Auf keinen Fall konnte sie mit Felix zusammenbleiben. Nicht nach diesem letzten endgültigen Beweis, dass er ein Schwein war.
Sie griff nach einem Informationsflyer auf dem Schränkchen unter der Garderobe und suchte die Nummer eines Taxiunternehmens. Sie würde sich direkt bis zum Hamburger Hauptbahnhof fahren lassen und einfach hoffen, dass es eine schnelle Verbindung nach NRW gab und sie nicht bis zum Morgen warten musste. Notfalls war aber auch das egal. Hauptsache weg von hier.
Als sie ins Bad ging und ihre wenigen Kosmetikartikel zusammenraffte, hielt sie für einen Moment inne. Die vom Weinen rotunterlaufenen Augen würden sich sicher bald beruhigen, es sei denn, sie brach immer wieder in Tränen aus. Sie würde sich zusammenreißen müssen, denn sie wollte verflucht sein, wenn sie wie das buchstäbliche heulende Elend vor Felix’ Tür erschien.
Mit einigen routinierten Handgriffen steckte sie ihre schulterlangen braunen Haare hoch, dann zog sie sich trotz zitternder Hand halbwegs gerade Lidstriche, tuschte die Wimpern und legte sogar noch ein paar Tropfen Parfüm auf. Ja, das reichte, so konnte sie sich sehen lassen. Und so fühlte sie sich auch wieder etwas selbstbewusster. Selbstbewusst genug, der Nachtwelt von Hamburg zu begegnen.
Wenigstens reise ich erster Klasse, dachte sie erleichtert. Die Lounge am Bahnhof war vielleicht nicht das Hilton, aber allemal besser als eine Bahnhofshalle.
Mit einem letzten Blick überprüfte sie ihre Kleidung. Es war draußen noch immer sommerlich warm, tagsüber waren es immerhin fast dreißig Grad gewesen. Sie hatte sich für ein weißes T-Shirt entschieden, für Jeans und ein paar bequeme Sportschuhe, die sie notfalls bis ans Ende der Welt tragen würden. Den flauschigen, blaugemusterten Reise-Pullover, den ihre Großmutter ihr vor so vielen Jahren als Unterwegs-Talisman gestrickt hatte, band sie um ihre Hüften.
Als sie endlich im Taxi saß, schrieb sie Miriam eine SMS und erklärte ihren überstürzten Aufbruch so gut es ging. Dann schaltete sie das Handy aus. Es war besser, wenn niemand sie erreichen konnte.
Erschöpft schloss sie die Augen und lehnte den Kopf zurück. Sie spürte, wie der Taxifahrer einen skeptischen Seitenblick riskierte, und war froh, dass er ihre verweinten Augen richtig deutete. Sie wollte nicht unterhalten werden.
Kommentarlos schaltete er das musikalische Nachtprogramm des örtlichen Radiosenders ein und trat aufs Gas.
Kapitel 3
Wie vermutet fuhr um diese Zeit noch kein ICE oder EC Richtung Dortmund und so stellte Catrin ihr Gepäck neben einen der gemütlichen Lounge-Sessel und ging zur Servicestation, um sich einen Espresso zu holen.
Außer ihr nutzten nur wenige Passagiere die Lounge: ein älteres Ehepaar, das sich am Fenster in einen großformatigen Prospekt vertiefte, ein junger Inder, der zu schlafen schien, und ein Typ im Hugo Boss Anzug, der sich gerade erhob und den Raum verließ. Catrin nahm ihren Espresso und begab sich zurück zu ihrem Platz.
Die ältere Dame blickte auf und warf ihr einen freundlichen Blick zu. Catrin lächelte ihr Ich-bin-erfolgreich-Lächeln, auch wenn sie sich gerade fühlte wie jemand, der heimatlos geworden war. Ganz verkehrt war das schließlich nicht. Sie durfte nun keinen Fehler machen, was die Planung ihres zukünftigen Lebens betraf. Des Lebens, das sie sich neu aufbauen musste. Für sich, für Diva und für deren Babys, die irgendwann Ende der Woche geboren werden würden.
Diva und sie hatten einander gesucht und gefunden. Beide waren sie so einsam gewesen, als sie einander begegneten. Die junge Hündin, der traurigste Welpe, der ihr je unter die Augen gekommen war, und sie selbst noch unter ihrer Fehlgeburt leidend. Sie hatte es genau gesehen, das irritierte Aufmerken im Blick des jungen Tieres, als ihre Freundin Linda ihr den Welpen in den Arm drückte.
„Die anderen sind alle weg, diese hier wollte niemand haben“, sagte Linda und klang entsetzlich erschöpft.
„Warum nicht?“, fragte Catrin fassungslos und drückte das braunschwarze Fellknäuel an ihre Brust.
