nicht wissen …«
»Beruhigen Sie sich. Sie haben nichts falsch gemacht.«
Die Floskel hörte sich selbst in seinen Ohren reichlich hohl an. Natürlich konnte sie nicht wissen, wie es um sein unseliges Dreiecksverhältnis stand. Es musste Tess enorme Überwindung gekostet haben, ihn in diesem Haus aufzusuchen, das sie verabscheute wie alles, was mit dem Namen Holzbrinck zusammenhing. War er doch mehr als eine ihrer Affären, die Brüderle angedeutet hatte? Er wollte es aus ihrem Munde hören.
»Wo ist sie jetzt?«, fragte er in Gedanken versunken.
Die Empfangsdame schüttelte traurig den Kopf. »Ich weiß es nicht. Wie gesagt, sie ist aus dem Haus gestürmt, als würde sie fliehen, dann fuhr sie mit ihrem Wagen davon.«
Jonas murmelte ein »Danke schön« und eilte zurück zur Garage. Auf der Fahrt nach Badenweiler versuchte er vergeblich, sie ans Telefon zu bekommen. Sie musste das Handy ausgeschaltet haben. Vermutlich wollte sie nicht durch Anrufe von Lars belästigt werden. Er drückte aufs Gas, fuhr hart am Limit, denn er spürte, dass Tess in Gefahr war. In einem gab er Brüderle recht: Sie war labil, konnte nicht mit Ausnahmesituationen umgehen. Manchmal kam sie ihm vor wie ein Schaf oder ein Reh, ein Fluchttier, das sich Konflikten nicht stellte, sondern vor ihnen flüchtete. In den Alkohol, in fragwürdige Abenteuer oder Schlimmeres. Er parkte den Wagen unmittelbar vor der Treppe des Haupthauses. Die Zeit der Diskretion war vorbei, der Konflikt mit Lars Brüderle offen ausgebrochen. Er brauchte nicht mehr heimlich über Wald und Weide aufs Gestüt zu schleichen. Jetzt begann der Kampf um Tess im hellen Tageslicht und mit nackter Faust.
»Wo ist Tess?«, fragte er den Butler, der ihm die Tür öffnete.
Sein scharfer Befehlston ließ keinen Zweifel offen, dass er nur an der Antwort auf diese Frage interessiert war. Der Bedienstete versuchte gar nicht erst, Unverständnis zu markieren.
»Sie – Frau Brüderle ist weggefahren«, antwortete er ohne Umschweife.
»Wann?«
»Kurz nach drei.«
»Seither ist sie nicht zurückgekehrt? Sind Sie sicher?«
»Nein – ja – ich meine, ich bin sicher, dass sie nicht wiedergekommen ist.«
»Wohin ist sie gefahren?«
Der Butler zuckte die Achseln. »Wenn ich ihr etwas ausrichten …«
Er stockte, denn Jonas sprang schon wieder die Treppe hinunter. Im Wagen durchwühlte er hastig das Handschuhfach auf der Suche nach dem rosa Kärtchen, das er seinerzeit eingesteckt hatte. Fluchend räumte er das Fach aus, griff in die Seitentaschen der Türen, bis er sich plötzlich erinnerte. Er suchte im falschen Auto. Damals im ›Forstschlösschen‹ waren sie mit Patricks Wagen unterwegs gewesen. Verärgert fuhr er ab. Während der Fahrt durch das Wäldchen zur Landstraße versuchte er sich zu erinnern, welchen Weg er seinerzeit gefahren war. Müllheim lag in der Nähe, an diese Ortstafel erinnerte er sich. Tess telefonisch zu erreichen, hatte er aufgegeben. Das ›Forstschlösschen‹ war seine letzte Hoffnung. Es war ihr Zufluchtsort gewesen, bevor sie ihn kennengelernt hatte. Ironischerweise war es das zweifelhafte Verdienst ihres Mannes, sie dort eingeführt zu haben. Jonas schmunzelte unwillkürlich, als er daran dachte, wie sie ihm die Geschichte erzählt hatte. Es ging um ein großes Geschäft mit osteuropäischen Partnern, soweit sie sich erinnerte. Die teure Einladung ins ›Forstschlösschen‹ war eine Idee der Marketingabteilung, um die Geschäftsfreunde milde zu stimmen. Eine Idee, die bestens funktionierte. Zum blanken Entsetzen des prüden Lars Brüderle entpuppten sich die Begleiterinnen seiner Geschäftspartner schnell als professionelle Huren, die sich zudem glänzend mit Tess verstanden. Was musste Lars an jenem Abend gelitten haben. Die schummrigen Grotten des ›Forstschlösschens‹ mit ihrer schrägen Bevölkerung konnte ein aufrechter Protestant wie Brüderle nur als Brueghel’sche Hölle empfunden haben. Aber er hielt durch bis zum Schluss, wie Tess lachend berichtete. Es ging um viel Geld.
