für mich.
Aufgrund der zusätzlichen Informationen, die ich in den drei Jahren nach der Diagnose bekommen habe, muss ich allerdings sagen, dass es in meinem Leben mehrere ungünstige Umstände gab, die meiner Gesundheit abträglich waren, wie etwa die geradezu himmelschreiende Unfähigkeit, die Alarmsignale meines Körpers und meiner Seele wahrzunehmen, meine außerordentlich ausgeprägte Fähigkeit, überaus sensibel auf die Bedürfnisse anderer Menschen, dafür aber nicht auf meine zu achten, der exzessive, über Jahrzehnte betriebene Raubbau an meinem Körper, langjährige Depression gepaart mit Burnout, Mobbing im Beruf sowie eine tragische Häufung von Todesfällen in meiner Familie innerhalb weniger Jahre. Die einzelnen Faktoren in ihrer konzentrierten Form ergaben, wie sich zeigte, eine hochexplosive Mischung, die – so bin ich überzeugt – zur Entstehung des Krebses führte.
Sollte ich mein Leben bis zur Diagnose kurz mit einem Satz kurz charakterisieren, müsste ich sagen: Es war eine Jagd nach Liebe und Anerkennung, koste es, was es wolle. Man sagt über ehrgeizige Menschen, dass sie über Leichen gehen – ich war bereit, über meine eigene zu stolpern.
Kindheit und Jugend
Ich kam in einem kleinen nordmährischen Dorf mitten im Kalten Krieg auf die Welt. Meine Mutter – zwar eine durch und durch gutmütige, mit ihren Pflichten aber grenzenlos überforderte Frau – musste aufgrund der damaligen gesetzlichen Bestimmungen bald nach meiner Geburt wieder arbeiten gehen. Ich wurde zusammen mit meinem um fünf Jahre älteren Bruder von meiner Großmutter erzogen. Da die Großmutter nach dem frühzeitigen Tod meines Großvaters allein eine kleine Landwirtschaft mit einem riesigen Garten, einem Feld und unzähligen größeren und kleineren Tieren betrieb, hätte sie auch ohne uns Kinder genug zu tun gehabt. So erwartete sie natürlich von meinen Eltern, vor allem von meiner Mutter tatkräftige Unterstützung. Meine Eltern standen täglich um fünf Uhr auf und gingen in die Arbeit – meine Mutter arbeitete als Buchhalterin, mein Vater als Elektrotechniker –; sie kamen um drei oder vier Uhr nachmittags nach Hause, wo nicht nur zwei Kinder und der gar nicht kleine Haushalt, sondern auch die überaus üppige und nach Versorgung rufende Fauna und Flora am Anwesen der Großmutter auf sie warteten, einen Tag nach dem anderen, das ganze Jahr hindurch.
Die Ehe meiner Eltern dauerte mehr als fünfundfünfzig Jahre und galt als vorbildlich, allerdings – wie sogar mein Vater nach dem Tod meiner Mutter freiwillig zugab – vor allem deshalb, weil meine Mutter sich komplett seinen Vorstellungen unterordnete. Sie tat nie oder selten etwas für sich, dafür alles für uns, für ihren Mann, für ihre Mutter. Mit »alles« meine ich vor allem die aufopfernde Befriedigung von Bedürfnissen materieller Art, denn für Liebe und Zuneigung blieb ihr keine Energie mehr. Sie hatte leider keine Geduld und auch keine besonders gute Hand für Kinder. Erst viel später erfuhr ich, dass sie – nicht zuletzt der harten Lebensumstände in der Kohlengrubenregion und der Ereignisse des Zweiten Weltkrieges wegen – selbst kaum Liebe und Geborgenheit erfahren hatte. Wohl durch die lange Zeit der Entbehrungen bedingt, wurde materieller Besitz (soweit im Kommunismus möglich), Auto, Farbfernseher (schlicht: Sachen und Gegenstände) in meiner Familie mehr geschätzt als Zufriedenheit, Geborgenheit und Liebe. Materiell hat es mir auch nie an etwas gefehlt. Ich lebte mit meiner Familie in einem großen Haus; mein Bruder und ich konnten mehrere Musikinstrumente erlernen, Privatstunden nehmen und studieren, denn sowohl meine Eltern als auch meine Großmutter waren tüchtige und fleißige Menschen. Der Preis für diese Annehmlichkeiten war allerdings hoch. Meine überaus geliebte Oma starb mit siebzig Jahren inmitten ihrer grenzenlosen Latifundien an einem Herzinfarkt; meine Mutter durfte nie erleben, wie sich ein selbstbestimmtes Leben anfühlt.
Schon sehr früh wurde mir beigebracht, meine chronisch überarbeiteten und unter ständigem Arbeitsdruck leidenden Eltern nicht zu stören, sondern Rücksicht zu nehmen. Draußen, im Garten und im Wald, mit unseren Tieren, meinen Katzen und dem Hund, genoss ich uneingeschränkte Freiheit und eine fantastische Kindheit, voll mit Fantasieabenteuern. Zu Hause lernte ich, auf Zehenspitzen zu gehen und möglichst nicht aufzufallen. Ein Ausweg bot sich für mich in geradezu unkontrolliertem Lesen. Ich las alles, was mir in die Hände kam. Wie etwa die dreibändige Autobiografie von Maxim Gorki oder Madame Bovary von Gustave Flaubert, die ich bereits mit elf Jahren verschlang. Mein Wortschatz explodierte und brachte mir in der Schule viel Lob ein; aus heutiger Sicht betrachte ich dieses Verhalten, das mich übrigens fast mein ganzes Leben begleiten sollte, als eine Art Flucht vor dem Leben.
