Tremper under the guidance of Daido Loori Roshi)
USA (1996 + …)
Auschwitz-Kaddisch
In den letzten Jahren hat Roshi Bernard Tetsugen Glassman, Bernie, seine Praxis auf die Straßen Europas und Amerikas gebracht. Er hält Retreats unter den Notleidenden ab. Er errichtet Unterkünfte für Obdachlose und schafft für Mütter und Kinder mit Aids eine Bleibe. Seine interreligiöse Lehre ist ein intimes und unteilbares Mit-Teilen der Weisheit des Herzens. 1996 gründete er den Peacemaker-Orden und organisierte in Auschwitz-Birkenau das „Zeugnisablegen“ genannte Retreat. Unser Zusammenkommen an diesem schrecklichen Ort war eine Meditation über Frieden, die uns grundlegend verwandelte.
Ein Montagmorgen im späten November, für uns der erste ganze Tag in Auschwitz-Birkenau. Wir haben gerade einen grauenerregenden Dokumentarfilm gesehen, der bei der „Befreiung“ des Lagers gedreht wurde. Es ist eine Erleichterung, aus dem Zuschauerraum ins Freie zu kommen. Nach dem Mittagessen werden wir uns auf den Weg nach Birkenau machen, dem größten aller Todeslager der Nazis. Jetzt folgen wir unseren Fremdenführern die wenigen Schritte nach Auschwitz, dem kleineren der beiden benachbarten Lager. Ich gehe mit Peter, unserem Fotografen, auf das berüchtigte Tor zu. Der handgefertigte Torbogen aus Metall, auf dem ARBEIT MACHT FREI zu lesen ist – direkt vor uns stehen kleine Birkenbäume. Schnee fällt. „Es ist schön“, sage ich. „Ja“, sagt er, seine Kamera einstellend. „Das ist das Problem. Ich könnte hier geschickt vorgehen. Ich wüsste, wie. Aber ich will nicht … Ich möchte keine Abspaltung.“
In den Gebäuden sind Dinge ausgestellt, die Menschen in der hoffnungsvollen Annahme bei sich trugen, ihr Leben werde weitergehen: Kochgeschirr, Spielzeug, Bürsten und Kämme. Ein Exponat besteht aus Frauenhaar, das die Nazis den Frauen abschnitten, bevor sie sie vergasten. Hunderte Kilo Frauenhaar in allen Farben, nun vertrockneten Spinnweben gleichend. An den Wänden Fotos der ersten Verurteilten, es sind polnische politische Gefangene. Ich sehe das Bild eines verängstigten Mannes. Er besteht nur aus Augen. Ich werde ihn in Erinnerung behalten.
Eine deutsche Frau sagt: „Diese Straße ist wie die, in der ich aufwuchs.“ Nur dass es hier in dieser Straße Galgen gibt und eine Erschießungsmauer, an der wir uns versammeln. Claude Thomas, ein Vietnam-Veteran, erzählt uns, wie Menschen erschossen werden. „Crack! Crack! Crack!“, schreit er. Er hat es gesehen. Er muss darüber sprechen. Oberhalb der Mauer weisen zwei Bäume in den Himmel. An der Mauer führen wir unser erstes Ritual aus. Wir müssen etwas tun, um unserem Schmerz und der zornigen Erregung Ausdruck zu geben. Unsere Reise in die innerste Tiefe und Dunkelheit hat begonnen.
Wir stehen im Halbkreis, hundertfünfzig Menschen, deren Gesichter durch die Schönheit des Mitgefühls voller Liebreiz sind. Einige von uns treten näher an die Mauer, verneigen sich und stellen Kerzen, Weihrauch oder Blumen ab. Manche wenden sich um und sprechen ein Gedicht oder ein Gebet. Es sind beredte persönliche Gesten, mit denen all diese Darbringungen ausgeführt werden. Hier bemerken wir die Stille zum ersten Mal. Die Aufmerksamkeit, die Zuneigung für jene damals und heute, die wir ganz mühelos aufbringen und teilen werden, wann immer wir uns versammeln, um ihrer zu gedenken. In diesen Momenten lässt sich Zeit nicht messen. Ist dies das Heilige?
Kaddisch bedeutet heilig. Rabbi Ed liest das Kaddisch im hebräisch-aramäischen Original; ich lese unsere englische Fassung, Heinz-Jürgen die deutsche Übersetzung; eine Französin tritt vor. Sie ist Jüdin. Sie hat das Kaddisch ins Französische übertragen. Ihre Hände zittern, während sie liest, ihre Stimme jedoch ist kraftvoll und klar.
Die Polen und die Italiener haben ihre Übersetzungen noch nicht fertiggestellt. Ich hatte neben Heinz-Jürgen gesessen, als er an seiner arbeitete. „Das kannst du auf Deutsch nicht sagen“, meinte er. Halb im Scherz antwortete ich: „Auf Englisch kannst du es auch nicht sagen: ‚… All that is Israel.‘ Es ist universal. Alles ist Israel, auch du.“ „Aber“, erwiderte er, „im Deutschen schreiben wir das nicht mit Großbuchstaben.“ Dann schrieb er: „alles, das heißt Israel“{9}.
