rückte zu seinem neuen Lieblingswort auf. Die Mizzi wusste es noch nicht und starrte ihn daher mit offenem Mund an.
»Ja, du hast schon richtig gehört. Darum bin ich gekommen.«
»Wegen Prioritäten?«
»Ja, nein, indirekt.«
Mizzi dachte an ihren eigenen zukünftigen Erfolg auf Social Media.
»Also der Bubi packt das nicht«, murmelte sie, »das kann ich dir gleich sagen.«
»Wie kommt er überhaupt auf so eine irre Idee?«
Wieder lachte sie auf, diesmal mit bitterem Unterton. »Erst wollte er uns in ein Laufhaus stecken, der Oasch.«
Mizzi stammte zwar aus einer Gegend ziemlich weit östlich von Wien, aber ein paar wichtige einheimische Ausdrücke hatte sie voll drauf.
»Ich habe ihm gesagt: Bevor ich das mache, lauf ich schneller davon, als er laufen sagen kann.«
Diesmal war es an ihm, zu lachen. »Darum also jetzt das Internet.«
»Der Lorenz könnte doch …«
»Fang nicht wieder davon an, Mizzi. Der Kleine hat echt keine Zeit mehr für solche Sachen, der steigt nämlich jetzt wie eine Rakete die Karriereleiter hoch, bis wir ihn nicht mehr sehen.«
»Du spinnst doch, Ferdl Gruber.«
Er glaubte felsenfest daran. Die Entdeckung des Ausnahmekünstlers Lorenz Gruber durch die über jeden Zweifel erhabene Magistra Elli erfüllte ihn mit Stolz. Er platzte förmlich vor Stolz. Sein Redeschwall ergoss sich über die verblüffte Mizzi wie sonst nur Schmäh und Motschker.
»So, jetzt weißt du alles«, schloss er, »und ich muss jetzt wissen, wie ich die Elli am schnellsten herumkriege.«
»Das fragst du ausgerechnet mich?«
»Sowieso, du bist eine Frau und kennst die Männer.«
»Die Männer, die ich kenne, sind doch alle nicht ganz dicht.«
Er ignorierte die Spitze.
»Die Idee mit dem Kaffeehaus ist schon genial, oder?«, fragte er unsicher.
Mizzi verzog den Mund zu einem spöttischen Lächeln. »Im Kaffeehaus gibt‘s auch nur ganz gewöhnlichen Kaffee wie bei Frau Swoboda.«
Das durfte nicht unwidersprochen bleiben.
»Normal ist gar nichts an ihrem Kaffee. Frau Swobodas Gebräu eignet sich nicht einmal als Salatessig, zu sauer.«
Die Zeit war fast um. Ein zweiter Zwanziger lag nicht drin. Immerhin gab sie ihm am Ende noch einen brauchbaren Rat mit auf den Weg:
»Frauen mögen Kerle, die sie zum Lachen bringen.«
Ihrem Gesicht nach zu urteilen, war der Rat ernst gemeint. Dann dachte sie wieder ans Geschäft.
»Wir haben noch fünf Minuten. Soll ich dir einen blasen?«
Elli sah eine fremde Frau im Spiegel. Die alte Elli blickte ihr entgegen, als wäre nichts geschehen. Wie konnte das sein? Es war Frühling geworden im September. Das musste man ihr doch ansehen. Die Frau im Spiegel verzog keine Miene. Kein Lächeln, nichts, was auf Sonnenschein im Herzen hindeutete, nur der Weltschmerz und der pflichtbewusste, kritische Blick. Keine Spur vom Besuch in der alten Fabrik.
Jener Abend hatte ihr die Augen geöffnet, und das sollte die Welt da draußen ruhig bemerken. Lorenz hatte sie sofort erobert. Sie konnte sich schon nicht mehr vorstellen, ihn sechzehn Jahre lang nicht gekannt zu haben. Der Junge weckte Muttergefühle in ihr. Sie musste es zugeben und staunte selbst darüber, dass so etwas in ihr schlummerte. Sie hatte stets einen großen Bogen um Teenager seiner Generation gemacht, mit guten Gründen. Lorenz aber belehrte sie eines Besseren. Es gab also Sechzehnjährige, die wunderbar in ihr Weltbild passten wie die starken Farben zu van Gogh. Sie war unverhofft Mutter geworden. Damit konnte sie gut leben. Sie freute sich auf die Aufgabe, Lorenz auf seinem Weg in den Olymp zu begleiten. Lächle, Elli! Die Frau im Spiegel versuchte es, und es sah aus, als wollte sie gleich in Tränen ausbrechen.
