dröhnte es aus dem Lautsprecher. Als sei das ganze Leben ein herrlicher Spaß. Helene hätte das Ding am liebsten aus dem Fenster geworfen.
Ob sie doch wieder einmal in Urlaub fahren sollte? Aber zum Alleinsein muss man nicht wegfahren. Das Geld konnte sie sich sparen.
Sie hatte keine Lust, im Restaurant den kleinen Tisch neben der Toilette zugewiesen zu bekommen, oder vom Kellner geringschätzig taxiert zu werden.
Kaum auszudenken, wie lange sie am Bügelbrett stünde, wenn sie nach zwei Wochen nach Hause käme.
Ob Jutta wohl jemals gebügelt hat? Was wusste sie eigentlich über Jutta?
Hallo, Helene, es ist Anfang Juni, nicht Mitte November, herrlicher Sonnenschein, nicht Tristesse.
Zeit, das Leben zu genießen, schallt sie sich selbst.
Morgen. Bestimmt.–Vielleicht.
Sie ordnete die Sachen in den Schrank ein, warf einen Blick in den Kühlschrank und bereitete sich drei, besser vier Vollkornbrote mit Käse und Tomaten zu, legte sie auf einen Teller, den sie dann auf den Wohnzimmertisch stellte.
Halb sechs, gute Zeit für eine Tasse Tee, überlegte sie gerade, als das Telefon klingelte.
„Ich bin´s“, sagte die Stimme am anderen Ende der Leitung nur. „Kommst du vorbei?“ „Ja“, antwortete sie knapp. Es bedarf nur weniger Worte, wenn man sich so lange kennt. Es tat gut, wie aufmerksam er ihr aus dem Mantel half.
„Ich wäre heute gern um die Regattabahn gewandert, oder die Sechs-Seen-Platte“, sagte sie. „Und, warum biste nicht?“, fragte er zurück. „Allein macht es keinen Spaß“, entgegnete sie.
„Oh, diese ewigen unterschwelligen Vorwürfe. Das ist ja nicht zum Aushalten“, beschwerte er sich.
„Ich kann ja wieder gehen“, antwortete sie trotzig und beeilte sich, ihren Mantel wieder anzuziehen. Er war noch warm. „Wie du willst“, murmelte er. Sie hatte es wohl nicht mehr gehört, eben warf sie die Tür ins Schloss.
Zuhause wollte sie noch ein wenig fernsehen, dann zu Bett gehen und sobald der Wecker klingelte war endlich diese Routine wieder da, diese Richtschnur, dieser Leitfaden, der das Leben einfacher machte. Routine ließ keine Spielräume offen.
„Danke für den schönen Abend“, begrüßte Heiner seine Mitarbeiterin am nächsten Morgen bissig.
„Das Kompliment gebe ich gern zurück“, giftete Helene ihn an.
„Was läuft da zwischen euch?“, mischte Annette sich ein.
„Oh nein, dafür seid ihr zu alt, oder zumindest zu spießig“, lachte sie und schaute sich im Laden nach Menschen um, denen sie diese unfassbare Neuigkeit mitteilen konnte.
Natürlich. Die alte Frau Hüttmann blätterte gerade in einer Illustrierten und interessierte sich scheinbar brennend für den neuesten Klatsch.
Helene ging eilig ins Lager, um die neue Warenlieferung auszupacken. Heiner stand in der Nähe der Kasse, rückte hier ein Buch gerade, ordnete da einen Stapel und wirkte ausgesprochen beschäftigt.
Schon kurz vor der Mittagspause wartete Timo vor dem Laden auf Annette. Sie stürzte auf ihn zu, er umarmte sie, hob sie in die Höhe und beide küssten sich innig.
„Muss Liebe schön sein“, dachte Helene grimmig und verschloss die Ladentür hinter der jungen Frau. Wie kann man nur jeden Mittag sein Geld so zum Fenster hinauswerfen, überlegte sie.
Helene war zum Glück sehr genügsam und sparsam. Aber davon kannte Annette ja nichts.
Jutta hätte jetzt sicher die Sonne genossen und sich zum Beispiel bei Heinemann auf dem Sonnenwall einen bunten Salatteller bestellt, kam ihr plötzlich in den Sinn.
So teuer ist der nicht. Und ebenso wenig Fast Food wie die Suppe, die Helene sich nun auf der Herdplatte erwärmte.
„Weißt du eigentlich, dass ich dir gestern einen Heiratsantrag machen wollte?“, fragte Heiner.
