sagte es laut genug, damit alle begriffen, dass ihr prominenter Gatte Englisch bevorzugte. Wie auf Kommando wurde fortan Englisch gesprochen am VIP-Tisch.
»Doris Strasser und ich kennen uns schon seit der Studienzeit in Wien«, erklärte Nick. Nach einem nervösen Blick auf die Uhr sagte er zu Mona: »Ich hoffe, ihr ist nichts zugestoßen.«
»Beim Telefonieren?«, war Chris versucht zu fragen, doch sie überließ Jamie das Wort.
»Gibt es denn Grund zur Beunruhigung?«, fragte er beim Buttern seines Brötchens.
Die Tischnachbarin Mona antwortete:
»Sie ist eine sehr zarte Person, du wirst schon sehen.«
»Fast zerbrechlich«, unterstrich Nick, »und doch setzt sie sich bedingungslos und ohne Zögern ein, wenn es gilt, andern zu helfen. Die Zwillinge einer befreundeten Familie haben nur dank ihr überlebt. Sie besitzen jetzt ihre Blutgruppe. Du verstehst, was ich damit sagen will.«
Jamie nickte. Ihre medizinischen Kenntnisse reichten weniger weit.
»Leukämie, Knochenmarktransplantation«, antwortete er leise auf ihren fragenden Blick.
Am Eingang entstand Bewegung. Frau Dr. Doris Strasser, österreichische Gesundheitsministerin, der Stargast des Abends, betrat den Saal – ohne Telefon. Ihre zwei männlichen Begleiter, jeder mit Knopf im Ohr und Pistole im Schulterhalfter, wie Chris vermutete, bezogen beiderseits der Tür Position. Die Ministerin, schlank wie ein Supermodel, mädchenhafte Figur, erfreute sich offenbar großer Beliebtheit unter der medizinischen Gästeschar im Saal. Das Publikum empfing sie mit einer stehenden Ovation wie eine Stardirigentin. Nach hundertfachem »Küss die Hand« und Luftküsschen konnte sie endlich am VIP-Tisch Platz nehmen. Ihr warmes, einnehmendes Lächeln steckte alle an, auch Chris. Sie konnte sich der Faszination dieser Frau genauso wenig entziehen wie die Herren am Tisch. Die Vertrautheit, mit der sie Nick und Mona begegnete, deutete darauf hin, dass sie mehr als eine Ex-Kommilitonin war.
Wie es sich für eine gewiefte Politikerin geziemte, versuchte sie, alle am Tisch gleichermaßen ins Gespräch einzubeziehen. Chris‘ pochierter Hummer am Salatbouquet war noch nicht verzehrt, als die Ministerin sie mit der Frage erschreckte:
»Sind Sie denn gar kein bisschen eifersüchtig auf den Erfolg ihres Gatten, Dr. Roberts?«
Um die Verlegenheit zu verbergen, nippte sie kurz am Grünen Veltliner aus der Wachau.
»Ich war genauso überrascht wie Sie alle«, sagte sie dann mit leicht gezwungenem Lächeln.
Die Antwort sorgte für gelöste Heiterkeit am Tisch. Wichtiger war Jamies anerkennender Blick. Der Rest des Hummers schmeckte um Klassen besser. Die Ministerin legte die Gabel weg. Das Personal begann, das Geschirr abzuräumen für den zweiten Gang, eine Gemüsekreation auf San Daniele Schinken.
Chris war abgelenkt. Sie bemerkte Doris Strassers Anfall erst, als einer der Bodyguards mit gezogener Pistole auf den Tisch zu rannte. Die zierliche Frau griff sich nach Atem ringend an den Hals. Ihr Gesicht lief blau an, als schnürte ihr jemand die Kehle zu. Die Gäste in der Nähe sprangen entsetzt auf. Nick und weitere Kollegen bemühten sich verzweifelt, ihr zu helfen, bis die Rettung eintraf. Strassers Zustand verschlechterte sich zusehends. Spastische Zuckungen und Krämpfe behinderten die Versuche des Notarztes, sie zu intubieren und mit Sauerstoff zu versorgen.
»Niemand verlässt den Saal!«, brüllte der Einsatzleiter des Kommandos, das die Kongressteilnehmer seit der Geiselnahme im Billrothhaus schützen sollte.
Von einer Sekunde auf die andere verwandelte sich der festliche Prunksaal in die chaotische Auffangstation einer überforderten Polizeiwache mit zweihundert Verdächtigen und einer Ministerin, die mit dem Tode rang. All die erfahrenen Mediziner konnten wie Chris nur zusehen, wie das Team des Notarztes mit der Patientin aus dem Saal stürmte.
