Hansjörg Anderegg

Das letzte Steak


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Chef war heute wirklich nicht zu bremsen.

      »Ich mache keine Witze«, sagte er bestimmt.

      Whitney beugte sich vor und blickte ihn an wie sein Mathematiklehrer vor hundert Jahren nach einer verpatzten Arbeit. Ungeduldig fragte er:

      »Erinnerst du dich an die Kürzung unseres Etats im Januar? Du musstest selbst zwei Leute entlassen.«

      »Habe ich vergessen, mich dafür zu bedanken? Hör mal, ich weiß nicht, wie du dir das vorstellst. Beim Chapham Killer hat sich gerade eine heiße Spur ergeben, in Felixstowe muss die ganze verdammte Fabrik vernommen werden, Hafenarbeiter, Anwohner, Autovermietungen, Taxifahrer und Wirte nicht zu vergessen. Das sind über fünfhundert Leute. Jetzt sollen noch vier meiner Männer die Drugs unterstützen. All das mit elf überarbeiteten Detectives, mich eingeschlossen. Es wird lange dauern.«

      Whitney versuchte eine Weile, in seinen Gedanken zu lesen.

      »Fünfhundert?«, fragte er schließlich verwundert. »Gibt es denn so viele Menschen in diesem gottverlassenen Felixstowe?«

      Er wollte dem Superintendent die gute Laune wirklich nicht verderben, aber sein Problem musste jetzt gelöst werden. Ungeduldig wartete er auf Whitneys konstruktiven Beitrag.

      »Ich kann keine zehn Detectives aus dem Hut zaubern, nicht einmal einen«, erklärte der schließlich zögernd, während er sein Gekritzel auf dem Notizblock eingehend betrachtete.

      Was schließen wir daraus?, hätte Adam beinahe gefragt, doch er ließ Whitney weiter zappeln. Endlich legte sein Chef den Stift weg.

      »Wie weit seid ihr mit den Dealern?«

      Die Unterhaltung schwenkte in die richtige Richtung, dachte Adam erfreut.

      »Meine Leute sind eben erst daran, sich einzuarbeiten.«

      »Die sollen die Akten wieder zurückschicken. Ich sorge dafür, dass die Drogenfahndung allein klarkommt. Konzentriert euch auf die Tötungsdelikte.«

      Adam erwiderte den vernichtenden Blick der Vorzimmerdame mit einem zufriedenen Lächeln. Sein Plan war aufgegangen. Whitney würde nach einer oder zwei Stunden auch begreifen, dass er keineswegs seinen Laden aufblähen, sondern sich nur auf den eigentlichen Job der Mordkommission konzentrieren und den lästigen Exkurs in die Drogenfahndung vermeiden wollte. Womöglich würde ihn die Geschichte eine gute Flasche Wein kosten. Ein angemessener Preis, fand er.

      Ein Funke von Whitneys guter Laune war auf ihn übergesprungen, doch der erlosch sogleich wieder, als er sein Glashaus neben dem Büro der Detectives betrat. Draußen schien die Sonne, eine gelungene Überraschung in diesem Sommer, deshalb hatten sich die Jalousien automatisch geschlossen. Im kalten Kunstlicht machten seine Sukkulenten traurige Gesichter. Er ging ans Fenster, um seinen stacheligen Freunden etwas Trost zu spenden, doch sie mochten nicht zuhören. Die Lobivia weigerte sich weiterhin, ihre Blüte auszutreiben, als wäre ihr jede Freude am Leben vergangen.

      »Irgendwie kann ich dich verstehen«, murmelte er.

      Es musste sich etwas ändern, bloß wusste er nicht was. Er und sein düsteres Treibhaus am Rand des eisigen Großraumbüros lebten schon ewig in einer Symbiose, deren labiles Gleichgewicht niemand zu stören wagte, nicht einmal er selbst.

      Nach und nach verließen seine Leute die Schreibtische. Es wurde Zeit für die Lagebesprechung im großen Sitzungszimmer. Unterwegs sammelte er die vier zur Drogenfahndung Verdammten ein. Sie nahmen die Nachricht mit freudestrahlenden Gesichtern auf. Vier glückliche Detectives an einem Tag – ungefähr vier mehr als im Durchschnitt.

      »Wer zum Teufel isst Ölsardinen aus Blechbüchsen?«, fragte Pete, als er sich neben ihn setzte.

      Pete Townsend gehörte zum Inventar seiner Abteilung. Als einfacher Sergeant besaß er mehr Autorität als die meisten Inspectors, dennoch wehrte er sich seit Jahren erfolgreich gegen eine Beförderung. Adam hatte nie wirklich verstanden, was ihn dazu bewog, auf höheres Gehalt und bessere Pension zu verzichten. Möglicherweise bildete er sich ein, als Inspector nicht mehr frisch von der Leber weg reden und fluchen zu dürfen.