Helene schaute ihn wortlos an. „Wir kennen uns jetzt schon so lange. Du könntest den alten Kasten verkaufen und steuerlich hätte das für uns nur Vorteile“, zählte er auf.
„Und du sparst das Gehalt für die Verkäuferin und den Lohn für die Putzfrau. Als Ehefrau mach´ ich das doch liebend gern“, säuselte Helene gespielt. Heiner fiel buchstäblich die Kinnlade herunter.
Sie hatte nicht damit gerechnet, dass ihn ihre Abfuhr so tief verletzen könnte.
Nun tat er ihr fast ein bisschen leid. Doch als sie seine Schulter anfasste und eine Entschuldigung zu stammeln versuchte, drehte er sich barsch weg. Warum musste sie auch nur immer so mit der Tür ins Haus fallen?
Schon als Kind ärgerte sie sich hinterher über solche Missgeschicke. Jutta wäre das nie passiert. Ihr „Nein“ wäre so charmant verpackt gewesen, dass Heiner und sie am Ende sicher beide gelacht hätten.
So verschieden waren die Schwestern schon als Kinder gewesen. Helene erinnerte sich an viele Begebenheiten, in denen Jutta die Umwelt mit ihrer netten, fröhlichen Art um den Finger wickelte.
Wie wurde die Zwillingsschwester in der Schule von der Deutschlehrerin beschrieben „Helene ist erschreckend ehrlich.“ Und damals war sie auch noch stolz darauf.
Heiner und Helene gingen sich in den folgenden Tagen aus dem Weg.
Als Helene Dienstagabend durchs Treppenhaus ging, öffnete Frau Schulte ihre Wohnungstür. Die kleine rundliche Frau mit den weißen Haaren trug heute selbstverständlich eine sorgfältig gebügelte bunte Kittelschürze über ihrem Rock und der hellen Bluse.
„Ach, Helene, da bist du ja endlich. Ich warte schon seit zehn Minuten auf dich“, jammerte die alte Frau vorwurfsvoll. „Für mich ist es Zeit, ins Bett zu gehen“, fügte sie hinzu. Dieser Überfall bedeutete nichts Gutes, ahnte Helene, grüßte freundlich und schickte sich an, weiter zu gehen.
„Mein Enkel kommt morgen nach der Schule zum Mittagessen“, erklärte die Seniorin.
„Dat hat sich ganz kurzfristig ergeben, weiße. Ich halt nix davon, mich wat auf Vorrat zu legen, außerdem reicht ´de Rente da nich für. Un ich fahr ja erst übbermogen widder mit mein Tochter einkaufen. Ich könnt Bratkartoffeln mit Salat machen. Aber mir fehlen zwei Bratwürstchen“, überfiel sie Helene mit ihrem Wortschwall.
„Er isst doch so gern die Bratwurst von Reher“, setzte sie zu ihrem Anliegen an. „Und deshalb habe ich schon dort angerufen, zwei bestellt und Bescheid gesagt, dass du sie morgen um 8 abholst.“
Ihre Mieterin schien in Helene noch immer die Achtjährige zu sehen. Nach Ausflüchten zu suchen war zwecklos. „Ich mach´s“, antwortete Helene. „Komm rein, Kind, ich geb´ dich direkt dat Jält“, die Stimme der alten Frau klang plötzlich entschlossen und fest.
„Nicht nötig, das machen wir morgen Abend. Ich hänge die Tasche an die Klinke“, entgegnete Helene, die inzwischen ihre Tür geöffnet und die Handtasche an die Garderobe gehängt hatte. „Du kannst ruhig klopfen. Ich bin früh aufe Beine, weil ich noch aufräumen wollt.“
Beim Blick auf die Uhr entschied Helene am nächsten Morgen, den Miniatureinkauf auf der Münchner Straße zu Fuß zu erledigen.
Sie hatte genug Zeit dafür.
Den Lärm, den die vielen Fahrzeuge auf der Lindenstraße und der Sittardsberger Allee erzeugten, ignorierte sie ebenso wie den Benzingestank. Ganz egal, es war Sommer, die Sonne schickte ihre hellen Strahlen nach Buchholz. Was für Helene allerdings noch lange kein Grund war, ohne ihren beigen Zweireiher das Haus zu verlassen.
Sollten doch Andere rumlaufen, wie es ihnen gefiel, Helene legte Wert auf Stil.
Eine Sekunde lang drehte sich Jutta tanzend im luftig bunten Chiffonkleid auf der großen Wiese vor dem Küchenfenster.
Helene freute sich an dem Bild, das sie plötzlich vor Augen hatte.
Das