Ursula Dettlaff

Tödlicher Spätsommer


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auf den Tag genau vor einem Jahr, zur selben Uhrzeit, traf Jutta in der dänischen Ferienhaussiedlung ein. Sie fühlte sich herrlich leicht und beschwingt.

      Ein völlig neuer Lebensabschnitt lag vor ihr. Ohne Last, ohne Verantwortung für Andere, ohne ständige Kontrolle und vor allem ohne die dauernde Heimlichtuerei.

      Hier und jetzt wollte sie allein sein, die Seele baumeln lassen, ganz in Ruhe die nächsten Schritte überlegen. Schließlich wollte sie keinen Streit. Große Aussicht auf Verständnis bestand nicht, das war klar.

      Sie parkte den Wagen vor dem großen Backsteingebäude. Bevor sie hineinging, schritt sie erst einmal um das Haus herum und betrachtete es neugierig. Mit seiner rot gestrichenen Fassade und den hellblauen Fensterrahmen war es zweifellos das markanteste Haus in der ganzen Siedlung. Stockmalven und Klitrosen umzäunten das Grundstück und boten gleichzeitig effektiven Windschutz.

      Das Haus war zweckmäßig und gemütlich eingerichtet. Aquarelle mit Landschaftsmotiven – vorwiegend hohe Wellen mit brausenden Schaumkronen – hingen über dem langen, etwas unbequemen Sofa.

      Jutta nahm sich vor, schnell die Koffer auszupacken, das Bett zu beziehen, um dann endlich zum Strand zu gehen.

      Die linke Seite der Couch richtete sie sich als gemütliche Leseecke ein, faltete die mitgebrachte Wolldecke zurecht, legte den Bücherstapel auf den Tisch und brachte schon einmal die Leselampe in die richtige Position.

      Eine freitragende Wendeltreppe führte in die erste Etage. Hier befanden sich die beiden Schlafräume. Jutta bezog das Zimmer mit Meerblick. Herrlich, diese unendliche Weite. – Helene fühlte sich wie versteinert in ihrer Trauer.

      In einer solchen Situation fällt es schwer, die Dinge in der unmittelbaren Umgebung wahrzunehmen.

      „Ist das Ihrer?“ fragte die Verkäuferin unfreundlich und wies auf ein beinah ponygroßes Zottelwesen draußen vor dem Schaufenster.

      Trotz ihrer häufigen Besuche bei Dobbelstein kannte Helene weder diese Verkäuferin, noch jemand anderen aus dem heutigen Team.

      „Nein, wie kommen Sie darauf?“, gab Helene zurück während sie ihr Portmonee in die Handtasche legte.

      „Also das ist doch eindeutig, so wie der sie anstarrt. Das ist doch wieder typisch. Erst schaffen sich die Leute einen Hund an und dann wird ihnen die Arbeit zu viel. Sieht man ja, in welch bedauernswertem Zustand das arme Tier ist“, fügte sie hinzu.

      Stimmt, dachte Helene, das verfilzte, schmutzige Fell ist sicher ein Paradies für Flöhe und andere Parasiten. Helene fröstelte.

      „Der Hund saß die ganze Zeit hier und starrte nur Sie an. Nun wollen Sie mir erzählen, dass Sie ihn nicht kennen? Vielleicht ist das arme Geschöpf ja auch krank und Sie wollen die Arztrechnung sparen. Kennt man doch, so was. Stand neulich noch in der Zeitung. Das ist eindeutig ein Fall für den Tierschutz. Ich informiere jetzt das Ordnungsamt“, wetterte sie und hatte auch sogleich ein Telefon in der Hand.

      „Sie irren sich“, gab Helene ganz ruhig zurück „und deshalb werde ich jetzt gehen. Auf Wiedersehen.“ Mit großen Schritten eilte sie Richtung Kantpark, wo sie im Randbereich ihren Wagen abgestellt hatte.

      „Der ist aber gut erzogen. Läuft ohne Leine und setzt sich, ohne dass Sie ihn beachten, an der Gehwegkante hin“, sagte eine ältere Frau.

      Helene brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass sie angesprochen wurde.

      „Haben Sie gar keine Leine dabei? Wirklich toll. In all dem Gewühl interessiert sich der Hund nicht einmal für Radfahrer.“

      Helene blickte nach links. „Ist nicht meiner, läuft mir lediglich hinterher“, brummte sie.

      Spuren auf ihrem Rock zeigten, wie nah das Tier Helene gefolgt war. Vergeblich versuchte sie, Schmutz und Hundehaare wegzuwischen.

      Mittlerweile hatte sie ihr Fahrzeug erreicht.