„Keine Ahnung“, meinte Linda. „Vielleicht, weil sie so zurückhaltend und still ist? Die Leute sagten, sie wirkt apathisch.“ Linda schüttelte den Kopf. „So ein Unsinn. Sie ist nur etwas vorsichtiger, wenn du mich fragst.“
Catrin verkniff sich ihren Kommentar. Traurig traf es sicher eher. Oder resigniert. Der Mutter entrissen, weit vor der Zeit, weil Linda einfach nicht mehr konnte. Weil das Aufziehen der Welpen mehr Kraft forderte, als ihr anstrengender Vollzeitjob ihr ließ.
Catrin führte den Espresso an ihren Mund und verbrannte sich die Lippen, was sie zurück ins Hier und Jetzt riss. Verdammt! Sie blies so lange in die kleine Tasse, bis das dunkle Gebräu Trinktemperatur erreichte, dann trank sie es in einem Zug aus. Das sollte reichen, sie noch ein wenig wachzuhalten, bis der Zug ging.
Die Tür öffnete sich und der Anzugträger kam zurück.
Männer wie er ließen Catrins Fantasie Kapriolen schlagen. In Sekundenschnelle füllte sich der Raum mit imaginären Romanfiguren, eine verwegener als die andere. Sie konnte ihren Blick kaum von dem großen, kräftig gebauten Fremden mit dem dichten dunklen Haar und dem attraktiven und gut gepflegten Dreitagebart reißen. Playboy, tippte sie. Verwegen. Herzensbrecher. Sicher steinreich.
Langsam schlenderte der mutmaßliche Multimillionär zu einem Platz ihr genau gegenüber und setzte sich.
Ein unauffälliger Rucksack neben seinem Sessel ließ sie die Stirn runzeln. Seit wann reisten Männer wie dieser mit Rucksäcken?
Sie setzte sich ein wenig auf und sah genauer hin, als er eine Zeitung ergriff und sich dahinter verbarg. Seine Hände waren gewaltig und wirkten, wenn sie sich nicht mächtig täuschte, als könnten sie nicht nur Bäume ausreißen, sondern als würden sie das auch gelegentlich tun. Die Nägel waren sauber, aber seine Finger waren rau, als wären sie Anpacken gewohnt.
In dem Moment, als er die Zeitung ein wenig sinken ließ, um umzublättern, schaute Catrin schnell in eine andere Richtung, aber nicht schnell genug. Der Blick aus leuchtend blauen Augen, der sie für einen winzigen Moment traf, fuhr ihr durch Mark und Bein. Himmel! Alleine für seine Augen benötigte dieser Typ einen Waffenschein.
Reiß dich bloß zusammen, du bist schließlich verheiratet, rief sie sich selbst zur Räson, aber schlau war das nicht, weil mit dem Gedanken an Felix ihre Wut zurückkehrte und ihre Galle drohte, überzulaufen. Na, wenigstens heule ich nicht direkt los, dachte sie erleichtert.
Genervt erhob sie sich und ging zu einer Tür, die auf eine kleine Terrasse führte. Naja, Terrasse war vielleicht zu viel gesagt, eher ein Balkon oder Teil des Fluchtweges. Egal, ein Weg raus aus diesem Raum.
Sie drückte gegen die Glastür, aber der Ausgang schien verschlossen. Mist. Alleine in den Bahnhof hinauszugehen, das erschien ihr doch ein wenig riskant. Frustriert rappelte sie an dem Türgriff.
„Darf ich?“ Die tiefe Stimme hinter ihr fuhr ihr so unter die Haut, dass ihre Hände begannen zu zittern, als sie sie von der eisernen Verriegelung zurückzog.
Mit einem kräftigen Ruck öffnete der Fremde die Tür und hielt sie auf. Wortlos und nur mit einer leichten Kopfbewegung forderte er sie auf, hinauszugehen.
„Komme ich denn nachher wieder rein?“, fragte Catrin unsicher.
„Natürlich.“
Lachte er sie aus oder an?
„Notfalls können uns die beiden dort drüben wieder hereinlassen.“ Er nickte dem älteren Ehepaar zu, das sie aufmerksam beobachtete, und lächelte die beiden an. Die Frau erwiderte sein Lächeln sofort, über das ganze alte Gesicht strahlend, was Catrin nicht im Geringsten überraschte.
Sie schmunzelte. Wahrscheinlich überlegte der konsterniert dreinblickende Ehemann gerade, wann er diese Wirkung auf seine Frau verloren hatte.
„Na gut, dann will ich Ihnen mal vertrauen“, sagte Catrin und ging hinaus. „Danke.“
„Gerne. Rauchen Sie?“
Sie sah, wie sein Blick sie aufmerksam streifte, wie er sie blitzschnell