Hansjörg Anderegg

Station 9


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herrschte ewiger Winter.

      Jamie wartete bereits am Eingang des Museums. Sie küssten und umarmten sich wie früher. Obwohl sie vor Neugier platzte, fragte sie nicht nach Neuigkeiten von Nick, mit dem er die letzten Stunden verbracht hatte. Sätze mit Nick blieben tabu.

      »Sie sind abgereist«, sagte er, während sie unschlüssig vor dem Haus standen. »Mona bittet um Entschuldigung, dass sie sich nicht persönlich von dir verabschieden konnte.« Schmunzelnd fügte er hinzu: »Ich glaube, sie hat ein Auge auf dich geworfen.«

      »Die schöne Mona … Eifersüchtig?«

      Die rhetorische Frage blieb unbeantwortet. Sein Blick wanderte langsam vom Mumok hinüber zum Beisl und wieder zurück.

      »Wollen wir uns das wirklich antun?«

      Sie lachte. »Ich hoffte, du würdest fragen.«

      Hand in Hand schlenderten sie weg von der abstrakten Kunst, hin zur konkreten Kunst in Küche und Keller. Kurz vor dem Beisl drohte ihr Klingelton die aufkeimende Eintracht gleich wieder zu ruinieren.

      »Es hat garantiert nichts mit ihm zu tun!«, entschuldigte sie sich hastig, bevor sie abhob.

      Haases Nachricht warf mehr Fragen auf, als sie beantwortete.

      »Direktor Schmitz ist offenbar völlig unerwartet eines natürlichen Todes gestorben, Ursache unbekannt«, sagte er. »Übrigens: Die verstorbene Schwägerin des Geiselnehmers Schröder arbeitete als leitende Beamtin im Hauptzollamt Bremen.«

      Berlin

      Sobald sie die sattsam bekannte Luft im BKA am Treptower Park einatmete, fragte sich Chris, ob sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Den Urlaub abzubrechen für den Job, und das in einer Beziehungskrise – nicht wirklich empfehlenswert. Sie und Jamie steckten in einer Krise, da half kein positives Denken. Es war erst der Anfang, vermutete sie nach der Unterhaltung mit dem Rechtsmediziner in Wien. Sie hatte keinerlei Befugnis, ihn über die näheren Umstände des Todes von Ministerin Strasser zu befragen, aber beider »lange Bekanntschaft« mit Nick verband sie zu einer Art Schicksalsgemeinschaft. Der Mediziner gab offen zu, keine Ursache für die plötzlichen Krämpfe, Atemnot und die Herzlähmung, die letztlich zum Tod von Doris Strasser führte, gefunden zu haben. Ihr Tod blieb ein Rätsel, aber die Symptome waren eindeutig: Beschleunigte ALS, wie sie die neue Krankheit nannte.

      Die Schwägerin des Geiselnehmers Schäfer war höchstwahrscheinlich derselben mysteriösen Krankheit erlegen. Machte Schäfer Nick dafür verantwortlich? War das sein Motiv? Litt sie selbst an Paranoia, was Nick betraf? Gab es eine Verbindung von Doris Strasser zu Nicks Klinik? All ihre Vermutungen kreisten um Jamies Freund Nick. Keine gute Voraussetzung für ein entspanntes Verhältnis. Dieser Nick war eine Gewitterwolke, die sich jederzeit heftig über ihnen entladen konnte. Wenigstens brauchte sie jetzt nicht mehr dauernd Versteck zu spielen und jedes Wort auf die Goldwaage zu legen, um Jamie nicht zu verletzen. Die restlichen Tage in Wien würde er hoffentlich unbeschwert allein genießen, und sie konnte ihren Frust an Staatsanwältin Winter abreagieren.

      »Gott sei Dank«, war das Erste, was sie von Kollege Haase hörte, als er sie sah.

      »Das tönt ziemlich verzweifelt.«

      »Sie haben keine Ahnung. Ristretto?«

      Sie nickte dankbar. Besseren Kaffee gab es nirgends, und sie brauchte jetzt jede Menge Koffein.

      »Feuer im Dach?«, fragte sie nach dem ersten Schluck.

      »Noch ein paar solche Tage, und ich müsste selbst Urlaub nehmen – unbefristet.«

      Niemand im BKA Berlin konnte sich erinnern, Haase je nicht im Büro gesehen zu haben. Haase im Urlaub, mindestens so unvorstellbar wie der Rücktritt des Papstes. Wobei – egal. Sie wischte den blöden Vergleich beiseite und konzentrierte sich auf das, was ihr Fallanalytiker zu sagen hatte. Weit kam er nicht, denn kaum war die Espressotasse leer, stand die Winter im Büro.

