die letzte Meldung. Vater geht es seit Langem nicht gut!, dachte sie bitter. Seit seine Demenz nicht mehr zu verbergen war, mussten sie seinem Zerfall tatenlos zusehen. Sein Umzug ins Heim hatte wenigstens das Leben ihrer überforderten Mutter erträglicher gemacht, aber seither fürchtete sich Chris vor Anrufen aus Potsdam. Jede Nachricht von Vater weckte neue Schuldgefühle. Sie müsste für ihn da sein und für Mama. Die meiste Zeit jedoch blendete sie Potsdam aus und lebte ihr eigenes Leben, als könnte der Mensch das Nest für immer verlassen und wegfliegen wie ein Vogel.
»Scheiße«, murmelte sie bedrückt.
»Ärger mit Jamie?«
»Schlimmer. Vater liegt im Bett.«
»Das – tut mir leid. Ich kann deine Ermittlungen übernehmen, wenn du ihn besuchen willst.«
Sie schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, ist nicht nötig. Kümmere dich um Nuuyomas Alibis und die Fremd-DNA an den Opfern wie besprochen. Ich versuche inzwischen, so viel wie möglich über das Umfeld in Namibia zu erfahren, und ich werde mir die Autopsieberichte vornehmen.«
Unschlüssig starrte sie auf das Handy, dann rief sie ihren Geliebten an. Während der nächsten zehn Minuten begrüßte sie dreimal Jamies Anrufbeantworter. Enttäuscht gab sie auf. Sie fühlte sich einsam, verlassen, leer. Sie verdiente nichts anderes, fand sie, als sie Mutters Nummer wählte.
Mariental, Namibia
Thula nahm den Topf vom Feuer. Der Mealie-Pap war etwas dick geraten, zuviel Maismehl, doch das schadete nicht. Ihre Patientin hatte beim letzten Besuch beängstigend schwach gewirkt. Sie zeigte deutliche Zeichen von Unterernährung. Da war sie nicht die Einzige unter ihren Bekannten, doch das Mädchen stand unmittelbar vor ihrer ersten Niederkunft. Thula rührte eine Weile weiter, kostete, dann goss sie einen kleinen Teil für sich in eine Schale und stellte den Topf bereit für den Besuch. Sie mischte zwei Löffel Orangenkompott in ihre Schale und trat damit vor die Tür. Die Sonne stand erst kurz am Himmel. Noch war es angenehm kühl. Keine fünfundzwanzig Grad, schätzte sie. Das trockene Gras der Savanne leuchtete golden wie jeden Morgen. Der Köcherbaum am Fluss warf seinen langen Schatten über ihre Hütte. Für sie waren das die schönsten Minuten des Tages. Sie genoss die Ruhe vor der Arbeit und das süße, nahrhafte Frühstück.
Sie hatte nicht damit gerechnet, die ganze Nacht schlafen zu können. Babys hielten sich nicht an feste Arbeitszeiten. Bald dürfte es vorbei sein mit der Ruhe. Sie schlenderte zum Fluss, der kaum mehr zu erkennen war. Nur einzelne flache Tümpel markierten das Bett des Fish River. Beim traurigen Anblick schüttelte sie den Kopf. Moses hatte ihr erzählt, dieses Rinnsal hätte nur eine Tagereise weiter südlich die größte Schlucht Afrikas ins Gestein gewaschen. Sie glaubte solche Märchen nicht, aber eines Tages würde sie dorthin reisen, um nachzusehen. Eines Tages, wenn der liebe Gott eine zweite Hebamme oder gar einen Arzt hierher schicken würde, damit sie sich nicht mehr allein um all die Armen kümmern müsste.
»Thula, Thula!«, rief eine Kinderstimme.
Sie hörte David, bevor er aus den Büschen sprang und auf seinen dünnen Beinen schnell, wie eine Antilope auf sie zuschoss.
»Es geht los«, keuchte er.
Sie nickte lächelnd, denn der Zehnjährige machte ein Gesicht wie ein erfahrener Geburtshelfer, der diesen Satz jeden Tag ein paar Mal aussprach. Sie winkte ihn ins Haus, gab ihm die Bereitschaftstasche und deutete auf den Topf mit dem Mealie-Pap.
»Kannst du den auch tragen?«
»Klar, was denkst du denn.«
Sie nahm die zweite Tasche aus dem Schrank. Der Behälter aus dem Kühlhaus der Schlachterei fühlte sich immer noch eiskalt an, obwohl sie ihn zur Sicherheit schon am Abend zuvor geholt hatte. Sie stellte noch eine Flasche mit dem Kräutertee dazu. Es war ihre eigene geheime Mischung, die sie über die Jahre perfektioniert hatte. Der Tee regte den Kreislauf an und stärkte ihn, weshalb die Leute ihn als Zaubertrank und sie als gute Hexe verehrten.