      Adam brauchte nicht zu antworten. Mad Barclay meinte giftig:

      »Man sollte diesen Josh Sorin selbst zu Büchsenfutter verarbeiten.«

      Adam pflegte eine ambivalente Beziehung zu seiner Pathologin. Sie hieß eigentlich Dr. Madison Barclay. Er kannte keinen besseren Gerichtsmediziner, doch ihr Spitzname war Programm. Hatte man das Pech, einen ihrer unkontrollierten Wutausbrüche zu erleben, konnte man sie durchaus für verrückt halten.

      »Der Fabrikant aus Felixstowe?«, fragte er, um sie zu beruhigen.

      »Arroganter Macho. Glaubt, mich mit seinen Beziehungen unter Druck setzen zu müssen. Ich kann’s nicht erwarten, diesen Idioten auf meinem Tisch zu haben.«

      Machos zersägen und ausnehmen gehörte zu ihren Lieblingsbeschäftigungen, denn sie war selbst das weibliche Äquivalent dazu und eine akute Gefahr für den weiblichen Nachwuchs beim Yard, wie jeder wusste.

      Die Uhr an der Wand zeigte auf zehn. Zeit, anzufangen. Er blickte in die Runde und legte sogleich die Stirn in Falten. Mit hochgezogenen Brauen fragte er:

      »Wo steckt Cornwallis?«

      Erst nach kurzem Zögern meldete sich ein blasser junger Mann:

      »Sir, ich glaube, DS Cornwallis ist noch in Felixstowe.«

      Adams Blicke brachten das bleiche Gesicht zum Glühen.

      »So, glauben Sie?«, fragte er lauernd. »Und was wissen Sie?«

      Der junge Mann schluckte schwer, versuchte vergeblich, eine Antwort zu finden.

      »Richten Sie Ihrem Partner aus, er habe sich gefälligst zur Lagebesprechung einzufinden wie alle andern auch«, wies er ihn zurecht.

      »Verstanden, Sir, soll ich ihn …«

      Er war aufgesprungen, das Telefon in der Hand.

      »Setzen!«

      Er brauchte den jungen Computerexperten, um das elektronische Whiteboard zu bedienen, das die gute, alte, einfache Pinnwand ersetzte. Er wartete, bis der eingeschüchterte Detective Constable den Stuhl wieder an den Tisch gerückt hatte, bevor er Pete aufforderte, die Lage im Mordfall Stuart zusammenzufassen. An der Wand erschien das Porträt einer Frau neben dem Ausschnitt aus der Landkarte von Felixstowe.

      »Mrs. Felicity Stuart, einundvierzig, wurde am Freitag, 22. August, morgens um 11:20 Uhr in den Trimley Marshes bei Felixstowe, Suffolk, tot aufgefunden.«

      Während er sprach, fügten sich mehr und mehr Zeichen, Texte, Figuren und Fotos ins Bild, bis der aktuelle Stand der Ermittlungen als virtuelle Collage fast die ganze Wand bedeckte. Auf Petes Zeichen blendete der junge Mann die Zeitlinie mit allen bis jetzt rekonstruierten Ereignissen ein, von den letzten Stunden vor Felicitys Verschwinden bis zum Fund ihrer Leiche. Es waren nicht viele, genau drei. Pete las vor:

      »Dienstag, 19. August, 17:35 Uhr: Felicitys letztes Gespräch mit Aaron Poynter, ihrem Stellvertreter. Unmittelbar danach verlässt sie die Fabrik. Freitag, 22. August, 10:10 Uhr: Der Sohn Scotty Stuart entdeckt Felicitys Schal im Moor. Freitag, 22. August, 11:20 Uhr: Suchtrupp der Suffolk Constabulary findet Felicitys Leiche im Moor.«

      Die beinahe leere Zeitlinie ärgerte Adam, doch enthielt er sich eines Kommentars und wandte sich an die Pathologin:

      »Wissen wir inzwischen mehr über Todeszeitpunkt und Todesursache?«

      »Steht im vorläufigen Bericht für alle, die lesen können«, brummte sie.

      Und die Zeit dazu haben, hätte er am liebsten ergänzt. Stattdessen warf er ihr einen aufmunternden Blick zu und wartete.

      »Die Untersuchung ist noch nicht abgeschlossen«, fuhr sie widerwillig fort. »Mal abgesehen von den zahlreichen postmortalen Hämatomen, die durch unsachgemäße Behandlung des Leichnams zustande kamen, kann ich Folgendes festhalten: Das Opfer ist durch einen einzigen Messerstich ins Herz gestorben. Der Tod muss