Mit der Zeit würde sie es lernen. Was aber löste der ältere Bruder bei ihr aus? Der erste Eindruck hatte sich an jenem Abend nicht bestätigt. Ein Taugenichts, hatte sie gedacht, aber so einfach war es nicht. Wie Ferdl Gruber sich rührend um Lorenz und die Gäste gekümmert hatte – schon beeindruckend, musste sie zugeben. Auf seine Art sorgte er sich um die Zukunft des Bruders wie ein Vater. Ferdl war also der Vater des jungen Künstlers, sie die Mutter. Was lag da näher als …
Sie wagte den Gedanken nicht zu Ende zu denken. »Das geht sich nicht aus«, bestätigte auch die Frau im Spiegel. Sie wirkte allerdings nicht sehr überzeugend. Keine Unbekannte in Wiens Kaffeehäusern, würde sie sich diesmal doch ganz anders fühlen. Normalerweise lud sie die Kunden ein und bezahlte die Rechnung aus Horvaths Schatulle. Wann war sie das letzte Mal eingeladen worden, noch dazu von einem feschen jungen Mann, der ein Auge auf sie … Sie durfte nicht weiter fantasieren. Bisher hatte sie diese Seite zwischenmenschlicher Interaktion keine Sekunde vermisst. Der Job, die Kunst, die Galerie, die exklusive Kundschaft füllten sie aus. Die Frau im Spiegel war vollkommen zufrieden mit ihrem Leben. Warum sollte sich das jetzt ändern? Es ist eine ganz gewöhnliche, geschäftliche Besprechung, versuchte sie sich einzureden. Einladung – was bedeutete das schon. Ferdl war einfach nett, nichts weiter, vergiss den Rest. Was bildete sie sich überhaupt ein? Sie könnte fast auch seine Mutter sein. So sah es aus. Jetzt lächelte die Frau im Spiegel.
Das Hawelka war angenehm ruhig, die Gästeschar übersichtlich, als sie gegen vier Uhr eintrat. Nach einem kurzen Blick in die Runde atmete sie auf: keine Bekannten, die vielleicht falsche Schlüsse ziehen würden. Ferdl Gruber saß am Tisch in der Ecke und beobachtete eine hübsche Blondine, die in der Nähe Zeitung las. Elli hatte ihn schon fast erreicht, als er sie bemerkte. Er sprang auf, stieß dabei an den Marmortisch, dass die Mokkatasse tanzte, und errötete.
»Warm hier drin, nicht wahr?«, spottete sie.
Er erholte sich rasch, spielte das »Küss die Hand, Gnä‘ Frau« Ritual perfekt wie in der alten Fabrik und bat sie formell an den Tisch. Das Theater passte so gar nicht zu seinem Typ, dass sie unwillkürlich lachen musste.
»Habe ich was falsch gemacht?«, fragte er entsetzt.
»Eben nicht!«
Die Antwort verwirrte ihn noch mehr. Von wegen geschäftliche Besprechung! Der Mann war ein einziges Nervenbündel. Dagegen wirkte ihre Nervosität geradezu beruhigend. Der Kellner trat auf sie zu.
»Also, die Buchteln kann ich sehr empfehlen, Frau Elli«, warf Ferdl hastig ein.
»Ich weiß«, sagte sie lachend und bestellte »das Gleiche wie der Herr«.
»Sie sind zu bescheiden, Frau Elli.«
In seiner Stimme schwang Enttäuschung mit. Eine peinliche Pause entstand, bis der Mokka auf dem Tisch stand.
»Tja, da sitzen wir nun, wir beide«, sagte sie, »und die Hauptperson fehlt.«
»Der Lorenz! Richtig, um ihn geht es ja, nicht wahr?«
»Nur um ihn.«
»Es ist halt so eine Sache mit dem Kleinen«, seufzte er mit schlecht gespieltem Bedauern. »Er geht nicht gern unter die Leute, fühlt sich nicht wohl in Gesellschaft.«
Das passte zum Ausnahmetalent. Die Künstler, die sie kannte, waren entweder Einsiedler oder Partylöwen. Sie nickte lächelnd.
»Verstehe, ihm genügt die Kunst.«
»Die schöne Welt der Kunst.«
Er musterte sie verträumt und ungeniert, dass sie sich fragen musste, was er mit der schönen Welt genau meinte.
»Täuschen Sie sich nicht, Herr Gruber. Schön sind oft nur die Werke. Der Rest des Kunstbetriebs ist knallhartes Business.«
Das Stichwort Business riss ihn aus den Träumen.