Hansjörg Anderegg

Das letzte Steak


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brauchen mir nicht zu helfen. Ich bin lediglich an den Akten im Mordfall am Ammerkanal interessiert.«

      »Die hätten wir Ihnen schicken können.«

      »Sicher, doch ich muss auch wissen, was zwischen den Zeilen steht, und ich möchte den Tatort sehen.«

      »Da werden Sie nicht mehr viel sehen. Die Gegend beim Nonnenhaus ist sehr beliebt bei Einheimischen und Touristen.«

      »Umso erstaunlicher, dass niemand etwas vom Mord am Schwarzen bemerkt haben soll.«

      Schröder errötete und setzte zu einer Bemerkung an, doch dann stand er auf, ging zum Aktenschrank und zog ein dünnes Dossier heraus. Er legte es wortlos auf den Tisch und schaute Sven beim Lesen zu, bis er die Geduld verlor.

      »Brauchen Sie mich noch?«

      Sven nickte. »Ich habe sicher noch Fragen dazu.«

      Ungerührt las er weiter.

      »Schießen Sie los, fragen Sie«, drängte Schröder, den es kaum mehr auf dem Sessel hielt.

      Wie befürchtet, erwies sich die Aktenlage als dürftig und lückenhaft. Er ließ den Polizeihauptmeister noch eine Weile zappeln, bevor er sich äußerte:

      »Ich finde hier nur die Aussage des Notarztes aber keinen Obduktionsbericht.«

      Schröder nippte angewidert an seinem Kaffee, bevor er kurz angebunden antwortete:

      »Die Obduktion ist noch nicht abgeschlossen.«

      »Wie bitte? Nach zwei Tagen?«

      Schröder schien seine Empörung zu freuen.

      »Die haben viel zu tun in Stuttgart«, erklärte er, als wäre er stolz darauf.

      »Na klar, war ja auch der einzige Mordfall im letzten Monat im Ländle. Da braucht man sich nicht zu beeilen.«

      Allmählich verlor er die Geduld mit diesem Schwaben. Er breitete die Tatortfotos aus. Das Bild des Opfers im Kanal fehlte. Darauf angesprochen, deutete Schröder ärgerlich auf ein Foto, das zwei weiße Markierungen auf dem Pflaster am Kanal zeigte.

      »Dort unten hat er gelegen.«

      Sven sah sein Gegenüber mit großen Augen an. Wollte Schröder ihn für dumm verkaufen, oder war dies der unergründliche schwäbische Humor? Er zwang sich, den Spaßvogel ruhig zu fragen:

      »Wie hat das Opfer im Kanal gelegen? Gesicht nach unten, oben, Kopf zum Steg oder umgekehrt, Gelenke verrenkt, gerade, krumm, was lag unter Wasser, was darüber? Ich finde nichts dazu in den Protokollen.«

      Schröder senkte verlegen den Blick. Innerlich kochend, zog er die Akten zu sich und begann, darin zu blättern, als sähe er sie zum ersten Mal.

      »Tatsächlich«, murmelte er nach kurzer Zeit. »Muss ein Versehen sein. Ich kümmere mich gleich darum.«

      Er stand auf und ging zur Tür.

      »Warten Sie, das hat Zeit. Sagen Sie mir einfach, wie genau Sie das Opfer vorgefunden haben.«

      Schröder blieb stehen, schielte unschlüssig zum Ausgang, bis ihm offenbar einfiel, wie er den Kopf aus der Schlinge ziehen konnte.

      »Kalle kann Ihnen das erklären. Er war als Erster am Tatort.«

      Damit schlüpfte er hinaus. Sven hörte einen lauten Wortwechsel. Kurz danach trat ein Uniformierter, etwa in seinem Alter, kreidebleich ins Zimmer. Die mitleiderregende Gestalt erleichterte es ihm, den Ärger über Schröder zu verdrängen und seine Sonnenseite hervorzukehren. Er erhob sich, ging auf den Mann zu und schüttelte ihm freundlich die Hand.

      »Sven Hoffmann«, stellte er sich vor.

      Der junge Polizeimeister hieß Kalle Klein. Er war sichtlich erleichtert, vom Kriminalkommissar aus Wiesbaden nicht auch als Fußabtreter behandelt zu werden.

      »Als Erstes möchte ich bitte eine Kopie dieser Akten, geht das?«, fragte Sven höflich.