Endlich fand er die Straße, die abrupt in einen Feldweg mündete. Der unbefestigte Untergrund zwang ihn, die Geschwindigkeit zu drosseln. Langsam, viel zu langsam fuhr er in den Wald hinein, sah die unauffällige Abzweigung und parkte kurz danach vor dem Forsthaus, das sich Schlösschen nannte. Der Abend war noch jung. Nur drei Autos standen auf dem Parkplatz. Den blauen Mercedes kannte er. Er atmete erleichtert auf. Sie war da.
Milan nickte ihm freundlich zu und ließ ihn eintreten, ohne nach dem rosa Kärtchen zu fragen. Der Mann musste ein phänomenales Personengedächtnis haben. In der Eingangshalle trat die Hausherrin auf ihn zu, deren Gedächtnis offenbar genauso gut funktionierte.
»Captain Hook«, grüßte sie mit strahlendem Lächeln, das ihre Zähne entblößte, als wollte sie in seine Nase beißen.
Schnell streckte er ihr die Hand entgegen, um sie auf Abstand zu halten. »In der Tat, Frau Juliane. Heute bin ich allerdings nicht zum Vergnügen hier. Ich muss dringend mit der jungen Frau sprechen, die vor etwa zwei Stunden mit dem blauen Mercedes hier eingetroffen ist. Sie nennt sich Tess. Ist sie drin?«
Juliane machte ein ernstes Gesicht. »Bedaure, aber wir legen größten Wert auf Diskretion, wie Sie wissen. Ich darf keine Auskunft über unsere Gäste geben. Aber wenn Sie eintreten möchten …«
»Nein, ich muss nur Tess dringend sprechen, verstehen Sie?«
Sie schien nicht zu verstehen. Die Frau zerrte an seinen Nerven. Er überlegte, ob er sie einfach ignorieren und Tess suchen sollte. Dabei riskierte er zumindest ein paar blaue Flecke und möglicherweise eine gebrochene Nase. Bereits streckte Milan den Kopf zur Tür herein.
»Alles in Ordnung?«, fragte er mit einem misstrauischen Blick auf Jonas.
Plötzlich wusste er, wie er die gute Juliane überzeugen konnte. »Hören Sie«, sagte er in vertraulichem Ton. »Es ist eine äußerst heikle Angelegenheit. Tess sollte eigentlich eine Therapie beginnen – Alkohol, Sie wissen schon. Da ist sie seit Tagen nicht erschienen. Jetzt lässt sie ihr Mann polizeilich suchen. Früher oder später werden die hier auftauchen und alles auf den Kopf stellen.«
»Was sagen Sie da?«, platzte Juliane aufgeregt heraus, dass ihr Mieder Mühe hatte, den wogenden Busen zurückzuhalten. »Polizei? Das fehlt uns gerade noch.«
»Eben. Diese Peinlichkeit will ich auch Tess ersparen. Ich möchte sie so schnell wie möglich diskret von hier wegbringen. Das verstehen Sie doch?«
Polizei, diskret, diese Sprache verstand Juliane ausgezeichnet. »Sie ist wahrscheinlich unten in der Bar«, murmelte sie hastig. »Kommen Sie.«
Die wenigen Gäste befanden sich erst in der Aufwärmphase. Sie vergnügten sich am Büfett im Foyer des Theaters. Tess war nirgends zu sehen. Die Grotten, Käfige und ausgeklügelten Apparaturen, an denen sie vorbeikamen, warteten noch auf die ersten Gäste. Die Bar machte den gleichen, verlassenen Eindruck, bis er die Schuhe sah, die hinter der Theke hervorguckten. Der Anblick versetzte ihm einen Stich ins Herz, denn er kannte die schwarzen High Heels.
»Tess!«, rief er von panischer Angst ergriffen und stürzte sich hinter die Theke.
Sie lag reglos am Boden, das Gesicht in einer kleinen Blutlache. Es stank nach Erbrochenem und Alkohol. Eine Hand umklammerte noch den Hals der zerbrochenen Wodka-Flasche, deren Splitter verstreut um sie herumlagen wie höhnische Grabbeigaben. Jonas fiel auf die Knie, drehte ihren Kopf behutsam zur Seite, fühlte ihren Puls, während er ihr das Haar liebevoll aus dem Gesicht strich. Unfähig zu sprechen, wartete er atemlos auf ein Lebenszeichen. Er beugte sich über sie, bis sein Ohr ihre blutverschmierte Nasenspitze berührte. Er glaubte, ihren Atem zu spüren. Seine Finger fanden endlich die richtige Stelle an ihrem Hals. Ihr Herz schlug schwach, aber es schlug.
»Sie lebt!«, krächzte er heiser. »Ein Arzt! Wir brauchen einen Krankenwagen, schnell!«
Juliane beobachtete die Szene wie gelähmt, doch jetzt erwachte sie aus ihrer Starre. Jonas sah zu, wie sie das Telefon aus ihrem Mieder kramte, dann beugte er sich wieder über seine Tess. Er konnte nicht mehr für sie tun, als sie richtig zu lagern, ihr ein weiches Kissen unter den Kopf zu schieben, sie warm zuzudecken. Sie atmete regelmäßig,