Am Ende unseres Kaddisch bläst Bryan das Schofarhorn. Es ist der Ruf zur Sühne.
1944 – im dritten Jahr des Todesprojektes. In Erwartung eines Sondertransportes mit 350.000 ungarischen Juden wurden die Bahnschienen in Birkenau durch die Mitte des Lagers bis zu den beiden großen Krematorien verlängert, aus deren hohen Schornsteinen unablässig Rauch aufstieg.
„Was ist das für ein Rauch?“, fragte eine Neuangekommene die Frau neben sich. „Das sind wir“, war die Antwort.
Nach dem Frühstück beginnen unsere Tage mit formellen Ritualen und dem zwei Kilometer langen Weg von Auschwitz nach Birkenau. Dort holen wir aus einem Lagerraum im Eingangsgebäude unsere Meditationskissen und folgen den Gleisen. Für unsere Sitzpraxis machen wir an der Strecke halt. Danach gehen wir weiter bis ans Ende der Bahnschienen und versammeln uns in vier religiösen Gruppierungen auf der ausgedehnten Erinnerungsplattform zwischen den Ruinen der Krematorien. Du kannst wählen: Es gibt jüdische, christliche, muslimische und buddhistische Andachten. Mein Kollege Rabbi Ed hat aus Los Angeles eine kleine Torarolle mitgebracht. In dieser Woche wird die Geschichte von Jakob und seiner größten Herausforderung gelesen; die Christen nennen sie die dunkle Nacht der Seele. Es ist Nacht. Jakob ist allein. Plötzlich findet er sich in der Dunkelheit kämpfend, ringend mit einem Namenlosen, einem Mann, einem Engel, dem Unbekannten. „Lass mich gehen!“, sagt der Unbekannte. Aber Jakob antwortet: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn!“
Schwester Anna und Schwester Maria leiten einen Liedergottesdienst, fürwahr ein großes Lied: all die lieblichen Stimmen harmonieren. Imam Sadik leitet die Sufi-Gesänge der Liebe an, mit geschlossenen Augen bewegen sich die Köpfe rhythmisch von rechts nach links, von links nach rechts. Ich höre die buddhistischen Gesänge am anderen Ende der Plattform: „… verdrehtes Karma.“ Roshi hat der Liturgie „verdrehtes“ hinzugefügt. Schau dich um … dieser Ort ist verdreht. In meiner Nähe liest Arnie das Gedicht eines Mannes, der im Konzentrationslager Łódź starb: „Gott, ändere Dich!“
Einige Leute besuchen jeden Tag eine andere Andacht. Alle unsere Zeremonien sind für jeden gedacht. Doch alle Universalien haben ihre eigene besondere Sprache, die wir stets in unseren Herzen übersetzen müssen, für uns selbst und für den Anderen, wie das Kaddisch, an dem wir nun alle teilhaben. Jeder von uns trägt das Bewusstsein seiner Gruppe und Nation in sich. Jeder von uns ist das Gewissen seines Volkes und seiner Religion. Jeder von uns ist die Welt aus Gut und Böse. Hier an diesem Ort sehen wir, dass Gleichgültigkeit ein Synonym für das Böse ist. An diesem Schauplatz des absolut Bösen ist Gutheit nicht länger eine zu treffende Wahl, sie ist ein Gebot. Es gibt viele liebevolle Begegnungen, die uns an die Komplexität unserer Perspektiven erinnern, und daran, dass wir uns zueinander hingezogen fühlen.
Eines Tages besucht Ken die christliche Andacht. „Sind Sie Jude?“, fragt eine der Nonnen. „Ja“, sagt er. Ihre Augen füllen sich mit Tränen. Eine Frau steht außerhalb unserer jüdischen Andacht. Sie ist Deutsche. „Komm zu uns!“ – „Ist das denn in Ordnung?“, fragt sie mit besorgtem Blick.
Wir sitzen an der Stelle der Gleise, wo die gefangenen Menschen ausgestiegen sind. Zu Beginn unseres Sitzens ertönt das Schofar. Von vier Punkten unseres Kreises aus spricht immer jeweils einer die Namen derer, die in Rauch aufgingen. Ich höre, wie ein Nachname wiederholt wird: „Engel … Engel … Engel.“ Manchmal horche ich auf meinen eigenen Namen. Uns abwechselnd tragen wir die Namen vor. Auf der Liste steht neben jedem Namen der Geburtsort, das Geburtsjahr, das Todesjahr. Wenn man innehehält, kann man ein ganzes Leben herbeizaubern. Aber es sind so viele Namen. Jeder von ihnen soll gehört werden. Wir müssen alle Namen verlesen.
Wenn am Morgen und am Nachmittag zum Ende des Sitzens das Schofar ertönt, führen wir die Gruppe zu den Ruinen der Krematorien und wählen einen Platz aus, an dem wir das Kaddisch beten. Am ersten Tag versammeln wir uns um einen Teich, der nur wenige Schritte von den Krematorien entfernt liegt. Der Staub und die Asche der Menschen sind hier begraben.