      »Selbstverständlich, sofort.«

      Sein neuer Freund raffte die Papiere und Fotos zusammen, sauste damit hinaus und saß ihm Sekunden später wieder gegenüber. Er schilderte in allen Einzelheiten, was er in jener Nacht beobachtet hatte. Hin und wieder ließ Sven die Bemerkung fallen, dieses oder jenes doch in den Akten festzuhalten, was Klein pflichtbewusst auf seinen Block notierte. Noch eine, zwei Stunden, dachte Sven, und die Akte Ammerkanal würde zum Vorbild für alle künftigen Ermittlungen in Tübingen.

      »Das Opfer konnte also noch nicht identifiziert werden«, sagte er, nachdem er sich ein einigermaßen vollständiges Bild gemacht hatte. »Keine Brieftasche, kein Handy – Raubmord?«

      Klein nickte eifrig. »Davon müssen wir ausgehen.«

      »Nichts in den Taschen, kein Autoschlüssel, Hotelschlüssel. Besteht kein Zweifel, dass das Opfer nicht aus der Gegend stammt?«

      »Kein Zweifel«, bestätigte Klein bestimmt. »Wir haben alle gemeldeten Schwarzen überprüft, ebenso die bekannten Unterkünfte der Illegalen. Da waren ein paar Somalier dabei, sonst viele aus Nordafrika, aber kein Schwarzafrikaner.«

      Die Sekretärin brachte die Akten mit den Kopien. Er zog die Fotos des Toten hervor und betrachtete sie nachdenklich.

      »Das Opfer sieht gepflegt aus, gut situiert, vielleicht ein Geschäftsmann, würde ich sagen.«

      Klein nickte zustimmend und machte eine Notiz.

      »Möglich, dass er nur zu einer Sitzung hergekommen ist.«

      »Das ist sogar sehr wahrscheinlich, pflichtete Klein ihm bei. »Wir haben alle Hotels und Geschäfte abgeklappert. Niemand hat den Mann gesehen.«

      Was hatte ein offensichtlich fremder Geschäftsmann, oder was immer er war, nachts um halb zwei in jener Gegend zu suchen?

      »Gibt es Kneipen, Nachtklubs, die zur Tatzeit noch nicht geschlossen waren?«

      Klein schüttelte den Kopf. »Nicht in diesem Viertel. Wir haben alle Nachtklubs überprüft: negativ.«

      »Und andere Kneipen?«

      »Waren alle geschlossen.«

      »Habt ihr sie überprüft?«

      Klein lief rot an. »Noch nicht«, gab er kleinlaut zu und kritzelte eilig eine Notiz auf den Block.

      »Hier steht, ein Alois Schmitz hätte die Leiche entdeckt. Ich finde aber seine Aussage nirgends.«

      Klein seufzte. »Das ist eine Geschichte für sich, Herr Kommissar. Schmitz gehört zu den Obdachlosen, den Stadtstreichern, die bei warmem Wetter am Kanal nächtigen. Sein Kollege, der Lange, behauptet, Schmitz habe das Opfer entdeckt. Ein weiterer Sandler bestätigt dies. Leider konnte Schmitz sich unbemerkt aus dem Staub machen in der ersten Aufregung. Wir haben ihn am nächsten Tag aufgegriffen und befragt. Der sture Bock hat keinen Ton gesagt. Wir mussten ihn wieder laufen lassen. Es lag nichts weiter gegen ihn vor.«

      »Ich möchte mit ihm sprechen – und mit den andern Zeugen, diesem Langen und dem Wirt.«

      Klein nickte. »Am besten führe ich Sie zum Tatort. Dort finden Sie alle.«

      Draußen prüfte Sven seinen Wagen von allen Seiten. Kratzer im Lack fand er keine, nur einen Bußenzettel an der Scheibe.

      »Halteverbot«, grinste Klein.

      Dieses Geschäft beherrschten die Kollegen einwandfrei. Er grinste zurück, wobei er ihm den Zettel in die Hand drückte.

      »Das ist ein Dienstwagen. Sie werden es Ihren Freunden sicher erklären.

      Er öffnete den Wagen und stieg ein. »Na los, ich folge Ihnen.«

      »Wir brauchen kein Fahrzeug. Zum Kanal hinunter sind es nur ein paar Schritte.«

      »Zu Fuß? Das ist nicht Ihr Ernst!«

      Er mochte sich nicht ausmalen, was die Leute auf dem Land unter ein paar Schritten verstanden.