Hansjörg Anderegg

Das letzte Steak


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geforscht hatte. Es gab keine weißen Flecke und keine dunklen Kapitel in seiner Biografie, soweit Chris in der kurzen Zeit herausfinden konnte. Worüber mochte er mit dem Reporter aus Namibia gesprochen haben? Bald würden Sie es wissen. Sven fuhr langsam die ruhige Quartierstraße entlang. Die schwarze Silhouette des Schlosses zeichnete sich wie ein drohender Schatten vor dem Nachthimmel ab. Einzig im Haus der Studentenverbindung, das selbst wie ein Schloss aussah, brannte Licht.

      »Der wird doch nicht schon pennen«, spottete Sven.

      »Er ist ein alter Mann, so wie du in einigen Jahren.«

      Es tat ihr leid, den Mann wecken zu müssen, aber bei ihrer Arbeit war Rücksicht die falsche Strategie. Sie drückte lange auf die Klingel an der Tür, zweimal, dreimal. Im Haus blieb es dunkel und ruhig.

      »Ausgeflogen«, vermutete Sven. »Wir sollten die Eierköpfe nebenan befragen.«

      Sie drückte vorsichtig auf die Klinke. Die Tür war verschlossen.

      »Ich sehe mal hinten nach«, sagte sie und ging ums Haus.

      Licht schimmerte auf die Terrasse und in den Garten. Die Terrassentür stand offen. Im nächsten Augenblick sprang sie aus dem Licht in Deckung, zog die Waffe und entsicherte sie. Das Haus des Professors war ein Tatort. Der alte Mann lag reglos auf dem Rücken in der Türöffnung. Eine Blutlache hatte sich um seinen Oberkörper gebildet. Das Blut schien weitgehend eingetrocknet zu sein. Vorsichtig, nach allen Seiten sichernd, näherte sie sich dem Körper. Professor Lorenz starrte sie aus toten Augen an. Sie fühlte den Puls, obwohl sie wusste, dass jede Hilfe zu spät kam. Im Haus blieb es totenstill. Dennoch sprach sie leise ins Telefon, als sie ihren Partner alarmierte.

      »Ein Stich ins Herz, kommt mir irgendwie bekannt vor«, murmelte er betroffen, als er den Leichnam sah.

      »Dieselbe Vorgehensweise«, stimmte sie zu. »Der Täter hat ein einziges Mal zugestochen und eine breite, tiefe Wunde hinterlassen. Ich schätze, der Mann ist seit etwa vierundzwanzig Stunden tot.«

      Sven alarmierte die Stadtpolizei, dann begannen sie, das Haus systematisch zu durchkämmen. Soweit sie durch bloße Beobachtung feststellen konnte, gab es keine Einbruchspuren. Entweder war die Terrassentür offen gewesen, oder er hatte den Täter selbst hereingelassen. Nichts deutete auf die Anwesenheit einer dritten Person hin.

      »Sieht aus, als hätten sie sich gekannt«, sagte Sven.

      »Oder er hat den Täter mit einem Bekannten verwechselt«, entgegnete sie nachdenklich.

      Sie deutete auf die Brille, die dem Professor beim Sturz vom Kopf gerutscht war.

      »Ziemlich dicke Gläser.«

      Sie suchten weiter nach Spuren im Haus, ohne die spätere Arbeit der KT allzu sehr zu beeinträchtigen. Der Professor führte einen gepflegten Single-Haushalt. Alles hatte seine Ordnung, ohne pedantisch zu wirken. Nichts im Haus deutete auf Gewaltanwendung oder auch nur auf eine Durchsuchung hin. Sein Handy lag offen neben einer antiken chinesischen Vase auf dem Bücherregal. Vielleicht war es nur eine billige Nachahmung. Sie kannte sich nicht aus, aber die mindestens fünfhundert Euro in der Geldbörse auf dem Lesetisch waren bestimmt echt. Raubmord konnten sie ausschließen. Wie der Mord am Journalisten war auch dies keine Tat im Affekt. Es war kaltblütig geplanter Mord.

      »Der Täter kam hierher, um den Professor zum Schweigen zu bringen«, folgerte sie.

      Sven nickte. »Er wusste zu viel. Sieht so aus, als gäbe es einen Zusammenhang mit dem Gespräch im ›Hades‹. Zwei fast identische Morde in dieser Stadt und so kurz hintereinander. Das ist sicher kein Zufall. Vielleicht sind die Recherchen des Journalisten der Schlüssel.«

      Unvermittelt legte sie den Finger auf die Lippen und deutete zum Flur. An der Haustür kratzte etwas. Das Schloss knackte. Chris wartete hinter der Tür. Sven sicherte aus einer dunklen Ecke im Flur. Die Tür ging auf.

