Hansjörg Anderegg

Das letzte Steak


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seine geringste Sorge. Er ließ die Psychologin im Glauben, geholfen zu haben, nickte ihr zu und bedankte sich. Sie überreichte ihm die Visitenkarte mit der üblichen Floskel, die er oft im Fernsehen gehört hatte, dann verabschiedete sie sich.

      »Ich sehe mal nach Scotty«, murmelte er und stieg schweren Herzens die Treppe hoch.

      Kaum oben angekommen, hörte er unten Josh Sorins dröhnenden Bass:

      »Wo ist er?«

      Josh gehörte die Konservenfabrik, deren Vorarbeiterin Felicity gewesen war. Ein Patron alter Schule, kümmerte er sich um seine Schäfchen wie um eine große Familie. Seit Scottys Geburt ging er regelmäßig ein und aus in ihrem Haus, denn er war auch Scottys großzügiger Pate. Thomas stieg wieder hinunter.

      »Wen meinst du?«, fragte er mit gequältem Lächeln.

      Josh drückte ihn an seine breite Brust. »Verdammt, Thomas, es tut mir so leid. Ich kann es immer noch nicht glauben.«

      »Da bist du nicht allein.«

      Hinter Josh trat Aaron Poynter ein, Joshs zweiter Vorarbeiter, Felicitys Kollege und jetzt wohl Nachfolger. Er streckte die Pranke aus, die kaum in einen Boxhandschuh passte, und murmelte verlegen:

      »Mein Beileid. Ich – weiß nicht, was ich sagen soll.«

      »Was ist genau geschehen?«, fragte Josh.

      Thomas zuckte die Achseln. »Sie sagen, es war ein einziger Stich ins Herz. Mehr weiß ich nicht.«

      Josh starrte ihn mit großen Augen an. »Wie ist es passiert? Wann, wo?«

      Wieder konnte er nur mit den Schultern zucken, worauf Josh rot anlief.

      »Was sagen die Bullen?«

      »Gar nichts oder sie wissen nichts.«

      Josh warf seinem Vorarbeiter einen Blick zu, als wollte er ihm dafür die gebrochene Nase noch einmal polieren.

      »Bullen«, knurrte der verächtlich. »Auf die kannst du dich nicht verlassen, aber wir werden die Bestie finden, die deine Felicity auf dem Gewissen hat. Das verspreche ich dir.«

      Seine Hand verkrampfte sich zur Faust, als hätte er den Hals des Täters schon gepackt.

      »Wie kommt Scotty klar?«, fragte Josh.

      »Gar nicht, fürchte ich. Er mauert sich ein in seinem Zimmer und heult.«

      »Ich sehe mal nach ihm.«

      Er stieg hinauf. Thomas setzte sich mit Aaron an den Küchentisch.

      »Bier?«, fragte er, obwohl es seit Tagen nur noch leere Flaschen im Haus gab.

      Aaron schüttelte den Kopf. »Danke, nur keine Umstände. Was für ein elender Scheißtag!«

      »Das kannst du laut sagen. Passt alles wunderbar zusammen: das Verbrechen, das Wetter und jetzt bin ich auch noch den Job los.«

      »Das ist nicht wahr!«, rief Aaron aus.

      »Leider schon. Die Firma ist pleite.«

      Aaron schüttelte ungläubig den Kopf. »Pleite«, wiederholte er dumpf. »Und das an diesem Tag.«

      Aaron war kein Meister der Rhetorik, doch Thomas verstand, was er damit sagen wollte.

      »Eine Riesenschweinerei ist das«, rief Aaron aus, um seinen Standpunkt zu verdeutlichen.

      Sie saßen sich eine Weile schweigend gegenüber, bis Josh sich wieder zu ihnen gesellte, da klagte Aaron:

      »Alles geht den Bach runter.«

      »Scotty spielt auf seinem Computer«, sagte Josh mit einem Lächeln, das ihn aufmuntern sollte.

      Tatsächlich war es das erste Mal, dass er den Computerspielen seines Sohnes etwas Positives abgewinnen konnte.

