann und Peter Bichsel zählen, eine wichtige Rolle. «Junkere 37» strahlt als Ort für Lesungen, Vorträge, Diskussionspodien und Ausstellungen weit über Bern hinaus. Im Oktober 1966 nimmt auch Theodor W. Adorno an einer Diskussion im Keller «Junkere 37» teil, der sich – wie die «Weltwoche» schreibt – zum «Berner Hyde-Park» entwickelt.

      Als im Sommer 1966 eine heftige öffentliche Debatte um die Verhaftung des Berner Grossrats Arthur Villard, seines Zeichens Präsident der Vereinigung Internationale der Kriegsdienstverweigerer (IDK), wegen Dienstverweigerung aus Gewissensgründen entbrennt, es zu breiten Solidaritätskundgebungen kommt und die bürgerliche Presse mit Etikettierungen wie «Nestbeschmutzer» jene diffamiert, die öffentlich mit Villard sympathisieren, beginnt sich die Szene um die «Junkere 37» zunehmend zu politisieren. Während die als staatsgefährdend eingestufte IDK bereits damals unter intensiver Beobachtung der Bundespolizei steht, unterstützt drei Jahre später der Vorsteher des Eidgenössischen Militärdepartements, Bundesrat Rudolf Gnägi, in einem internen Schreiben die Bestrebungen, «dass unsere Abwehr gegen subversive Einflüsse und Agitationen verschärft werden muss».

      Seit Anfang der 1960er-Jahre tritt der Zürcher Poet und Performer Urban Gwerder in Erscheinung und fungiert dann in der 68er-Bewegung als einer der Hauptvertreter der Subkultur. 1961 veröffentlicht er mit 16 Jahren den Aufsatz «Die Moderne», in dem er Stéphane Mallarmé, Arthur Rimbaud, Wladimir Majakowski, Federico García Lorca und Ezra Pound als Wegweiser der modernen Literatur bezeichnet. Ein Jahr später folgt der Gedichtband «Oase der Bitternis» im Arche Verlag. 1966 bringt er das Zürcher Kunst- und Kulturestablishment in helle Aufregung, als er in der Nacht vor der Einweihung der Gedenktafel «50 Jahre Dada» am ehemaligen Haus des Cabaret Voltaire diese mit einem Flugblatt überklebt und sein «AnarCHIE du Manifeste» als Protestnote zu den offiziellen Jubiläumsfestivitäten im Niederdorf verteilt. Die ausländische Presse berichtet über die Aktion und stellt sie in die Tradition des Dadaismus, während die städtischen Behörden wenig Verständnis dafür zeigen. Im gleichen Jahr ist Gwerder mit seiner multimedialen «Poëtenz»-Show in der Schweiz und der BRD auf Tournee. Auf den Veranstaltungsplakaten wird angekündigt, dass die Eintrittspreise Fr. 2.75 für «Gastarbeiter», Fr. 5.50 für «Normale» und Fr. 11.— für «Studenten und Militär» betragen. Die Aufführungen sind eine Mischung aus Wort, Ton und Bild und erinnern an die Poetry Readings der Beatniks, Auftritte der amerikanischen Band The Fugs und den Theaterstücken Alfred Jarrys. Gwerders Spoken Words und Kabaretteinlagen sind begleitet von der improvisierten Musik der Beat-Band The Onion Gook, die überdies live zum 27-minütigen 16-mm-Film «Chicoree» spielt, Fredi Murers experimentellem Streifen über Gwerder, dessen Aktionen und Familienleben. Wie ein Filmkritiker schreibt, ist die «Poëtenz»-Show «das erste Pop-Kunstwerk von Bedeutung in der Schweiz».

       Opposition von links

      Auch organisatorisch gibt es zahlreiche Wegbereiter für «1968». Die 1958 gegründete Schweizerische Bewegung gegen die atomare Aufrüstung (SBgaA) ist eine der einflussreichsten Vorläuferinnen. Angesichts des Klimas des Kalten Kriegs steht sie von Anfang an im Blick der Behörden, und so pflegt ihr Präsident jeweils bei der Begrüssung der Versammelten die anwesenden Vertreter des Staatsschutzes willkommen zu heissen. Ende der 1950er-Jahre lanciert die SBgaA eine Initiative für das Verbot von Atomwaffen, die in der Volksabstimmung 1962 von gerade 34,8 Prozent der Stimmbürger unterstützt wird. Wichtiger im Hinblick auf die 68er-Bewegung ist jedoch, dass die SBgaA neue Aktionsformen erprobt, um ihre Forderungen durchzusetzen. Sie arbeitet nicht nur mit den traditionellen Mitteln der direkten Demokratie wie Initiativen und Referenden, sondern setzt auch auf spontane Aktivierungen, auf zivilen Ungehorsam und gewaltfreie Aktionen.

      Ein jährlich wiederkehrendes Beispiel für die unkonventionellen Aktionsformen sind die Ostermärsche, die nach internationalem Vorbild zwischen 1963 und 1967 auch in der Schweiz durchgeführt werden, zunächst in der französischen Schweiz, in späteren Jahren auch in der Deutschschweiz. Dass die ersten Ostermärsche in der Westschweiz stattfinden und von Lausanne nach Genf führen, ist kein Zufall. Hier sind die Sympathien für die Antiatombewegung gross, was auch in den Abstimmungen zu friedenspolitischen Initiativen und Referenden jener Jahre zu Ausdruck kommt. Ausserdem haben bereits in den 1950er-Jahren die drei Chevallier-Initiativen, die eine Beschränkung der Militärausgaben verlangten, aber nie zur Abstimmung kamen, in der französischen Schweiz breite Kreise mobilisiert.

      Neben den neuen Aktionsformen bereitet die Friedensbewegung den «68ern» auch inhaltlich den Weg. Als die Schweiz 1967 den Atomsperrvertrag unterzeichnet, verlagern sich die friedenspolitischen Interessen der Bewegung zu Themen im Ausland, und der Friedensmarsch von jenem Jahr stellt den Protest gegen den Vietnamkrieg, eines der wichtigsten Mobilisierungsmomente der späteren 68er-Bewegung, ins Zentrum. Schliesslich gibt es zwischen der Antiatombewegung und den «68ern» auch personelle Kontinuitäten. Einige Aktivisten der 68er-Bewegung absolvieren ihre politische Lehre in den friedenspolitischen Aktivitäten der frühen 1960er-Jahre. Am vorläufig letzten Friedensmarsch im April 1967 in Bern machen sich denn auch die ersten Vertreter der maoistischen Neuen Linken bemerkbar. Der Umstand, dass sie Vietcong-Fahnen mit sich tragen, führt zu Dissonanzen und heftigen Auseinandersetzungen innerhalb der grösstenteils pazifistisch ausgerichteten Friedensbewegung.

      Damit ist schon angedeutet, dass sich auch in der Schweiz eine Neue Linke in den frühen 1960er-Jahren bemerkbar macht. Doch im Gegensatz zu anderen westeuropäischen Ländern entstehen die wichtigsten Gruppen und Organisationen der Neuen Linken erst nach den Ereignissen von 1968. Das Schisma zwischen der UdSSR und China, das sich im Lauf der 1950er-Jahre anbahnt, aber erst 1963 in der Öffentlichkeit bekannt wird, hat auch in der Schweiz die Abtrennung von maoistischen Gruppen von der kommunistischen, an der Sowjetunion orientierten Partei der Arbeit (PdA) zur Folge. Die erste maoistische Strömung, die in der Schweiz entsteht, ist der Parti communiste suisse, der der ehemalige Boxer Gérard Bulliard nach einem Besuch in Albanien im Jahr 1963 gründet. Die von ihm herausgegebene Zeitschrift «L’étincelle» fällt unter anderem durch ihren antisemitisch motivierten Antizionismus auf. Eine weitere maoistische Gruppe ist das 1964 vom Schweden Nils Andersson gegründete Centre Lénine, aus dem drei Jahre später die Organisation des communistes de Suisse (Marxiste-Léniniste) mit der Zeitschrift «Octobre» hervorgeht. Diese Umbenennung erlebt Andersson allerdings nicht mehr mit, denn er ist kurz zuvor wegen Gefährdung der inneren und äusseren Sicherheit aus der Schweiz ausgewiesen worden.

      Auch innerhalb der PdA beginnt es in den 1960er-Jahren zu gären. Vor allem die junge Generation wendet sich gegen die Orthodoxie der Parteispitze und beginnt sich für maoistische und trotzkistische Autoren zu interessieren. 1964 gründen sie in Zürich die Junge Sektion der PdA, die bei den Ereignissen im Sommer 1968 eine wichtige Rolle spielen wird. Auch im Waadtländer Parti ouvrier et populaire (POP) setzt eine allmähliche Absetzbewegung von der Mutterpartei ein, und zwar unter dem Einfluss von Charles-André Udry, der 1966 in die Partei eingetreten ist, um sie trotzkistisch zu unterwandern. Zusammen mit anderen begründet er die Tendance de gauche, aus der später die neulinke Ligue marxiste révolutionnaire (LMR) hervorgehen wird. Ähnliche Entwicklungen finden auch in den Basler, Genfer und Tessiner Sektionen der PdA statt. In dissidenten Kreisen der Alten Linken werden im Lauf der 1960er-Jahre zudem neue Zeitungen und Zeitschriften auf den Markt gebracht, etwa die 1963 gegründete «Domaine public», die sich am linken Rand der Sozialdemokratie positioniert, oder die 1965 erstmals erscheinende «politica nuova», die aus der Antiatombewegung hervorgeht und von Abweichlern der Tessiner Sozialdemokraten herausgegeben wird. Diese werden sich 1969 zur erfolgreichsten Partei der Neuen Linken im Tessin, dem Partito