Hansjörg Anderegg

Das letzte Steak


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ihrer Verblüffung las Klein das Kennzeichen ungerührt von seinem Notizblock ab. Minuten vergingen, ohne dass sich etwas regte. Hin und wieder fuhr ein Auto auf der Hauptstraße vorbei. Aus Kleins Funksprechgerät tönten leise kurze Meldungen. Der Flüchtige verstand es offenbar geschickt, sich unsichtbar zu machen. Seit der Flucht durch die Lange Gasse hatte ihn niemand mehr gesehen.

      Es knackte im Funkgerät.

      »Kalle, er ist da«, flüsterte eine Stimme im Lautsprecher.

      Es ging los. Sie nickte Sven zu, mehr brauchte es nicht, damit jeder wusste, was zu tun war. Ihr Partner rannte zur Ausfahrt, durch die der Flüchtige ins Parkhaus eingedrungen sein musste. Sie blieb mit Klein draußen, um die Personenausgänge zu überwachen. Mit dem Funkgerät hörten sie, was drinnen vorging. Eine Weile blieb es ruhig, bis ein kurzer Piepser verriet, dass jemand eine Autotür öffnete. Das Schloss klickte.

      »Halt, Polizei!«, rief Sven. »Hände aufs Dach und keine Bewegung!«

      Die nächtliche Stille im Parkhaus verwandelte sich augenblicklich in ein Durcheinander aus hallenden Schritten, Türenschlagen, lauten Befehlen und Flüchen.

      »Achtung, er flieht durch das Treppenhaus«, rief Sven.

      Die schwarze Gestalt stürzte aus der Tür direkt vor Chris’ Füße. Kleins Partner hatte dem Flüchtenden im richtigen Moment ein Bein gestellt. Im selben Augenblick kniete sie auf dem Mann, drückte ihm das Gesicht auf den Boden und drehte ihm trotz der Stiche in der Schulter die Arme mit aller Kraft auf den Rücken, dass er laut aufstöhnte. Klein half ihr dabei, ihn zu fesseln, während sie seine Arme etwas weiter verdrehte, um zu prüfen, wie laut er werden konnte. Sie zog ihre Waffe aus seiner Hosentasche, dann erst ließ sie von ihm ab.

      »Sie sind vorläufig festgenommen«, schnauzte sie ihn an. »Aufstehen!«

      Ihre Schulter drohte zu explodieren, doch was sie viel mehr irritierte, war der attraktive Geruch des Scheißkerls.

      Wiesbaden

      Die elegante Gestalt im Verhörraum nahm ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Mit dem Handy am Ohr beobachtete Chris verwirrt, wie der Schwarze seine Hände peinlich genau untersuchte und die Nägel ausgiebig überprüfte, als säße er im Nagelstudio der unerbittlichen Rosy. Er erhob sich, näherte sich der undurchsichtigen Scheibe, beugte sich vornüber, dass nur das Glas ihre Nasenspitzen trennte. Kritisch betrachtete er sein Gesicht von allen Seiten, fletschte die Zähne, die in makellos weißer Uniform und preußisch präzis ausgerichtet wie die Ehregarde des Alten Fritz auf sie warteten. Jamie am andern Ende der Leitung bekundete Mühe, auf ihre letzte Frage zu antworten, an die sie sich schon nicht mehr erinnerte.

      »Ja, ja, ich muss jetzt Schluss machen, bis später«, sagte sie und legte auf.

      Sie ließ den Verdächtigen noch zehn Minuten schmoren, bevor sie den Verhörraum betrat. Aus seinen Papieren kannte sie seine Identität. Er hieß Leonard Nuuyoma, stammte aus Namibia und arbeitete als Journalist bei der Zeitung ›Namibian‹ in Windhoek, genau wie das Opfer. »Können die ihren Arbeitskonflikt nicht zu Hause austragen?«, hatte Sven gefragt. Ein mögliches Motiv für die erste Tat wäre es immerhin, musste sie zugeben, wenn auch ein schwaches. Arbeitskonflikte endeten selten tödlich, und wenn, dann mit Schusswaffen. Zudem blieb völlig unklar, wie der bedauernswerte Professor Lorenz ins Bild passte. Sie vermutete eher, dass Lorenz und seine Arbeit an der Uni eine Schlüsselrolle spielten. Nuuyoma erhob sich sofort, als sie eintrat. Mit wachsamen Augen beobachtete er, wie sie ihm gegenüber Platz nahm, die Akten vor sich bereitlegte und das Aufzeichnungsgerät startete. Er wich ihrem forschenden Blick nicht aus. Im Gegenteil: Er schien sich in ihrer Aufmerksamkeit zu sonnen, dass sie fürchtete, er würde jeden Augenblick wieder die, zugegeben schönen, Zähne fletschen. Sie stellte sich vor, worauf er die Hand ausstreckte und mit freundlichem Lächeln sagte:

      »Leonard Nuuyoma, nennen Sie mich Leon. Es tut mir leid wegen Ihrer Schulter. Ich wünschte, wir hätten uns unter andern Umständen kennengelernt.«

      Sie ignorierte die Hand. »Setzen Sie sich, Mr. Nuuyoma.«

      Er gehorchte zögernd, wobei ihm die Enttäuschung so deutlich vom Gesicht abzulesen war wie Jamies Betroffenheit, wenn er ihrem Humor nicht folgen konnte.

