Hansjörg Anderegg

Unentrinnbar


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offen, das Licht brannte und ich hörte, dass die Pferde unruhig waren.«

      Jonas beglückwünschte sich insgeheim zu dieser brillanten Ausrede, aber sein CEO traute ihr nicht. »So? Seltsam. Um welches Pferd handelt es sich?«, fragte er lauernd. Dabei blickte er sich offen nach weiteren Eindringlingen um.

      »Die – wunderbare Lipizzanerstute da hinten.«

      Jonas zeigte auf die Box, wo Brunhild tatsächlich wieder aufgeregt schnaubte. Seine frappante Pferdekenntnis schien Brüderle doch noch zu beeindrucken.

      »Brunhild, die Stute meiner Frau«, murmelte er. »Sie ist ein wenig ängstlich.«

      »Ein schönes Tier«, meinte Jonas bewundernd, obwohl er Pferde nur an der Farbe unterscheiden konnte.

      »Wie alle hier«, ergänzte Brüderle säuerlich.

      »Natürlich.«

      Jonas beeilte sich, seinem CEO zum Ausgang zu folgen. Der blieb plötzlich stehen und drehte sich mit ernster Miene zu ihm um. »Übrigens, Dr. Herzog. Die Frage des klinischen Tests hat sich erledigt. Ich habe mit Berlin gesprochen. Ihre Argumente haben überzeugt.«

      Er hätte ebenso gut Chinesisch reden können. Im ersten Moment verstand Jonas kein Wort. Gut trainiert, wie er war, antwortete er automatisch mit der passenden Floskel: »Ausgezeichnet. Das sind gute Nachrichten.«

      Erst nachdem sie den Stall hinter sich hatten, sank die Neuigkeit in sein Bewusstsein. Lars Brüderle hatte soeben bestätigt, dass keine zusätzlichen, aufwendigen klinischen Tests für ihr gentechnisch hergestelltes Generikum ›XORACIN‹ nötig waren. Anders ausgedrückt: Sein Projekt war auf der Zielgeraden zum totalen Triumph. Freuen mochte er sich nicht darüber. Vielleicht später. An diesem Abend machte er sich zu große Sorgen um seine Tess.

       Kapitel 3

      Gestüt Walpurga, Badenweiler

      Tess rieb sich verwundert die Augen. So früh am Morgen zu erwachen war ungewöhnlich genug, aber ohne Kater? Wie lange lag ihr Flachmann schon leer in der Nachttischschublade? Sie war im Begriff, sich zu verändern. Jetzt, da die Tage schnell kürzer wurden und die ersten Frostnächte vor der Tür standen, begann in ihrem Kopf der Frühling. Blumenwiesen verbreiteten ihren betörenden Duft und laue Lüftchen wehten den abgestandenen Alkoholdunst nach und nach aus ihren Poren. Nicht dass sie ganz aufs Trinken verzichtete, beileibe nicht. Aber die kostbaren, witzigen und romantisch verliebten Telefonate und Kurznachrichten ihres herzergreifend unverdorbenen Jonas am Abend im Bett wiegten sie so sanft in den Schlaf, dass sie den betäubenden Schlummertrunk regelmäßig vergaß. Der Frühling machte auch das Leben im goldenen Käfig des Familiensitzes überraschend erträglich. Selbst im Haus konnte sie vollkommen nüchtern sein und trotzdem frei atmen. In diesem schrecklichen Haus, wo die Perfektion des selbstgerechten Stiefvaters und seiner noch vollkommeneren Mutter Walpurga wie ein einziger giftiger Vorwurf aus jeder Mauerritze, den Tapeten, kostbaren Teppichen, antiken Möbeln, piekfein glänzenden Wasserhähnen, ja gar aus dem schweren Tafelsilber kroch.

      Sie schlug die schwarz seidene Bettdecke zurück, küsste das Handy mit dem Morgengruß ihres Geliebten und stellte sich unter die Dusche, deren warmer Tropenregen sie wieder erfrischte wie früher, nicht nur weckte, seit sie Jonas kannte. Der einzige Nachteil des neuen Lebensrhythmus bestand darin, dass sich die Begegnungen mit Lars am Frühstückstisch häuften. Seit der alte Hubert die meiste Zeit in Italien verbrachte und sie ihm nicht mehr täglich die intakte Ehe vorspielen musste, hatte sie kaum ein Wort mit Lars gewechselt. Er versuchte es immer wieder, weil er als ehemaliger Staranwalt nichts anderes gelernt hatte als Theater zu spielen, doch seine Themen interessierten sie nicht. Außer einem, bei dem sie sich regelmäßig in die Haare gerieten. An diesem schönen Frühlingsmorgen, wo draußen ein Herbststurm die letzten Blätter von den Bäumen fegte, war es wieder soweit.