      Ihretwegen konnte der Zottel ruhig hier stehen bleiben, bis sein Besitzer kam.

      „Weg da, lass mich einsteigen“, zischte Helene. Das Zottelwesen gab ein kurzes dunkles „Wuff“ von sich und wedelte mit dem Schwanz.

      Es war klar, dass die Szene nicht unbemerkt bliebe.

      „Gucken Sie doch mal, das arme Tier hat Hunger“, meinte ein alter Mann, drehte seine Gehhilfe um und setzte sich bequem hin, um in aller Ruhe den weiteren Fortlauf der Ereignisse beobachten zu können.

      Langsam dämmerte es Helene, dass sie sich ihres unerwünschten Begleiters nur durch einen eigenen Anruf beim Ordnungsamt entledigen konnte.

      Als die Beamten wenig später eintrafen, war die Zuschauergruppe auf ein gutes Dutzend angestiegen.

      „Nein, so ein niedliches Tierchen. Schauen Sie doch bloß in diese treuen Augen“, schwärmte eine Frau.

      Helene fand zwar die Bezeichnung „niedliches Tierchen“ unpassend, dem traurigen Blick der großen Kulleraugen konnte sie sich jedoch ebenfalls nicht entziehen.

      Beim Anblick der Polizisten sträubte sich das Fell des Hundes und er begann bedrohlich zu knurren.

      „Sehen Sie doch, wie stark er auf Sie fixiert ist.“ Für die Beamten war der Fall klar. „Da kommt ein saftiger Bußgeldbescheid auf Sie zu, soviel ist schon mal sicher“, meinten sie und warfen einen Blick auf Helenes Kennzeichen. „Die Fahrzeugpapiere bitte!“

      Helene zog die gewünschten Papiere aus ihrer Handtasche und reichte sie weiter. „Hören Sie, das wird mir hier langsam zu dumm. Ich habe auch noch etwas anderes zu tun, als mir Ihre falschen Behauptungen anzuhören“, wetterte Helene. „Ist denn so´n Tier nicht irgendwie gekennzeichnet?“

      Einer der Beamten holte einen Scanner aus dem Dienstfahrzeug und wollte damit das Tier abtasten. Näher als einen Meter kam er allerdings nicht heran. Der Hund knurrte erneut.

      „Machen Sie“, forderte der Jüngere Helene auf und drückte ihr das Gerät in die Hand.

      Während sie unbeholfen damit herumhantierte, legte der Vierbeiner sanft seinen Kopf in Helenes Hand, sah sie an und ließ die kurze Prozedur klaglos über sich ergehen. Eine Kennzeichnung trug er ebenso wenig wie ein Halsband.

      Einige Parkplätze weiter stieg eine junge Frau aus einem Kombi. „Tierschutzverein Duisburg“ stand in großen Lettern auf den Fahrzeugtüren.

      „Gut, dass Sie da sind.“ Helene war erleichtert. „Ich kenne diesen Hund nicht. Und nur weil er mir schon eine ganze Weile folgt, meint alle Welt, er gehöre mir“, fügte sie hinzu.

      Die Tierschützerin ging in die Hocke und schlang beide Arme um den Hund.

      „Na, du bist aber ein Feiner“, sagte sie mit sanfter Stimme. Zottelhund bewegte den Kopf heftig erst nach rechts, dann nach links, bis er sich aus der Umarmung gelöst hatte.

      Die vielen Menschen ringsum schienen ihn zu beunruhigen, denn er machte den Versuch, sich unter Helenes Wagen zu verstecken, was angesichts seiner Körperfülle nicht gelang. Lediglich Kopf und Nacken des Tieres verschwanden unter dem Auto. Ein erschreckendes Bild, zeigte es doch, in welcher Not sich der Hund offenbar befand.

      „Es ist Urlaubszeit und unsere Hundeboxen sind alle mehr als belegt. Dasselbe gilt für unsere Pflegestellen“, sagte die Tierschützerin, die sich erst jetzt vorstellte. „Heike Brassert“, sagte sie und streckte Helene ihre Hand entgegen.

      „Helene Schneider“.

      Die Männer vom Ordnungsamt verabschiedeten sich schließlich und auch einige Gaffer wandten sich gelangweilt ab.

      „Ja, komm du doch mal her, guck mal, was ich hier Gutes habe“, versuchte Heike Brassert den Vierbeiner aus der Reserve zu locken. Erfolg hatte sie allerdings damit nicht.

      „Ein so ängstlicher Hund hat so gut wie keine Aussicht auf Vermittlung. Wer will sich schon um einen Problemfall kümmern müssen“, vermutete sie und schaute Helene hilfesuchend an. „Versuchen Sie es doch einmal,