      »Steht Ihnen ausgezeichnet, der V-Ausschnitt«, murmelte er laut genug, dass sie jedes Wort verstand.

      Er sprach ein überraschend sauber artikuliertes Englisch, als gäbe er sich besondere Mühe, gepflegt und gebildet zu wirken. Offensichtlich litt er an narzisstischer Selbstüberschätzung – und er redete Müll.

      »Wenn das eine Art Entschuldigung sein soll, dann sagen sie es«, wies sie ihn unwirsch zurecht, »aber lassen Sie meine Brüste in Ruhe.«

      Kaum war es ausgesprochen, fühlte sie, wie sie errötete. Was war in sie gefahren? Seine elegante Erscheinung und das selbstbewusste Auftreten verwirrten sie komplett. Sie hatte einen ungehobelten Rüpel erwartet, nun saß sie einem schwarzen Dandy gegenüber, der versuchte, sie sanft um den Finger zu wickeln. Manchmal wünschte sie sich, etwas hässlicher auszusehen. Es würde diese Arbeit um einiges erleichtern. Er zeigte so viel Anstand, nicht auf ihren Ausrutscher zu reagieren, was den Ärger über sich selbst noch verstärkte. Ihre erste Frage klang daher wie eine Anklage:

      »Was hatten Sie auf dem Schlossberg zu suchen?«

      »Darf ich erfahren, weshalb Sie mich festhalten? Was werfen Sie mir vor?«

      »Die Fragen stelle ich, Mister. Aber was halten Sie fürs Erste von Widerstand gegen die Polizei, Diebstahl und Tragen einer Pistole ohne Waffenschein, mal abgesehen von der wilden Flucht durch Tübingen mit geladener Schusswaffe? Wir hätten Sie erschießen können, verstehen Sie?«

      Er lächelte verbindlich. »Danke, dass Sie es nicht getan haben.«

      »Also?«

      »Ich wollte Professor Lorenz sprechen.«

      »Nachts um zehn?«

      »Ich bin aufgehalten worden, und ich weiß, dass der Professor abends am besten zu Hause zu erreichen ist.«

      »Klingt ganz nach Ausrede. Was wollten Sie von Professor Lorenz?«

      »Fragen stellen. Ich bin Journalist, wie Sie wissen.«

      »Sie leben und arbeiten in Namibia, und da reisen Sie nach Deutschland, um dem Professor ein paar Fragen zu stellen? Gibt es keine Telefone in Ihren Büros?«

      »Ich erfuhr erst auf dem Weg nach Deutschland von ihm, hatte aber nicht vor, ihn zu besuchen bis ….«

      »Bis was?«

      »Bis ich feststellte, dass mein Kontakt wie vom Erdboden verschwunden ist.«

      »Klingt nicht sehr überzeugend«, spottete sie.

      »Es ist mein voller Ernst. Ich mache mir große Sorgen. Er schickte mir eine Mail, dass er Professor Lorenz treffen wolle. Das war sein letztes Lebenszeichen.«

      »Von wem sprechen Sie?«

      »Von einem Kollegen aus der Redaktion. Er recherchiert für eine heiße Story in Deutschland, wie er sagte.«

      Die Nebel begannen sich zu lichten. Sie glaubte, die Antwort auf die nächste Frage zu kennen.

      »Wie heißt der Kollege?«

      »Ist es verboten, als Journalist in Ihrem Land Nachforschungen anzustellen? Ich möchte ihn da heraushalten, das verstehen Sie doch.«

      »Heraushalten?«

      Er zuckte nur mit den Schultern und deutete mit einer ausladenden Handbewegung an, dass er die ungemütliche Umgebung damit meinte.

      »Es ist besser, Sie arbeiten mit uns zusammen, glauben Sie mir. Wenn Ihr Kollege nichts verbrochen hat, hat er auch nichts zu befürchten.«

      Da er weiter schwieg, beschloss sie, es mit der Schocktherapie zu versuchen. Sie zog eine der Porträtaufnahmen der Leiche aus dem Ammerkanal aus der Akte und schob sie ihm hin.

      »Kennen