Ich begriff offenbar schon sehr früh, dass ich – wollte ich meine Eltern, vor allem meine Mutter irgendwie auf mich aufmerksam machen – genau genommen zwei Möglichkeiten hatte: Krankheit oder schulischen Erfolg. So wurde ich häufig, gelegentlich auch ernsthaft krank, wurde eine ausgezeichnete Schülerin, die zwei Instrumente spielte, erfolgreich auf diversen Schulveranstaltungen auftrat und zahlreiche sportliche Wettbewerbe gewann. Sowohl mein Bruder als auch ich lernten nicht nur sehr früh, uns ausschließlich über Leistung und gute Noten zu definieren, sondern auch stets besser als die anderen sein zu müssen; denn das brachte uns relativ verlässlich die Aufmerksamkeit unserer Eltern. Wie ich schnell begriff, reichten normale Leistungen nicht, im Gegenteil, je außerordentlicher, desto besser. Daher wählte ich instinktiv Aufgaben, deren Bewältigung fast einem Wunder ähnelte. So entschied ich mich, Berufsgeigerin zu werden, obwohl ich erst mit zehn Jahren begann, Geige zu spielen und aufgrund der ausgezeichneten Noten viel leichter jedes andere Studium oder jeden anderen Berufsweg hätte wählen können. Trotz der anspruchsvollen Aufnahmeprüfung – die osteuropäischen Konservatorien und Musikakademien waren weltweit für ihr hohes Niveau und ihren Leistungsdruck bekannt – und strenger Auswahlverfahren wurde ich am Konservatorium aufgenommen und beendete die Ausbildung mit Auszeichnung. Gefühlt hatte ich mich die ganze Zeit aber wie ein gehetzter Hund; denn etwa fünf Jahre Musikunterricht, die mir die meisten meiner Schulkollegen voraus waren, mussten irgendwie nachgeholt werden.
Der Drill an der Schule war entsetzlich. Noch Jahrzehnte später erkannte ich die freudlose und auf Leistung getrimmte Ausübung von Musik wieder, als ich den Film »Die Klavierspielerin« nach dem Roman von Elfriede Jelinek gesehen hatte. Von der perversen Beziehung zwischen der Klavierlehrerin und ihrem Schüler abgesehen, erlebte auch ich diesen geradezu vernichtenden Leistungsdruck, der einem die letzten Reste von gesundem Selbstbewusstsein und Selbstachtung raubte. Die zwei größten »Geigerstars« meines Jahrganges, denen damals eine brillante Solokarriere prophezeit wurde, sind heute schwere Alkoholiker. Ich absolvierte das Konservatorium u. a. mit zwei violintechnisch höchst anspruchsvollen Capricen von Niccolò Paganini, dem wohl größten und berühmtesten Geigenvirtuosen aller Zeiten, war aber der festen Überzeugung, nicht Geige spielen zu können.
Schon während der Jahre am Konservatorium dämmerte mir, dass das Unterrichten an einer Musikschule oder eine Orchesterstelle doch nicht das war, was mich erfüllen würde, deshalb musste ich nach einer anderen Ausrichtung suchen. Da ich durch mein Studium am Konservatorium in der beruflichen Auswahl bereits stark spezialisiert, das heißt auch eingeschränkt war, bot sich die Musikwissenschaft als die beste Variante an. Dieses Studium war, wie damals alle universitären Studienrichtungen in der ehemaligen Tschechoslowakei, nicht nur heiß begehrt, sondern auch streng reglementiert. In Hinsicht auf die vorhandenen Stellen – in der Tschechoslowakei gab es im Kommunismus keine arbeitslosen Geisteswissenschaftler – bekamen nur einmal in fünf Jahren lediglich fünf Studenten die Möglichkeit, abwechselnd an den Universitäten in Prag oder Brünn Musikwissenschaft zu studieren. Für mich also gerade exquisit genug. Auch diese Hürde schaffte ich und wurde nach anspruchsvollen und langwierigen Aufnahmetests aufgenommen, trotz der Tatsache, dass bei über vierzig Bewerbern drei der vorhandenen fünf Stellen bereits mit Protektionskindern besetzt waren. Mein Bruder begann ein Technikstudium.
Meine Eltern gaben mit uns beiden an. Konnten aber ihre Freunde regelmäßig davon hören, wie gescheit und begabt mein Bruder und ich waren, hörten wir selbst nur selten Lob oder Anerkennung. Da wir beide damals nie erfuhren, wie es sich anfühlt, von den Eltern geliebt zu werden, ohne dass man sich die Zuneigung zuerst irgendwie verdienen musste, dachten wir, dass unsere Existenz nur durch Leistung begründet sei. Und umgekehrt: Ohne Leistung gibt es kein Recht aufs Leben. Eine fatale Überzeugung, die das Leben meines Bruders mit dreiundvierzig Jahren früh beendete und mich schwer erkranken ließ.
Das ist das Drama