      »Herr Professor, sind Sie da?«, rief eine hohe Stimme.

      Sie gehörte einer älteren Frau. Ihre Hand tastete nach dem Lichtschalter. Sie drückte ihn und zuckte erschrocken zusammen.

      »Keine Angst«, beruhigte Chris, während sie ihren Ausweis zeigte. »Wir sind von der Polizei. Kriminaloberkommissarin Hegel, mein Kollege Hoffmann. Wer sind Sie und was tun Sie hier?«

      Es dauerte eine Weile, bis sich die Frau vom Schock erholte.

      »Kriminalpolizei, um Himmels willen, was ist geschehen?«, flüsterte sie schließlich ängstlich.

      Sie war eine Nachbarin und alte Bekannte des Professors, die sich gelegentlich ums Haus kümmerte. Sie machte sich Sorgen, weil sie ihn den ganzen Tag nicht gesehen hatte.

      »Das ist nicht normal, müssen Sie wissen«, betonte sie. »Wir sprechen jeden Tag miteinander, außer wenn er auf Reise ist, und das hätte er mir gesagt.«

      «Wann hatten Sie zuletzt Kontakt mit ihm?«

      »Das muss gestern so um halb vier gewesen sein. Er war auf dem Weg zur Uni. Dort hatte er einen Termin um vier. Was ist mit ihm?«

      Chris brachte ihr die Nachricht vom Tod ihres Nachbarn schonend bei. Die Erschütterung der Frau war nicht gespielt. Man würde ihr Alibi überprüfen, doch Chris war überzeugt, dass sie nichts mit dem Verbrechen zu tun hatte.

      »Haben Sie seither jemanden am Haus gesehen, einen Fremden vielleicht, ein Auto, das Ihnen aufgefallen ist?«

      Die Frau schüttelte den Kopf. »Darf ich ihn sehen?«, fragte sie mit zitternder Stimme.

      »Tut mir leid, das geht leider nicht. Das Haus ist ein Tatort. Es wird versiegelt. Ich muss Sie bitten, nach Hause zu gehen. Wir werden uns bei Ihnen melden, wenn wir weitere Fragen haben.«

      Die Frau zog sich mit Tränen in den Augen zurück. Chris begleitete sie bis zur Straße. Sie wollte sie nicht allein lassen, doch die sich nähernden Blaulichter drängten sie ins Haus zurück. Ihr Handy klingelte, da überließ sie es ihrem Partner, den Arzt und die Kriminaltechniker einzuweisen. Sie drückte auf Empfang. Caro war am Apparat.

      »Immer noch im Büro?«, fragte Chris müde.

      »Bin schon unter der Tür. Habt ihr den Professor gefunden?«

      »Allerdings. Er ist tot, erstochen, genau wie der Reporter.«

      »Mein Gott – derselbe Täter?«

      »Einiges deutet darauf hin.«

      »Hatte der Professor Verbindungen nach Namibia?«

      »Wir wissen es noch nicht. Das wird jetzt untersucht. Warum fragst du?«

      »Mir ist da etwas aufgefallen, was vielleicht wichtig sein könnte.«

      »Im Zusammenhang mit dem Professor?«

      »Vielleicht auch. Es geht um den Mord an Mwilima. Wir haben jetzt endlich den Obduktionsbericht. Da werden Eintrittswunde und Stichkanal genau beschrieben. Wie wir von Anfang an vermuteten, handelt es sich bei der Tatwaffe um eine Art Dolch: zweischneidig mit breiter, dicker und langer, gerader Klinge.«

      »Ist nicht überraschend.«

      »Nein, aber jetzt kommt’s: Solche Dolche, die genau zur beschriebenen Wunde passen, wurden früher von afrikanischen Stämmen für die Jagd und bei Stammeskriegen benutzt. Bekannt und berüchtigt sind die Dolche der Owambo. Das ist der größte Volksstamm in Namibia.«

      Chris brauchte einige Sekunden, um diese Nachricht zu verarbeiten, dann fragte sie:

      »Wie verbreitet sind diese Dolche?«

      Caro lachte. »Ich dachte, du würdest das fragen. Soweit ich bis jetzt herausgefunden habe, werden die Owambo-Dolche von Sammlern als Antiquitäten gekauft. Der Handel ist allerdings eher bescheiden. Es dürften nicht allzu viele Exemplare im Umlauf sein. Sonst ist die Waffe traditioneller Familienbesitz der Owambo.«

      »Du meinst, der Täter stamme aus diesem Umfeld?«

      »Spekulieren ist nicht meine Aufgabe.«

      »Ich