      »Irgendwann müssen wir es ihm sagen«, murmelte Lars, bevor er sein Dreiminutenei mit einem präzisen Hieb köpfte.

      »Was meinst du?«, fragte sie, obwohl sie genau wusste, wovon er sprach.

      »Er hat ein Recht darauf, zu erfahren, dass wohl nichts wird mit dem Nachwuchs.«

      »Musst du am frühen Morgen damit anfangen?«

      »Wann sonst? Wir sehen uns ja nie mehr.«

      Sein Ton ließ sie aufhorchen. Er hörte sich an, als bedauerte er diesen Umstand außerordentlich.

      »Wir müssen es Hubert schonend beibringen, das ist dir doch klar?«

      Tess lachte verächtlich. »Du meinst, mein protestantischer Stiefvater verträgt die simple Wahrheit nicht, dass man nur vorne schwanger wird?«

      Lars senkte den Blick und löffelte das Ei bedächtig aus, bevor er ruhig weitersprach: »Wir müssen einen plausiblen Grund finden, den Hubert akzeptieren kann, sonst ist er imstande, das Testament zu ändern. Ich meine, das wollen wir beide nicht.«

      »Hast Angst, das vorgezogene Erbe zurückzahlen zu müssen, wie?«

      »Darum geht es doch nicht …«

      »Genau darum geht es«, brauste sie auf. »Du willst ihm weismachen, wir könnten keine Kinder kriegen. Dass ich nicht will, ist euch beiden scheißegal. Vielleicht fürchtest du, dass ich dir bei meinem katholisch sündigen Lebenswandel eines Tages einen Bastard ins Nest setze, einen wie mich.«

      »Hör auf …«, protestierte er. Der Rest blieb unausgesprochen.

      Sie stand wütend auf. Die Bedienung hatte sich diskret zurückgezogen, als der Streit ausbrach, also goss sie sich selbst Kaffee nach aus der verhassten Silberkanne in der Mitte der langen Tafel. Ihr Handy piepste. Ihr Gesicht hellte sich auf, als sie die SMS las.

      »Wieder dieser Hook?«, fragte Lars lauernd.

      Überrascht ließ sie das Handy fallen. »Was – woher …«

      »Ich bin nicht blind, Tess. Du lässt dein Telefon überall liegen, da konnte ich gar nicht anders, als ein-, zweimal einen Blick darauf werfen.«

      Sie schäumte. »Ja sicher«, rief sie aufgebracht. »Der überkorrekte Herr Brüderle spioniert seiner Frau nach. Ich dachte, wir lassen uns unsern Freiraum, schon vergessen? Vielleicht sollten wir das schriftlich in einem Vertrag regeln. Du kennst sicher einen guten Anwalt.«

      Er ließ sie toben, hielt es nicht für nötig, sie zu unterbrechen. Der Blick, den er ihr zuwarf, sagte deutlich genug: Bist du fertig? Warum schaffte er es immer wieder, sie zu provozieren? Sie kannte die Antwort, aber sie nützte ihr nichts. Er war trainiert, die schwachen Punkte anderer Leute zu erkennen und sie dann mit wenigen Worten bis aufs Blut zu reizen. Das war sein Lebensinhalt. Er konnte wahrscheinlich gar nicht anders. Seine nächste Frage nach einer Minute knisternden Schweigens passte genau in dieses Schema:

      »Wie lange geht das schon mit diesem Hook?«

      Als ob ihn je interessiert hätte, mit wem sie herumhurte. Statt ihm diese Wahrheit erbost an den Kopf zu werfen, antwortete sie mit provozierendem Lächeln: »Bald drei Monate.«

      Er stutzte.

      »Das hast du nicht erwartet«, freute sie sich.

      »Muss ich mir Sorgen machen?«

      »Sorgen?«

      »Am Ende verliebst du dich in den Kerl.«

      »Seit wann interessieren dich meine Gefühle?«

      »Du hast keine Ahnung. Ich zähle jedenfalls auf deine Diskretion. Das Gestüt hat viele Augen, auch wenn dein Vater nicht mehr hier wohnt.«

      »Stiefvater«, korrigierte sie ärgerlich und kehrte der reich gedeckten Tafel den Rücken.

      Freiburg

      Jonas war kein Geschäftsmann. Er besaß keinen Riecher für profitable Geschäfte. Deshalb war er Forscher geworden, wollte nie etwas anderes sein. Aus demselben Grund dachte er keine Sekunde daran, Vorteile für sich und seine Arbeit aus