      Josh wandte sich an seinen Vorarbeiter: »Was geht den Bach runter?«

      »Thomas steht auf der Straße. Seine Bude ist pleite.«

      Josh sah Thomas vorwurfsvoll an. »Warum sagst du denn nichts?«

      »Was soll ich dazu sagen? Mir gehen jetzt andere Dinge durch den Kopf, wie du dir vorstellen kannst.«

      Josh überlegte nicht lange. »Mach dir mal keine Sorgen um den Job«, beruhigte er. »Aaron kann einen guten Magaziner brauchen, nicht wahr?«

      Die Frage war an den Vorarbeiter gerichtet. Der grinste erfreut und antwortete:

      »Jederzeit. Du kannst morgen anfangen.«

      Flüchtig streifte Thomas der Gedanke an einen üblen Scherz, doch Josh streckte ihm die Hand entgegen und fragte:

      »Deal?«

      Er schlug zögernd ein. »Ich weiß nicht, ob ich morgen schon …«

      »Ach, war nicht so gemeint«, stellte Aaron klar. »Lass dir ruhig Zeit, aber ich rechne mit dir.«

      »Ein Problem weniger«, lächelte Josh. »Siehst du, schon geht es wieder aufwärts.«

      Er stand auf und zog das Telefon aus der Tasche, während er murmelte: »Jetzt wollen wir mal der Polizei Beine machen.«

      Während des Gesprächs tigerte der Patron erregt durch die Wohnung, sodass nur Wortfetzen an den Küchentisch drangen.

      »Sie wird nach London überführt«, erklärte er, als er sich wieder setzte. »Scotland Yard übernimmt den Fall. Wurde auch Zeit, dass die Profis übernehmen.«

      Die Nachricht überraschte und verwirrte Thomas. »London?«, fragte er unsicher. »Was heißt das? Wann kann ich zu ihr?«

      Josh klopfte ihm auf die Schulter. »Bald. Lass das nur meine Sorge sein. Ich mache ihnen Feuer unterm Hintern, dass ihnen Hören und Sehen vergehen, wenn sie schlampen.«

      Er brauchte gern große Worte, doch der forsche Ton wirkte unter diesen Umständen beruhigend. Thomas traute ihm durchaus zu, selbst bei Scotland Yard etwas zu bewegen. Josh war nicht irgendwer. Er gehörte zum Jetset Norwichs, wo er seinen Landsitz hatte, und zu den besten Steuerzahlern Suffolks, wo seine Fabrik stand. Sein Einfluss auf Politik und Behörden war nicht zu unterschätzen.

      Thomas fühlte sich jedenfalls wesentlich besser, nachdem er mit den beiden gesprochen hatte.

      »Meinst du, er packt es?«, fragte Aaron, als Josh zu ihm ins Auto stieg.

      Josh nickte schweigend.

      »Schlimm für deinen Jungen«, murmelte Aaron.

      Josh warf ihm einen warnenden Blick zu und sagte nur: »Du solltest dich in der Fabrik umhören – und am Hafen.«

      »Darauf kannst du einen lassen. Wir kriegen das Schwein.«

      Scotland Yard, London

      Detective Chief Inspector Adam Rutherford eilte mit stummem Gruß an der Vorzimmerdame vorbei zur Tür von Chief Superintendent Whitney. Die Dame, die schon zwei Chiefs überlebt hatte, sprang entsetzt auf und rief:

      »Halt Sir! Der Superintendent darf nicht gestört …«

      Den Rest verschluckte sie, denn Adam betrat nach energischem Klopfen kurzerhand das Allerheiligste seines Vorgesetzten und Freundes.

      »Eines Tages wirst du sie umbringen«, warf der ihm vor, nachdem die Tür ins Schloss gefallen war. »Kannst du dich nicht anständig anmelden wie alle andern?«

      »Ich bin nicht alle andern«, brummte Adam. »Hast du zwei Minuten?«

      »Die sind schon fast vorbei.«

      Er staunte über die ausnehmend gute Laune seines Chefs. Ironie war sonst nicht seine Stärke, wie auch alle andern Formen von Humor. Er nutzte die Gelegenheit, um gleich den heiklen Punkt anzusprechen.

      »Ich brauche zehn Leute.«

      Ein Wolkenbruch braute sich auf Whitneys Gesicht zusammen, doch