      »Gott sei Dank«, seufzte auch die Staatsanwältin zur Begrüßung. »Kommen Sie, Dr. Roberts.«

      Chris hasste Winters Büro wie den Winter.

      »Können wir das nicht hier besprechen?«

      »Leider nein.«

      Was immer das wieder bedeutete. Sie folgte Winter mit hängenden Schultern. Die Stimmung hellte sich auf, als sie sah, wer in Winters Büro auf sie wartete. Der sportlich wirkende, braun gebrannte Herr in den Fünfzigern sprang auf und schloss sie freudig in die Arme.

      »Chris, lange nicht gesehen. Wie geht es dir und deinem Mustergatten?«

      »Frag mich was Leichteres«, sagte sie mit bitterem Lächeln.

      Die Antwort beunruhigte Dr. Hendrik Richter, doch auf Winters drängenden Blick setzten sie sich. Private Angelegenheiten besprach man besser nicht in ihrem Iglu.

      »Hendrik war mein Trauzeuge«, erklärte sie Winter.

      »Ich weiß.«

      Hendrik Richter kam zur Sache: »Ich nehme an, du bist schon informiert über den ungeklärten Todesfall im ZKA.«

      »Der Tod von Direktor Schmitz im Zollkriminalamt. Ich habe davon gehört. Traurig, aber ich dachte, es handle sich um eine natürliche Todesursache.«

      Hendrik schüttelte langsam den Kopf. »Direktor Schmitz stirbt genau im kritischen Moment, bevor die Operation Spider richtig in Schwung kommt, völlig unvorhergesehen, ohne medizinischen Grund sozusagen. Ich glaube nicht an solche Zufälle.«

      »Gab es eine Obduktion?«

      »Ja.« Er zog eine dünne Akte aus der Tasche. »Das ist der Befund. Hat leider nichts ergeben.«

      »Dann frage ich mich, wieso Sie zweifeln, Herr Generalstaatsanwalt«, bemerkte Winter zögernd.

      Richtig, Hendrik war inzwischen zum Generalstaatsanwalt in Köln aufgestiegen und damit auch für das ZKA zuständig.

      »Ich fürchte, ich kann die Zweifel verstehen«, warf Chris ein, während sie den Befund überflog.

      Die Obduktion hatte keine organischen Ursachen für den Tod des Direktors zutage gefördert. Einzig die Symptome, die zum Tod führten, stimmten nachdenklich. Es gab keinen medizinischen Fachausdruck dafür.

      »Beschleunigte ALS«, sagte sie.

      »Wie bitte?«

      Beide blickten sie an, als spuckte sie Feuer. Sie erklärte ihre Wortschöpfung, ohne den schrecklichen Abend im Belvedere zu erwähnen.

      »Eine unbekannte Krankheit?«, murmelte Hendrik und nahm ihr den Obduktionsbefund aus der Hand, um selbst nachzusehen. »Das wäre ein Grund mehr, misstrauisch zu werden.«

      »Da drin wirst du nichts finden. Ich spreche nur von den auffälligen Symptomen, die mich eben an einen extrem beschleunigten Verlauf der Amyotrophen Lateralsklerose erinnert.« Winter öffnete den Mund. Sie schnitt ihr das Wort ab: »Es ist übrigens nicht der einzige derartige Todesfall im Einzugsgebiet der Generalzolldirektion.«

      Der Pfeil traf ins Schwarze. Beide starrten sie mit offenem Mund an.

      »Vor Kurzem verstarb eine gewisse Anna Schäfer, leitende Angestellte im Hauptzollamt Bremen, an exakt denselben Symptomen.« Sie wandte sich an Winter: »Bevor Sie fragen: Ich weiß das, weil ihr Tod möglicherweise das Motiv für die Geiselnahme in Wien gewesen ist, die ich live miterlebt habe. Der Geiselnehmer Oskar Schäfer war ihr Schwager.«

      Nach einer Schrecksekunde murmelte Hendrik:

      »Ich glaube, du musst uns einiges erklären – und dieser Schäfer soll sofort vernommen werden.«

      »Dazu ist es leider zu spät. Oskar Schäfer hat die Geiselnahme nicht überlebt. Die Beamtin in Bremen war mit seinem Bruder verheiratet, und der hat sich kurz nach ihrem Tod erschossen.«

      Totenstille kehrte ein, bis Winter sie aufforderte, die ganze Geschichte zu erzählen.

      »Am besten von Anfang