Nick wollte ihnen folgen. Beamte der Kriminalpolizei traten ein und stießen ihn unsanft in den Saal zurück. Fluchend stand er bald wieder am VIP-Tisch. Sonst sprach niemand ein Wort. Mona, vom Schock gezeichnet, versuchte, ihn mit Gesten zu beruhigen. Chris hielt Nick im letzten Moment zurück, als er sich drohend vor der Inspektorin der Kripo aufbaute.
»Beruhige dich, sie müssen das tun.«
Wie erwartet, bestand die Befragung im Wesentlichen aus der Aufnahme der Personalien. Niemand hatte etwas Verdächtiges bemerkt, und niemand wagte mehr, einen Teller oder ein Glas anzufassen.
»Vergiftung?«, fragte sie Jamie, obwohl sie keines der typischen Symptome gesehen hatte.
Er schüttelte denn auch den Kopf, in Zeitlupe, abwesend, ungläubig auf den Schauplatz des zweiten Aktes des Dramas vom Billrothhaus blickend.
»Ein allergischer Schock vielleicht«, sagte er auf dem Rückweg ins Hotel. »Allerdings …«
Er dachte den Gedanken nicht laut zu Ende, und sie wollte nicht schon wieder als Ermittlerin auftreten. Beim Aufzug blickten sie sich schweigend an, kehrten in neuer Eintracht um und steuerten die Bar an. Der Schock saß zu tief, um jetzt einfach in den Urlaubsmodus zurückzufallen. Das ging nur mit genügend Alkohol.
Die Augen der wenigen Gäste im Halbdunkel klebten am Fernsehbildschirm. Der tragische Vorfall im Belvedere dominierte die News auf allen Kanälen, als hätten Islamisten die Reise zu ihren 72 Jungfrauen im Marmorsaal angetreten.
»Lauter!«, rief ein Gast.
Der ORF berichtete live von der eilig einberufenen Pressekonferenz. Der Zustand von Gesundheitsministerin Dr. Doris Strasser sei nach wie vor sehr kritisch, ließen die Ärzte verlauten. Man ermittle in alle Richtungen. Ein Anschlag könne nicht ausgeschlossen werden. Chris schüttelte den Kopf, während sie das Gesagte für Jamie auf Englisch zusammenfasste.
»Attempted murder, bullshit!«, blieb sein einziger Kommentar.
Sie fand die Vorstellung unter den gegebenen Umständen ebenso absurd. Die Journalisten begannen, Fragen zu stellen. Einer der Kriminalbeamten, den sie im Belvedere gesehen hatte, erhielt einen Anruf. Nach kurzem Zuhören flüsterte er dem leitenden Staatsanwalt etwas zu, worauf der die Pressekonferenz abrupt abbrach.
»Das bedeutet nichts Gutes«, flüsterte Chris wie zu sich selbst.
Jamie hängte sich ans Telefon. Er versuchte, Nick zu erreichen. Beim dritten Mal klappte es. Obwohl sie nur die Hälfte des Gesprächs mitbekam, wusste sie Bescheid, bevor er auflegte.
»Sie ist vor zehn Minuten verstorben«, bestätigte er.
Sie hatten Ministerin Strasser erst an diesem Abend kennengelernt, und doch schmerzte die Nachricht, als wäre eine nahe Angehörige von ihnen gegangen. Es war kalt geworden in Wien. Sie rückte näher an ihn heran. Er legte den Arm um sie, ebenso verloren.
»Weiß man schon …«
Er schüttelte den Kopf. »Sie muss obduziert werden. Nick sagt, was ich auch vermute. Die Symptome sind alles andere als eindeutig. Vergiftung schließt er aus, einen anaphylaktischen Schock ebenso. Die Muskelkrämpfe passen überhaupt nicht ins Bild. Im Moment sind wir beide ziemlich ratlos.«
»Wie kann denn so etwas geschehen?«
Er zuckte die Achseln. Nach einer Denkpause sagte er:
»Es war, als befände sie sich plötzlich im Endstadium von ALS, was natürlich vollkommener Unsinn ist – aber die Symptome würden passen.«
»ALS, die Krankheit des Stephen Hawking, nicht wahr?«
Er nickte. »Amyotrophe Lateralsklerose, eine degenerative Erkrankung des motorischen Nervensystems. Wie gesagt, unmöglich, denn was wir bei Frau Strasser beobachtet haben, entspräche einer tausendfachen Beschleunigung des Krankheitsverlaufs.«
Chris erbleichte. Unmöglich oder nicht – beschleunigte ALS war genau der Ausdruck, den Haase in seinem letzten Mail verwendet hatte. Der Link vom Geiselnehmer Schröder zu Nicks Klinik Seeblick. Schröders Schwägerin war ein halbes Jahr nach der Behandlung in Luzern einer unbekannten Krankheit erlegen, die man nur mit Symptomen umschreiben konnte: