Damir Skenderovic

Die 1968er-Jahre in der Schweiz


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Faktor des Wirtschaftsbooms bildet die intensiv betriebene Rekrutierung von Arbeitsimmigranten aus südeuropäischen Ländern, insbesondere aus Italien. Da ihnen nur sehr niedrige Löhne bezahlt werden, tragen die ausländischen Arbeitskräfte dazu bei, dass der Ausbau der Schweizer Industrie, wo noch über 40 Prozent der Beschäftigten arbeiten – mehr als in den meisten westlichen Industriestaaten damals –, kostensparend geschieht und ein Teil der kostenintensiven Modernisierung von Industrieanlagen mit Verzögerung stattfindet. Der Anteil ausländischer Arbeitskräfte an der berufstätigen Bevölkerung steigt zwischen 1950 und 1970 von 8,8 auf 22 Prozent. Die bereits früh zum Ausdruck gebrachte Skepsis der Gewerkschaften gegenüber der Arbeitsimmigration wird durch den Umstand gemildert, dass der «Import» von wenig qualifizierten ausländischen Arbeitskräften manchem einheimischen Arbeitnehmer den Aufstieg in höhere Positionen ermöglicht. Zudem bleiben die ausländischen Arbeitskräfte aufgrund des im Ausländergesetz von 1931 festgelegten Rotationsprinzips «Gastarbeiter» im eigentlichen Sinn und werden von Seiten der Behörden wie auch von Wirtschafts- und Gewerkschaftskreisen als Konjunkturpuffer betrachtet, denen der Status gleichgestellter Mitglieder der schweizerischen Gesellschaft verwehrt bleibt.

      Die Ende der 1940er-Jahre beginnende Phase der Hochkonjunktur beschert der Schweiz Jahreswachstumsraten von bis zu 5 Prozent. Zwischen 1950 und 1970 steigt das jährliche Bruttosozialprodukt von 19,9 auf 93,9 Milliarden Franken. In der gleichen Zeitspanne verdreifacht sich das Handelsvolumen beinahe: Nachdem 1950 Waren für 3,9 Milliarden Franken exportiert wurden, sind es 1970 Güter im Wert von 22,1 Milliarden. Gleichzeitig vergrössert sich die Wareneinfuhr von 4,5 auf 27,9 Milliarden. Zum konjunkturfördernden Investitionsschub und Bauboom der 1950er- und 1960er-Jahre trägt auch der massive Nachholbedarf im Bereich der Infrastruktur bei. Die Ausgaben für die Bautätigkeiten im Auftrag der öffentlichen Hand nehmen zwischen 1950 und 1970 von 0,7 auf 6,8 Milliarden Franken zu. Der wirtschaftliche Aufschwung wird nur durch kurzzeitige Einbrüche gestört, wobei diese aufgrund der weiterhin verbreiteten Erinnerung an die Rezessions- und Krisenzeit der 1930er-Jahre aber eine beachtliche Wirkung haben. Dennoch beginnt der Bundesrat angesichts konjunktureller Überhitzungen und zunehmender Inflation punktuell konjunkturdämpfende Massnahmen zu ergreifen, die vor allem auf den Bau- und Finanzsektor abzielen.

      Wie das Beispiel des Nationalstrassennetzes, des grössten Infrastrukturprojekts der Schweizer Nachkriegsgeschichte, zeigt, unterstützt die grosse Mehrheit der Bevölkerung diese «Investitionen für die Zukunft». In einer Volksabstimmung von 1958 sind 85 Prozent der Stimmbürger damit einverstanden, dass der Bund die Kompetenz für den Ausbau des Strassennetzes erhält. Die geplanten 1900 Kilometer Nationalstrassen sollen die Ansprüche des Individual- und Güterverkehrs wie auch die steigenden Mobilitätswünsche weiter Teile der Bevölkerung erfüllen. Das Auto wird zusehends zum individuellen Statussymbol und zum Indikator gesellschaftlichen Wohlstands stilisiert. In den 1950er-Jahren setzt eine eigentliche Massenmotorisierung ein, sodass sich zwischen 1950 und 1970 der Bestand an Personenwagen fast verzehnfacht. Als weiteres Zeichen für den kaum in Frage gestellten Fortschrittsglauben und die Vorrangstellung wirtschaftlicher Bedürfnisse ist die Nutzung der Atomenergie zu nennen, die damals in der Bevölkerung noch wenig Bedenken auslöst. Mit einer überwältigenden Mehrheit von über 77 Prozent nehmen die Stimmbürger 1957 den Verfassungsartikel zur Atomenergie an, und das Parlament verabschiedet 1959 nahezu geschlossen das Atomgesetz.

       Babyboom und Massenkonsum

      In den 1950er- und 1960er-Jahren macht die Schweiz grundlegende demografische Veränderungen durch. Die Gesamtbevölkerung wächst zwischen 1950 und 1970 um beinahe 30 Prozent (1950: 4,715 Mio.; 1960: 5,429 Mio.; 1970: 6,269 Mio.), eine der höchsten Wachstumsziffern in Europa. Aufgrund dieses starken Wachstums prognostizieren Studien zu Beginn der 1960er-Jahre für die Jahrtausendwende eine Wohnbevölkerung von zehn Millionen, was sich auch auf die damaligen Planungen im Infrastrukturbereich auswirkt. Ein Grund für die Bevölkerungszunahme sind die hohen Geburtenraten, die bereits während des Zweiten Weltkriegs anzusteigen beginnen. Ab Mitte der 1960er-Jahre kommt diese erste Generation des «Babybooms» ins Jugendalter und bildet die kritische Masse des jugendlichen Aufbruchs jener Zeit. 1955 kommen 17,1 Geburten auf 1000 Einwohner, 1960 17,6, und die Zahl steigt auf 19,2 im Jahr 1964. Danach gehen die Geburtenzahlen kontinuierlich zurück, eine Zäsur, die mit dem Aufkommen der empfängnisverhütenden Pille zusammenhängt und als «Pillenknick» bezeichnet wird. 1970 sind es noch 15,8 Geburten auf 1000 Einwohner, 1975 noch 12,3 und 1980 nur noch 11,6.

      Ein weiterer Grund für das Bevölkerungswachstum in der Schweiz sind die steigenden Einwanderungszahlen. 1950 leben 285 446 Ausländerinnen und Ausländer im Land, was einem Anteil von 6,1 Prozent an der gesamten Wohnbevölkerung entspricht, 1960 sind es 584 739 (10,8 Prozent) und 1970 liegt die Zahl bei 1 080 076 (17,2 Prozent). Auch die Binnenwanderung vom Land in die Städte bringt nachhaltige demografische Veränderungen mit sich und verstärkt die Urbanisierung der Schweiz und das Anwachsen der Ballungszentren. Nachdem während des Zweiten Weltkriegs nur gerade ein Drittel der Menschen in Städten mit einer Einwohnerzahl von über 10 000 gewohnt haben, sind es 1970 bereits 45 Prozent der Gesamtbevölkerung.

      Eine treibende Kraft des wirtschaftlichen Aufschwungs in der Schweiz ist der in den 1950er- und 1960er-Jahren massiv zunehmende Privatkonsum, der nicht zuletzt mit der steigenden Kaufkraft weiter Teile der Bevölkerung sowie technologischer Innovationen und automatisierter Massenproduktion zusammenhängt. Während zwischen 1950 und 1960 der Reallohn in der Schweiz um 20 Prozent steigt, wächst er in den 1960er-Jahren um weitere 40 Prozent. Der schnelle Ausbau des Telefonnetzes, die beinahe flächendeckende Verbreitung des Radios und die Einführung des Fernsehers, das 1953 den Versuchsbetrieb aufnimmt, sind Zeichen für den sich rasch ausbreitenden Wohlstand, aber auch für Zäsuren im Bereich der Massenkommunikation. 1953 sind erst 920 Fernsehkonzessionen gelöst worden, 1968 steigt die Zahl auf über eine Million, und im gleichen Jahr strahlt das Schweizer Fernsehen erstmals Programme in Farbe aus. Auch in anderen Lebensbereichen treten Konsumgüter als technische Hilfsmittel und gesellschaftliche Statussymbole ihren Siegeszug an. Wie eine viel beachtete Umfrage der Wochenzeitschrift «Beobachter» bei ihrer Leserschaft zeigt, haben 1950 11 Prozent der Haushalte einen Kühlschrank, ebenso viele ein Privatauto. 1960 wiederholt die Zeitschrift die Umfrage und gibt an, dass nun 55 Prozent der Haushalte einen Kühlschrank und 22 Prozent ein Auto besitzen. Auch andere Haushaltsgeräte gehören 1960 bei einer grossen Mehrheit der befragten Familien zur Ausstattung: 87 Prozent besitzen einen Staubsauger, 73 Prozent eine Waschmaschine, 66 Prozent Dampfkochtöpfe und 65 Prozent ein Bügeleisen mit Temperaturregler. Solche Medienberichte tragen dazu bei, dass der Besitz von Konsumgütern und der nach aussen sichtbare materielle Wohlstand zunehmend als wichtig betrachtet werden, nicht zuletzt in Erinnerung an die Entbehrungen vergangener Kriegs- und Krisenzeiten.

      Insgesamt kommt es zu einer merklichen Verbesserung des materiellen Lebensstandards für breite Bevölkerungskreise und so auch zur Vorstellung zunehmender sozialer «Nivellierung» der schweizerischen Gesellschaft, obwohl weiterhin beträchtliche Unterschiede zwischen den verschiedenen Kaufkraftklassen bestehen und die Erhöhung der Reallöhne angesichts des Preisanstiegs nur teilweise in den Konsum von Gütern umgesetzt werden kann. Mit der Konsolidierung der konsumorientierten Massengesellschaft stellt sich zwar das Bild einer gesellschaftlichen Uniformierung ein, was sich im Konsumverhalten und in der Orientierung am «American way of life» zeigt, gleichzeitig beginnen sich aber mit dem Ausbrechen aus einer materiell prekären Lebenssituation allmählich neue Möglichkeiten zu eröffnen, die eine individuelle Lebensgestaltung erlauben und soziokulturelle Ausdifferenzierungen zur Folge haben, wie sie sich zunächst in der Freizeitgestaltung ausdrücken.

       Soziale Stabilität und politischer Konsens

      Als wichtige Bedingung für das Wachstum der schweizerischen Volkswirtschaft erweist sich die in den 1950er-Jahren konsolidierte soziale Stabilität. Arbeitsfrieden und Einbindung verschiedener Interessengruppen in politische Entscheidungsprozesse verschmelzen zum handlungsleitenden Prinzip der sozialen Integration. Die teilweise heftigen sozialen Auseinandersetzungen in der Arbeitswelt unmittelbar nach dem Krieg sind Anfang der 1950er-Jahre grossteils beigelegt. Die mit dem Friedensabkommen in der Metallindustrie von 1937 eingeläutete