»Wie geht es Alexia?«, fragte sie auf dem Weg zum Haus des Farmers.
»Sie schreit.«
»Das sind die Wehen.«
»Ich weiß, aber Dad sagt, sie ist noch trocken.«
»Dad ist bei ihr?«, fragte sie erschrocken. »Das ist nicht gut, es bringt Unglück, das sollte er wissen. Und die Schwester, ist sie da?«
David nickte eifrig. »Mehr als das: Auch ihre Mutter ist gekommen.«
Nangolo Kawana wohnte mit seinen zwei Kindern aus erster Ehe und Alexia in einer einfachen Holzhütte mit Wellblechdach, wie die meisten Kleinbauern in der Gegend. Zwei Schafe, zwei Ziegen, ein paar Hühner, etwas Mais, Spinat und eine Bananenstaude lieferten das Nötigste, um den Hunger zu stillen. Geld gab es nur, wenn Nangolo Glück hatte und für kurze Zeit im Schlachthof aushelfen durfte, oder wenn man ihn bei der Ernte auf den Feldern am Stausee brauchte. Sie ging davon aus, dass sich zurzeit kein Cent im Haus befand. Die Leute bezahlten ihre Dienste mit Eiern und Gebeten, was wollte sie mehr? Auch sie betete für Alexia, die fast noch ein Kind war. Der Herrgott möge ihr Komplikationen ersparen, denn teure Medikamente konnte sich niemand leisten.
Vor dem Haus graste nur ein Schaf.
»Wo ist das Zweite?«, fragte sie.
David warf ihr einen traurigen Blick zu. »Es ist vorgestern gestorben, aber Dad will nicht darüber reden.«
»Tut mir leid, David.«
Die Zuversicht schwand schnell, als sie ans Bett trat, das nur aus einer Matratze am Boden bestand. Sie bedeutete Nangolo, die Hütte zu verlassen, dann fühlte sie Alexias Puls. Ihr Herz schlug schnell, aber immerhin regelmäßig. Die junge Frau sah sie aus angstvoll geweiteten Augen an.
»Muss ich sterben?«, flüsterte sie.
Thula redete ihr beruhigend zu. Sie tat es nicht nur für Alexia. Die andern beiden Frauen brauchten den Trost ebenso, wie es schien. Die Wehen setzten alle fünf Minuten ein, eine Zerreißprobe für die junge Mutter, aber ein gutes Zeichen. Die Fruchtblase platzte. Alexia schrie aus Leibeskräften bei der ersten Presswehe, dennoch befolgte sie die Anweisungen der Hebamme vorbildlich, jetzt, da sie das Ende ihrer Leiden kommen sah. Das Kind lag richtig, nur der Kopf musste ein wenig bewegt werden, damit sich der Muttermund weiter öffnete. Mithilfe der Frauen hob sie Alexia auf einen Stuhl, gepolstert mit Kissen und Tüchern, damit sie sitzend gebären konnte. Die Stellung linderte ihre Schmerzen und beschleunigte den Prozess.
Eine halbe Stunde später hielt Thula den winzigen Wicht in den Armen und legte ihn an Alexias Brust.
»Ein Knabe«, verkündete sie lächelnd.
Die Ankunft des neuen Erdenbewohners verwandelte die düstere Hütte in einen Ort ausgelassener Freude. Lachen und fröhliches Schwatzen erfüllten den Raum und es schien, als weiteten sich die kleinen Fenster, damit mehr warmes Sonnenlicht den Kleinen streicheln konnte. Alexia hielt ihren Sohn mit Tränen in den Augen in den Armen und fand keine Worte für ihr Glück. Vergessen waren die Schmerzen und die Todesangst. Ihr Herz beruhigte sich. Das Neugeborene machte einen gesunden Eindruck, das sah Thula mit ihrem geübten Auge, auch ohne es mit Stethoskop und Thermometer zu untersuchen. Der liebe Gott hatte ihre Gebete erhört. Sie war überzeugt, Komplikationen würden nun auch im letzten Akt ausbleiben.
»Lasst uns jetzt bitte allein«, sagte sie zu den zwei Frauen.
Sie wartete, bis sich die Tür hinter ihnen schloss, dann setzte sie die zwei Klemmen und durchtrennte die Nabelschnur. Der Blutkreislauf des Kindes brauchte diese Unterstützung nicht mehr. Behutsam legte sie den Kleinen wieder an Alexias Brust.
»Ich massiere dich jetzt, damit sich die Nachgeburt ablöst. Keine Angst, du wirst kaum etwas spüren dabei.«
Sie fühlte, wie sich die Fruchtblase verlagerte. Der junge Körper, so schwach er schien, löste auch diese Aufgabe hervorragend. Er schied die Nachgeburt unversehrt und vollständig aus. Alexia blieben gefährliche Blutungen erspart. Thula legte das kostbare Gewebe sorgfältig in den bereitstehenden Behälter.
»Ich